„…bittet die Staatsanwaltschaft, sich hinsetzen zu dürfen.“

Als Oberstaatsanwalt Rainer Kästner-Hengst – nach seinen Worten „zum ersten Mal“ in seiner Karriere dies den Vorsitzenden Richter bat, hatte er schon eine halbe Stunde lang die Anklage verlesen. Und „da das noch eine halbe Stunde dauert“ war es dem Staatsanwalt – verständlicherweise – zu viel, weiter im Stehen vorzutragen. Dieser ausgewöhnliche Vortrag (Kästner-Hengst: „Das habe ich auch noch nicht erlebt!“) dauerte insgesamt über eine Stunde und umfasste insbesondere das Verlesen von 391 durchnummerierten Einzeltaten: Zuerst die laufende Nummer, dann das Datum und zuletzt einen Euro-Betrag. Das klang dann so: „Dreihundertneunzig; 28.12.2016; 50 Euro. Dreihunderteinundneunzig; 29.12.2016; 2.100 Euro.“ Bei diesen Taten handelte es sich um Untreue-Taten im besonders schweren Fall. Angeklagt war die 63jährige Regina H. aus dem Landkreis Gotha.

Schwurgerichtssaal Landgericht Erfurt Bildrechte: www.gerichtsalltag.de

Als Beamtin des mittleren Justizdienstes war sie am Amtsgericht Gotha als Zahlstellenverwalterin tätig. Ihr wurde vorgeworfen, in dieser Eigenschaft zwischen 2012 und 2016 Bargeld in Höhe von 209.184,83 Euro veruntreut zu haben, indem sie es jeweils in bar entnahm. Der erste Verhandlungstag wurde von einem beträchtlichen Medieninteresse begleitet, am gleichen und am nächsten Tag wurde ausgiebig über den ersten Prozesstag berichtet.

Der Angeklagten war das sichtlicht unangenehm, sie trug einen dunklen Pullover, ihre dunkle Hornbrille und der um Hals und Schulter geschlungene voluminösen Schal verdeckten ihr Gesicht. Sie hielt die gesamte Verhandlungszeit einen Aktenordner vor das Gesicht und schaute immer nach schräg nach unten. Der Ehemann und der Sohn der Angeklagten sind als Zuschauer an allen Verhandlungstagen anwesend. Der Sohn ist kein Unbekannter: Am 05. Februar 2019 verhandelte das Schöffengericht am Amtsgericht Gotha in einer BtM-Sache gegen ihn, dort brachte sein Verteidiger das Verfahren gegen seine Mutter quasi als Entlastung vor, weil er zum Tatzeitpunkt deswegen „völlig durch den Wind war.“

209.184,83 Euro – schwer vorstellbar, wie im Zeitraum von knapp fünf Jahren ein so großer Bargeldbetrag in einer Justizzahlstelle eines Amtsgerichts unbemerkt abgezweigt werden konnte. Ausgehend von den üblichen steuerlich absetzbaren Arbeitstagen pro Jahr, kommt man auf durchschnittlich 255 Euro pro Tag! Das sie zum Jahresbeginn aber erst nach der wohl obligatorischen Kassenprüfung Mitte Februar bis Mitte März kriminell tätig wurde, sind die täglichen Summen teils wesentlich höher. Beispielhaft seit der Dezember 2016 genannt, der letzte Monat ihrer kriminellen Aktivität: An achtzehn Tagen hat sie insgesamt 5.040 Euro veruntreut, die Bargeldhöhen lagen zwischen 50 € (ein Mal), 100 Euro (sieben Mal) und der Spitzenwert lag am 29. Dezember 2016 bei 2.100 Euro! Und das jedes Mal nicht nur als einfache Herausnahme des Bargeldes. Nein, zu jeder kriminellen Handlung der Untreue erfolgten eine oder mehrere Täuschungs- und Vertuschungshandlungen.

Nach dem Verlesen der Anklage fragte der Vorsitzende Richter, Jürgen-Dirk Apel, ob ein Rechtsgespräch nach Paragraf 274 c Strafprozessordnung stattgefunden hat. Der Verteidiger der Angeklagten Regina H. lavierte etwas herum, „So richtig nicht.“ Rechtsanwalt Dr. Fertig, sonst souverän, war verunsichert. Kästner-Hengst kurz und knapp: „Es hat kein Gespräch stattgefunden!“ worauf der Vorsitzende bemerkte: „Jedenfalls nicht offiziell.“ Kästner-Hengst stellt, etwas schärfer im Ton, richtig: „Weder offiziell noch inoffiziell!“ Das war bemerkenswert und unverständlich. Spürbar war das Klima angespannt, als sich die Verfahrensbeteiligten zum Rechtsgespräch zurückzogen. So fiel auch das Ergebnis aus: Keine Verfahrensabsprache. Richter Apel informierte über den Inhalt des Rechtsgesprächs: Der Verteidiger hatte in Aussicht gestellt, dass seine Mandantin ein umfassendes Geständnis ablegen und Schadenersatz zahlen würde. Dafür wollte er eine Bewährungsstrafe erreichen. Der Staatsanwalt eindeutig: Keine Bewährungsstrafe.

Das hatte Dr. Fertig wohl einkalkuliert. Zumindest zwei Fallgruppen des Paragrafen 263 Absatz 3 Strafgesetzbuch sprechen für einen „besonders schweren Fall“: Der herbeigeführt Vermögensverlust großen Ausmaßes (Ziffer 2) sowie der Missbrauch ihrer Befugnisse und Stellung als Amtsträgerin (Ziffer 4). Für seine Mandantin erklärte er, dass sie voll umfänglich und uneingeschränkt geständig sei. Auch sei sie bereit, dass Geld zurückzahlen, dafür hat sie einen Kredit aufgenommen. Weiter(e) Angaben will sie nicht machen.

Der Staatsanwalt hatte trotzdem Fragen: „Stimmt es, dass von dem Geld ein hochwertiges Motorrad für den Sohn mit über 1.000 Kubikzentimeter gekauft wurde?“ Dr. Fertig bejahte, er wusste – selbst Motorrad-affin – sogar den Typ genau. Kästner-Hengst weiter: „Es fällt auf, dass zum Jahresbeginn keine Taten begangen wurden, hatte das einen bestimmten Grund, steckte dahinter ein System?“ Die Angeklagte verneinte.

Richter Apel brachte etwas Ordnung in eine wuselige Situation: „Da keine Verfahrensabsprache zustande kam, wird mit der Beweisaufnahme fortgesetzt. Zuvor machen wir eine kleine Pause zur Ordnung der Akten.“ Seitlich hinter dem Richterstand waren gelbe Plasteboxen mit einer Vielzahl von Aktenordnern aufgestapelt.

In der Verhandlungspause waren die Medienvertreter aktiv, ein Kamerateam interviewte den Staatsanwalt. Zuvor wurde er noch im Sitzungssaal gefragt, was denn die Angeklagte mit dem Geld gemacht habe. Die Antwort verblüffte: „Nicht um Brot zu kaufen, eher für hochwertige Luxussachen.

Nach der Verhandlungspause wurde die 43jährige Bezirksrevisorin M. des Landgerichts Erfurt als sachverständige Zeugin gehört. Von Hause aus Rechtspflegerin, gehört es unter anderem zu ihren Dienstaufgaben, die Zahlstellen des Landgerichtsbezirks zu prüfen. Bei der Zahlstellenprüfung am 16. Februar 2017 wurde ein Überschuss von 50 Cent bemerkt. Nach nochmaliger Überprüfung, bei welcher viele Korrekturen in der Buchhaltung festgestellt wurden, fehlten zum Schluss 50 Cent. Da dieser Fehlbetrag nicht aufgeklärt werden konnte, erfolgte am 23. Februar 2017 eine erneute Kassenprüfung. Mit dabei die 45jährige Ulrike K., die der Bezirksrevisorin „beigeordnete Prüfungsbeamtin“. Dabei fielen „Ungereimtheiten“ auf, sodass der gesamte Zahlstellenbestand geprüft wurde. Zunächst wurden die Unterlagen aus dem Jahr 2016 sichergestellt. Die Prüfung ergab, dass die Nachweisführung lückenhaft war, es fehlten auch Unterlagen. Daraufhin fiel der Entschluss, die Unterlagen von 2004 an zu prüfen. Ob und welche „Unregelmäßigkeiten“ ab 2004 gefunden wurden, dazu sagte die Zeugin nichts, sie wurde auch von keiner Seite gefragt. Sie schilderte etwas abrupt, den Zeitraum von 2004 bis 2011 außeracht lassend, das bei der Prüfung der Jahre 2012 bis 2017 verschiedene Arten von Unregelmäßigkeiten auffielen, die dann genauer geprüft wurden. Zu den Jahren 2004 bis 2011 wurde kein weiteres Wort verloren.

Zunächst war jedoch zu klären, warum es in einer Justizzahlstelle noch so viel Bargeld gibt. Die sachverständige Zeugin nannte mehrere Einzahlgründe: Hinterlegungen, Geldstrafen, Geldbußen, auch die Polizei zahlt ein. Sie hatte ihre eigene Prüftabelle mit und kam auf insgesamt 444 Fälle, die Differenz zur Anklage erklärte sie: „Ich habe jeden Fall erfasst, auch wenn an einem Tag mehrmals Bargeld veruntreut wurde, die Staatsanwaltschaft hat die Fälle einer mehrfachen Entnahme an einem Tag zu einem Fall zusammengefasst.“ Das hat die Bezirksrevisorin richtig gemacht, die Anklagebehörde lang da wohl falsch. Denn, jede neue Entnahme mit entsprechender Verschleierungshandlung setzte einen neuen Tatentschluss bei der Angeklagten voraus, also eine eigenständige Tat. Über die strafrechtliche Konkurrenzlehre lässt sich wohl streiten, aber der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 10. Februar 2016 − 2 StR 391/15 (LG Gera) die Grenzen der natürlichen Handlungseinheit aufgezeigt. Demnach ist trotz mehrerer zeitlich und räumlich eng begrenzten Taten nicht grundsätzlich von einem einheitlichen Handlungsentschluss ausgehen. Im vorliegenden Fall hat die jeweilige Täuschungs- und Vertuschungstat jede einzelne Entnahme zu einer neuen eigenständigen Tat werden lassen. Damit hätten 444 einzelne Taten angeklagt werden müssen. Oberstaatsanwalt Kästner-Hengst hätte wohl noch zehn Minuten länger vortragen müssen.

Auf ein weiteres Problem hatte ich schon aufmerksam gemacht: Untersucht wurde durch die Bezirksrevisorin die Zeit ab 2004. Warum ab 2004, das hatte die Zeugin niemand gefragt. Angeklagt waren Taten ab 2012. Das erscheint logisch, denn die Taten wurden am 23. Februar 2017 aufgedeckt, die Verjährungszeit beträgt fünf Jahre, also wurde retrograd dieser Zeitraum genau untersucht.
Offen blieb bei der Zeugenaussage der Bezirksrevisorin, ob es zwischen 2004 und 2012 schon Auffälligkeiten, Korrekturen oder Unregelmäßigkeiten gab, die auf weitere „Entnahmen“ schließen ließen.

Rein logisch ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass die Angeklagte genau zu dem Zeitpunkt erstmals kriminell wurde, als gerade der fiktive Zeitraum der 5-Jahres-Frist, also im engeren Sinn der nicht verjährte Zeitraum, begann.

Zufälle gibt es, eine Häufung von Zufällen macht skeptisch. Eine der leicht zu erwartenden Fragen der Staatsanwaltschaft wäre gewesen: „Wann haben sie begonnen, Bargeld zu veruntreuen? Und warum?“ Diese Fragen blieben ungestellt. Es gab auch keine Fragen zum Motiv, keine wesentlichen Fragen zur Verwendung des Geldes. Einzig das Motorrad und die neue hochwertige Küche im Wohnhaus und die hochwertig renovierten Bäder spielten eine Rolle. Die Auswertung der Konten der Angeklagten, einschließlich des Ehemanns, hätten da viel mehr Einblick geben können.

Mag an so viel Zufall glauben, wer will. Die Konstellation dieses Falles ist eh brisant, geschädigt ist das Amtsgericht Gotha, kontrolliert wurde durch die Kassenprüfung des Landgerichts Erfurt, angeklagt ist eine Justizbeamtin, die „ehemalige“ Leiterin der Justizzahlstelle. Die Behörde von Oberstaatsanwalt Kästner-Hengst lautet offiziell: Staatsanwaltschaft beim Landgericht Erfurt. Die Bezirksrevisorin des Landgerichts ist auch für die Staatsanwaltschaft zuständig. Wie heißt es so schön in der Thüringer Geschäftsanweisung für Bezirksrevisoren: „Die Bezirksrevisoren der Landgerichte sind für das Landgericht, die Staatsanwaltschaft und die Amtsgerichte im Landgerichtsbezirk zuständig.“ Das „ …die jährliche unvermutete Prüfung der Zahlstellen bei den Gerichten einschließlich der Prüfung des Zustands und der ordnungsgemäßen Verwendung der Gerichtskostenstempler“ zu erfolgen hat, ist auch in dieser Geschäftsanweisung geregelt.

Von unvermuteten Prüfungen kann hier nicht die Rede sein. Selbst noch nicht in das Thema eingearbeitete Beobachter haben beim monotonen Verlesen der 391 Fälle über diese fünf Jahre schnell gemerkt, dass die Angeklagte am Anfang des jeweiligen Jahres noch kein Geld veruntreute. Sie wartete, bis die „unvermutete Prüfung“ vorbei war. Die sachverständige Zeugin musste zugeben, dass es sich über die Jahre eingebürgert hatte, jeweils zu Jahresbeginn, im Februar oder März, zu prüfen.

Die Bedingungen bei der Zahlstelle haben schon länger bestanden. Wann genau hat die Angeklagte begonnen, Bargeld zu veruntreuen?

Zu irgendeinen Zeitpunkt muss es ein „erstes Mal“ gegeben haben. Wann war dieser Zeitpunkt? Und warum? War dieser Zeitpunkt tatsächlich die erste angeklagte Tat im Jahre 2012?

Sicherlich lag er vor 2012. Die in der Anklage verlesenen Taten des Jahres 2012 waren in der Häufigkeit auf den jeweiligen Monat verteilt zu den nächsten Jahren kontinuierlich. Kriminologisch spricht Einiges dafür, dass es nach dem „ersten Mal“ zu vereinzelten Wiederholungen gekommen war. Erst durch längeren Erfolg und das ausbleibende Entdecken hat sich schließlich eine kriminelle Routine entwickelt.

Die Anzahl der verübten Taten ist vermutlich wesentlich größer. Der verursachte Schaden wäre demnach wesentlich höher. Zumindest für die Steuerbehörden erscheint dies wichtig, die steuerrechtliche Verjährungszeit zur Nachveranlagung beträgt zehn Jahre. Da Straftäter nicht dazu neigen, die Gewinne ihrer kriminellen Aktivitäten zu versteuern – ist regelmäßig auch ein Steuerstrafverfahren zu führen, unabhängig, ob der verursachte Schaden irgendwann im Strafverfahren wiedergutgemacht wurde. Und für den Zeitraum der Verjährung sind zumindest Steuernachzahlungen sowie zivilrechtliche Ansprüche der Staatskasse geltend zu machen.

Wieder zurück zur Hauptverhandlung. Die Zeugin berichtete weiter über die verschiedenen Arten der Tatbegehung, besonders die Täuschungs- und Verschleierungshandlungen. Dabei hatte sie drei verschiedene Arten festgestellt, wie die Angeklagte „die Entnahme von Bargeld verschleierte“. Sie erläuterte dies anhand ihres Prüfberichtes, zeitweise stand sie, zusammen mit dem Staatsanwalt und dem Verteidiger vor dem Richtertisch. Richter Apel, unterstützt durch Richterin Hildesheim, suchte die originalen Belege und Unterlagen in verschiedenen Sonderbänden heraus und stellte es der Zeugin zu näheren Erklärungen zur Verfügung. Auf die genaue Schilderung dieser Verschleierungshandlungen soll hier nicht weiter eingegangen werden. Es erscheint aber als sicher, dass der Umgang mit den verschiedenen Bareinzahlungsarten auch mindestens drei verschiedene Arten von Nachweisführungen erforderte. Hier nur die Stichworte: Kostennachweis, Titelbuch, Gerichtskostenstempler, Zahlungsbuch. Und diese Nachweisführungen boten günstige Gelegenheiten zur Untreue und zum Betrug. Die sachverständige Zeugin hinterließ einen kompetenten Eindruck. Sie erklärte sicher den Sachverhalt und kannte sich in ihren Unterlagen sehr gut aus, fand auch in den Gerichtsakten jeweils das entsprechende Original. Richterin Diana Hildesheim, halb so alt wie der Vorsitzende, wurde bei der „aktenmäßigen Bearbeitung“ immer aktiver, sie kannte das Verfahren genau. Die beiden Berufsrichter harmonierten gut und agierten in dieser eher der Wirtschaftskammer zugehörigen Materie sicher.

Ganz anders die zweite Zeugin des Tages. Die beigeordnete Prüfbeamtin, eine 45jährige ausgebildete Rechtspflegerin, wirkte unsicher, berichtete, dass sie bei der zweiten Prüfung am 23. Februar 2017 beteiligt war. Auf Bitte der Staatsanwaltschaft hat sie auch bei der Durchsuchung der Zahlstelle Gotha mitgewirkt. Die Vernehmung erwies sich als langatmig und zäh. Die Zeugin kannte sich in den Unterlagen schlecht aus, braucht immer wieder Hilfe.

Am zweiten Verhandlungstag wurden drei Zeugen gehört, es ging im Wesentlichen um die Durchsuchung des Wohnhauses der Angeklagten. Staatsanwalt Lippold hatte nur eine bedeutsame Aussage: Die Angeklagte bestritt am Durchsuchungstag vehement, Straftaten begangen zu haben. Bei ihr wurden u.a. Einzahlungsbelege sichergestellt, sie behauptete, es handele sich „um Rückbuchungen von meinen Sohn“. Der Staatsanwalt erinnerte sich noch an eine weitere Aussage: „Ich habe nichts genommen, deswegen haben wir alles durch Kredite finanziert.“

Bei den anderen beiden Zeugen handelte es sich um einen 43jährigen Kriminalbeamten und eine 32jährige Kriminalbeamtin. Beide waren ebenfalls an der Durchsuchung beteiligt. Zur Sachverhaltsaufklärung trugen diesen Vernehmungen nicht bei. Was mit ihrer Ladung bezweckt werden sollte, blieb im Dunkeln. Alle drei bestätigten, dass die Angeklagte mit ihrem Ehemann in einem schon etwas älteren Wohnhaus wohnt, welches von außen eher unscheinbar wirkte. Innen sei es aber durchrenoviert worden, zum Teil hochwertig, so die Küche und die Bäder.

Richter Apel führte nun Unterlagen aus einem Sonderband in die Hauptverhandlung ein, indem er Listen mit Einzahlungen auf Konten der Angeklagten verlas. Es handelte sich immer um Bareinzahlungen an Geldautomaten. Es handelte sich um 54 einzelne Einzahlungen in der Gesamthöhe von 75.500 Euro. Auf Nachfrage räumte die Angeklagte ein, dass diese Einzahlungen aus ihren strafbaren Handlungen stammten.

Schnell neigte sich der zweite Verhandlungstag dem Ende zu. Oberstaatsanwalt Kästner-Hengst: „Ich habe alle Zeugen gehört. Ich hatte bereits darauf verzichtet, weitere Zeugen zu hören!“ Rechtsanwalt Dr. Fertig stimmt durch eine Geste zu, im nächsten Moment kam dann doch ein „trotzdem“. „Ich möchte noch zwei Zeugen hören, und zwar zum Gesundheitszustand meiner Mandantin. Sie hat eine schwere Depression und ist deswegen in Behandlung“. Darauf der Staatsanwalt etwas generös: „Ich glaube nicht, dass dies bei Vermögensdelikten eine Rolle spielt. Aber ich will Ihnen nicht die Chance nehmen.

Das Gericht versucht, zum nächsten Termin die beiden Ärzte als Zeugen zu laden. Zum Schluss war dem Staatsanwalt noch wichtig „dass der Schaden vor dem Abschluss der Verhandlung beglichen wird. Es ist etwas anderes, es nur anzukündigen. Besser ist es, wenn der Schaden ausgeglichen wird.“ Dies sicherte die Verteidigung zu.

Wirklich wichtig ist bei Vermögensdelikten, dass die Vermögensverhältnisse der Angeklagten umfassend aufgeklärt werden, umfassende vermögensabschöpfende Maßnahmen inklusive. Kontounterlagen schienen ja ausreichend vorhanden, warum daraus keine weiteren rechtlichen Maßnahmen resultierten, ist – wie so Einiges – offen.

Am dritten Verhandlungstag gab es davon Einiges zu hören: Rechtsanwalt Dr. Fertig gab die Einzahlungsbelege zum regulierten Schaden zu Protokoll. Damit ist zumindest für den nicht verjährten Zeitraum der Schaden wiedergutgemacht. Ganz nebensächlich wurde eine Differenz bemerkt: Der Schaden betrug ja cirka 209.000 Euro, eingezahlt wurden aber circa 217.000 Euro. Die Begründung von Dr. Fertig: Es hat auch Taten vor 2012 gegeben, seine Mandantin will reiner Tisch machen und auch diesen Schaden wiedergutmachen, deshalb der höhere Betrag. Die Staatsanwaltschaft beantragte, die Sicherungshypothek auf das Wohnhaus der Familie H., eine bis dahin nicht erwähnte vermögensabschöpfende Maßnahme, aufzuheben.

Eigentlich war geplant, zwei weitere Zeugen zu hören, dies musste auf den nächsten Verhandlungstag verschoben werden. Das Gericht behandelte die persönlichen Verhältnisse, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Ein Punkt wäre interessant gewesen: Welche Qualifikation hatte die Angeklagte für ihre Tätigkeit? Die vorgetragenen biografischen Angaben enthielten dazu nichts. Es wäre schon wichtig, zu wissen, wie die Justizverwaltung eine Beamtin des mittleren Dienstes, eine gelernte Texilreinigungs-Facharbeiterin, dazu befähigte, eine solch wichtige Tätigkeit wahrzunehmen. Welche Lehrgänge hatte sie? Ist sie in ihre Dienstaufgaben eingewiesen worden? Die strafverschärfende Regelung durch ihre Amtsträger-Eigenschaft hätte auch auf der entlastenden Seite einer Beweisaufnahme bedurft.

Am vierten Verhandlungstag wurde der letzte Zeuge gehört. Das Gericht hatte den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. Michael Kudlacek (Fulda) als Gutachter bestellt. Die wesentlichste Aussage: Die Angeklagte hatte „eine leichte depressive Episode“, wurde nach den ärztlichen Regeln behandelt und medikamentiert, ansonsten konnte er zur Beweiserhebung keine neuen Erkenntnisse beitragen. Rechtsanwalt Dr. Fertig fragte nach, ob weitere negative Ereignisse, zum Beispiel eine Haftstrafe ohne Bewährung, die Suizidgefahr erhöhen würde. Der Gutachter darauf: „Das kann ich nicht ausschließen!“ Da hatte dann Oberstaatsanwalt Kästner-Hengst doch noch eine Frage: „Konnte sie das je ausschließen?“ Der Gutachter: „Nein.

Die Beweisaufnahme wurde abgeschlossen und Kästner-Hengst plädierte. Für die Staatsanwaltschaft war gemäß seinen Angaben der Tatnachweis klar erbracht, dazu hat das Geständnis erheblich beigetragen, aber auch die durch das Gericht vorgenommenen Vernehmungen der sachverständigen Zeugen. Das Hauptproblem, so der Staatsanwalt, war in diesem Verfahren die Strafzumessung. Er zitierte frei die Grundsätze des Bundesgerichtshofs zur Gesamtstrafenbildung. Danach müsse zuerst zu jeder Einzeltat eine Strafe gebildet werden. Im Anschluss wird die Gesamtstrafe gebildet, indem die höchste Einzelstrafe angemessen erhöht wird. Da im vorliegenden Fall zu 391 einzelne Taten Einzelstrafen zu bilden war, teilte er diese Taten gestaffelt in drei Gruppen nach der jeweiligen Schadenshöhe ein: Taten mit zweistelligen Schaden: neun Monate Freiheitsstrafe; Taten mit dreistelligen Schaden: zwölf Monate Freiheitsstrafe; Taten mit vierstelligen Schaden: Ein Jahr und drei Monate Freiheitsstrafe. Er beantrage eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten.

Dr. Fertig konzentrierte sich in seinem Plädoyer auch auf das Strafmaß, er beantragte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, welche zur Bewährung auszusetzen sei.

Das Gericht verkündete das Urteil im Namen des Volkes: Die Angeklagte wurde wegen Untreue im besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre. Im Bewährungsbeschluss wurde ihr auferlegt, 200 Stunden gemeinnützige Arbeit abzuleisten. In der Urteilsbegründung führte der Vorsitzende Richter Apel aus, dass die Kammer die Einzelstrafen anders gebildet hat: Taten bis 100 Euro Schaden: Sieben Monate Freiheitsstrafe; Taten bis 1000 Euro Schaden: Acht Monate Freiheitsstrafe; Taten bis 2000 Euro Schaden: 10 Monate Freiheitsstrafe, Taten über 2000 Euro Schaden: Ein Jahr Freiheitsstrafe, Taten über 5000 Euro Schaden: ein Jahr und zwei Monate Freiheitsstrafe. Für die Angeklagte sprach, so die Begründung, eine günstige Sozialprognose, die Tatsache, dass der Schaden bereits in der Hauptverhandlung wiedergutgemacht wurde, ihr Geständnis, welches auch zur Verfahrensverkürzung führte, sowie der anstehende Verlust ihres Beamtenverhältnisses und der Pensionsansprüche.

Der niedrig anmutende Antrag der Staatsanwaltschaft verwunderte. Der Strafrahmen beträgt zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Kästner-Hengst hat vor dem Landgericht angeklagt, das ließ einen Strafantrag von über vier Jahre erwarten. Warum er nur drei Jahre und drei Monate beantragte, blieb sein Geheimnis. Neues erbrachte die Hauptverhandlung gegenüber den staatsanwaltlichen Ermittlungen wohl nicht. Noch mehr verwunderte das Urteil des Gerichts: An eine Bewährungsstrafe war im Verlaufe der Verhandlung wirklich nicht zu denken.

Auch in der Zuhörerschaft hat das Urteil zu einem unwilligen Raunen geführt. Eine kleine Gruppe hatte die gesamte Verhandlung verfolgt, vermutlich Beamtinnen und Beamten aus dem Bereich der Justizfinanzverwaltung. Die schnelle Reaktion von Dr. Fertig, dass er sofortigen Rechtsmittelverzicht erklärte, wurde aus diesem Zuschauerbereich ebenfalls murmelnd kommentiert, nach dem Motto „Das ist ja klar.

Viele Fragen bleiben unbeantwortet: Wie war dies möglich? Die Taten waren weder besonders raffiniert geplant, noch waren die Verschleierungs- und Täuschungshandlungen in ihren Wirkungen grandios. Ganz im Gegenteil, beim Verdacht auf einen Fehlbetrag von 50 Cent kam man ihr sehr schnell auf die Schliche. Der Nachweis war einfach, die Tatbegehung war dreist, aber simpel.

Hier musste generell Etwas im Argen liegen. Die entsprechenden ministeriellen Regelungen in Verwaltungsvorschriften, Erlassen und Bestimmungen scheinen die Realitäten nicht widerzuspiegeln: Die Bareinzahlung wird immer als eine Ausnahme dargestellt, es ist von „geringfügigen Bareinzahlungen“ die Rede. Eine Lehre aus diesem Fall sollte zumindest sein, dass der Verordnungsgeber diese Regelungen kritisch prüft. Zu prüfen wäre auch, ob alle in der Hierarchie betroffenen Verantwortungsträger ihre Pflichten ordnungsgemäß erfüllten.

Der Beobachter bleibt leicht irritiert zurück und die Worte des Vorsitzenden bei der Urteilsbegründung hallen nach: „Wenn man denkt, dass die BGH-Rechtssprechung zur Gesamtstrafenbildung Diejenigen bevorteilen, die viele Taten mit hohen Schaden verursachen, dann hat man recht.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Zu einer möglichen Revision durch die Staatsanwaltschaft äußerte sich Oberstaatsanwalt Kästner-Hengst in einem Interview.

(18.02., 19.02., 12.03. und 22.03.2019 – jeweils 09:00 Uhr, 8. Strafkammer am Landgericht Erfurt, Saal E 48 bzw. E 43F bzw. Schwurgerichtssaal)
A.S.