„… da ist die Mutter gekommen!“

Über die Schwierigkeiten, Gerichtsverhandlungen auszuwählen, um dann über den Gerichtsalltag zu schreiben, dazu hatte ich bereits berichtet. Paragraf 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) begründet zwar den Öffentlichkeitsgrundsatz, es ist aber nicht geregelt, wie die interessierte Öffentlichkeit informiert werden soll. So reicht es immer noch, die Termine im Gerichtsgebäude auszuhängen…  

Der Sinn der Öffentlichkeit besteht anerkanntermaßen in der Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit und der Stärkung des Vertrauens der Bürger zur Rechtspflege. Insoweit sehen sich Journalisten als Mittler, die an der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung mitwirken, wenn sie über Gerichtsverfahren berichten.

Es wäre schön, wenn sich alle Thüringer Landgerichte am Landgericht Erfurt orientieren und sich die Mühe machen würden, die Termine der öffentlichen Hauptverhandlungen der Schöffengerichte auf der Homepage des Oberlandesgerichts zu veröffentlichen.

Die wenigen dort veröffentlichten Daten sagen zwar wenig über das zu Erwartende aus, aber es hilft generell bei der Auswahl. Ob dann zu jeder öffentlichen Verhandlung eine Gerichtsreportage entsteht, ist wieder eine andere Geschichte.

Jedoch wecken die nüchternen Angaben Interesse, aber auch bestimmte  Erwartungen: So war für den 22. Oktober 2019 angekündigt, dass am Jugendschöffengericht beim Amtsgericht Arnstadt wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern verhandelt werden würde. Als Angeklagter wurde ein Heranwachsender erwartet – bei Jugendlichen ist ja die Öffentlichkeit nicht zugelassen. Doch, Überraschung: Auf der Anklagebank saß der 81jährige  Angeklagte Reinhard K. – das Jugendschöffengericht tagte als Jugendschutzgericht.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt als Anklagebehörde war durch Frau Staatsanwältin Clauß vertreten, neben ihr saß als Vertreterin der Nebenklage Frau Rechtsanwältin Susan Rechenbach-Auerswald. Den Vorsitz des Jugendschutzgerichts führte die 47jährige Richterin Mandy Trebeß. Das Gericht erhob die Personalien des Angeklagten. Er wohnt in Arnstadt, ist Altersrentner und war als Maurer tätig.

Staatsanwältin Clauß verlas die Anklage: Ihm wurden drei Fälle des sexuellen Missbrauchs und ein Fall der Belästigung durch eine exhibitionistische Handlung vorgeworfen. Opfer waren seine beiden Enkeltöchter, zum Tatzeitpunkt fünf und sieben Jahre alt, sowie ein anderes 6jähriges Mädchen. Die Anklage beschrieb detailliert den Tatvorwurf und stützte sich insbesondere auf die Zeugenaussagen der Kinder, die Vernehmungen wurden von der Polizei auch videografiert. Die näheren Details der Taten sollen dem Leser erspart werden. Nur so viel: Er hat Handlungen an sich vorgenommen, hat die Mädchen aufgefordert, dass sie an ihm Handlungen vornehmen und er hat selbst auch die Kinder sexuell motiviert berührt.

Der Angeklagte, er wurde von Rechtsanwalt Lars Oschmann vertreten, nahm nach Aufforderung zu den Vorwürfen Stellung. Erst leise und schwer verständlich, dann lauter und bestimmter, stritt er die Taten ab: „Das stimmt doch gar nicht, was mir hier vorgeworfen wird. Ich bin doch kein Kinderschänder, ich bin doch kein Vergewaltiger. Das ist doch alles nicht wahr!“ Die Richterin fragte nach: „Da stimmt Garnichts?“ Der Angeklagte: „So bei Ch., da haben die Kinder so rumgespielt, da habe ich die Hand so hingemacht und da ist die Mutter gekommen und hat gesehen, dass ich die Hand dort hatte und da hat das Kind geschrien…! Und dann hat sie gesagt, dass ich sie angefasst habe.“

Richterin Trebeß fragte zu konkreten Handlungen, die er begangen haben soll, nach. Er bestritt dies weiter. Er machte dabei einen aufgebrachten, aber wenig glaubwürdigen Eindruck. Die Richterin verlas Aussagen des Angeklagten, welche er vor der Polizei gemacht hatte. Dort hatte er detailliert ausgesagt und die Taten gestanden. Er bestätigte, ausgesagt zu haben, bestritt aber im nächsten Satz, die Kinder angefasst zu haben. Staatsanwältin Clauß fragte nach: „Sie sind doch von der Polizei vernommen worden und haben Aussagen gemacht?“ Der Angeklagte drauf: „Ja, was weiß ich, was ich da gesagt habe, ich war froh, wieder draußen zu sein.“ Das ging noch ein bisschen hin und her, bis es der Richterin reichte: „Sie behaupten also, dass die Polizei die Unwahrheit protokolliert hat?“ Ergänzend nannte sie noch den Namen der vernehmenden Polizeibeamtin und fragte nach, ob er behaupten wolle, sie hätte die Unwahrheit aufgeschrieben. Der Angeklagte war von dieser Namensnennung beeindruckt, ganz offensichtlich hat die Polizeibeamtin alles richtig gemacht. Er suchte trotzdem weiter Ausflüchte, bekannte sich vor Gericht nicht zu den Taten.

Die Vorsitzende: „Ihnen sollte auch durch Ihren Verteidiger bekannt sein, dass bei solchen Delikten ein Geständnis viel zählt, erspart es doch den Kindern die Vernehmung vor Gericht.“ Die Staatsanwältin ergänzte: „Der Akteninhalt und die Videovernehmung der Kinder sind in meiner Einschätzung ganz eindeutig! Da gibt es keine Zweifel.“ Der Angeklagte behauptete weiter, nichts gemacht zu haben: „Kinder sind ja so manipulierbar, ich weiß nicht, wer sich abgesprochen hat…“ Daraufhin las die Staatsanwältin einen Auszug vor, seine eigenen Aussagen bei der Polizei: „ … und das Kind hat mir dann ein Küsschen auf den Penis gegeben.“ Der Angeklagte: „Das stimmt gar nicht!“ Auf den Vorhalt der Staatsanwältin, dass dies ja seine eigenen Worte waren, weiß er nicht mehr, was er sagen soll, außer, dass er es nicht war.

Richterin Trebeß nochmals: „Wenn Sie eine Begutachtung der Kinder mit einem Geständnis vermeiden, könnten Sie mit einer Bewährungsstrafe rechnen!“ Der Angeklagte, fast trotzig in seinem Starrsinn: „Ich habe es nicht getan. Ich kann doch etwas nicht zugeben, was ich nicht war!“ – Oh, das ist der Dauerbrenner! Bei den vielen besuchten Gerichtsverhandlungen habe ich das schon oft gehört. So wenig überzeugend wie von dem 81jährigen Angeklagten jedoch noch nie.

Richterin und Staatsanwältin bleiben weiter hoch professionell. Die Richterin: „Die Ihnen vorgeworfenen Straftaten haben eine Mindeststrafe von sechs Monaten beziehungsweise drei Monaten Freiheitsstrafe. Bei diesen Delikten wird aber hoch angerechnet, wenn den Kindern eine Aussage vor Gericht erspart wird.“ Sie wird von Staatsanwältin Carolin Clauß unterstützt. Die Richterin direkt zum Angeklagten: „Das ist hier Ihre letzte Chance, wenn Sie diese jetzt nicht nutzen, ist eine Verurteilung ohne Bewährung sicher!“ Der Angeklagte streitet weiter alles ab.

Richterin und Staatsanwältin machten den Angeklagten nochmals die Tragweite seiner Haltung klar. Sein Verteidiger, ratlos: „Ich habe es auch schon dreimal versucht.

Trotzdem gibt das Gericht dem Verteidiger die Möglichkeit, auf den Angeklagten einzuwirken, und unterbrach die Sitzung. Die Richterin gab dem Verteidiger mit auf den Weg: „Nehmen Sie doch die Akte mit, bezüglich seiner Aussagen bei der Polizei!

Nach einer halbstündigen Unterbrechung ergreift Rechtsanwalt Oschmann für den Angeklagten das Wort: „Fall eins würde mein Mandant einräumen, außer der Aufforderung an das Kind und außer den Vorwurf, dem Kind das unbedeckte Geschlechtsteil geleckt zu haben.“ Der Angeklagte sagt relativ laut  dazwischen: „Da hätte ich mich ja übergeben müssen!“Sein Anwalt weist ihn zurecht: „Jetzt seien Sie endlich ruhig!“ Und fährt weiter fort: „Mein Mandant räumt die Fälle zwei bis vier nicht ein. Er sagt aber, dass es sein kann, dass die Kinder durchs Zimmer gegangen waren und ihn nackt gesehen haben.

Frau Clauß: „Sie haben eine Tat eingeräumt, die Anderen aber nicht. Erfahrungsgemäß ist es dann so, dass die anderen Taten auch begangen wurden. Warum sollten die Kinder bei der einen Aussage die Wahrheit sagen, bei den anderen Aussagen aber nicht? Nur wenn Sie Alles einräumen, können Sie mit einer Bewährungsstrafe rechnen. Es ist völlig weltfremd, dass sich die Kinder das nur ausgedacht haben!

Die Richterin resümiert, dass jetzt die Vernehmung der Kinder vor Gericht stattfinden müsse. Dazu ist zuvor jeweils ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen.

Es erging der Beschluss:  Die Verhandlung wird ausgesetzt. Ein neuer Termin ergeht von Amts wegen.

Am Ende bemerkt Rechtsanwalt Oschmann eher nebenbei, dass er auch eine Begutachtung für seinen Mandanten beantragen wird, da sich bei ihm eine Demenz abzeichne.

Die Verhandlung dauerte nur eineinhalb Stunden. Der Angeklagte wirkte zwar halsstarrig, vielleicht auch störrisch. Sein Verhalten war nicht von besonderer Raffinesse geprägt, seine Ausdrucksform war auch eher einfach und schlicht. Besonders logisch waren seine Reaktionen nicht. Aber wenn solche Delikte in einer öffentlichen Hauptverhandlung angeklagt werden, verhalten sich die Männer oft nicht besonders logisch.

Logik fällt in diesem Zusammenhang grundsätzlich schwer, aber da stehen andere Fragen im Fokus. Was geht in diesem Menschen vor? Er vergreift sich als 81Jähriger an fünf bis sieben Jahre alten Mädchen, zwei davon waren seine Enkeltöchter!

Es waren zu diesen Verhandlungstag Zeuginnen geladen, vermutlich die Mütter der Opfer. Was war seit den Taten Mitte letzten Jahres in den Familien los? Man kann sich die Belastungen der Kinder, deren Eltern und der Ehefrau des Angeklagten kaum vorstellen.

Der Angeklagte hätte es in der Hand gehabt, dass dieser Verhandlungstag dem Ganzen ein vorläufiges Ende bereitet hätte.

Nun wird es in ein paar Monaten erneut eine Verhandlung geben.

Hier wird das Ergebnis nachzulesen sein.

A.S.

(22.10.2019, 09:00 Uhr – Amtsgericht Arnstadt, Jugendschöffengericht, Saal 210)