Ein Postbote mit guter Nase

Ulrike Borowiak-Soika, Vorsitzende Richterin des Schöffengerichts am Amtsgericht Gotha, hatte sieben Zeugen geladen. Sechs davon bildeten zusammen mit den zwei Zuschauern die Kulisse für die Vereidigung der zwei Schöffen – mit Jahresbeginn begann auch eine neue Schöffenperiode. Ein Zeuge hatte sich wegen Krankheit entschuldigen lassen. Nach der üblichen Zeugenbelehrung verließen sie den Sitzungssaal.

Als Erstes klärte die Vorsitzende die Personalien des Angeklagten: Der 40jährige Sebastian H. stammt aus der Nähe, ist ledig, Vater eines Kindes. Er ist nicht vorbestraft und hat sich wegen des Besitzes und Handelns von Betäubungsmitteln zu verantworten. Konkret wird ihm vorgeworfen, in einer von ihm angemieteten Packstation ein Paket mit Betäubungsmitteln (ca. 300 g Marihuana, ca. 36 g Amphetamin und ca. 6 g Kokain) empfangen zu haben. In seiner Wohnung wurden weitere kleine Mengen Betäubungsmittel und dazugehörige Utensilien beschlagnahmt.

Der mittelgroße Angeklagte wirkte unscheinbar und unauffällig, eher ein Durchschnittstyp in blauen Jeans und einem grauen Kapuzen-Shirt. Der Verteidiger Dr. Matthias Fertig wirkt schon durch seine Körpergröße und das etwas länger getragene graumelierte Haar, Vollbart und dunkle Hornbrille sowie den lässig um den Hals geschlungenen Schal schon äußerlich professionell. Er gab eine Erklärung ab: Der Angeklagte räumt alle Vorwürfe voll umfänglich ein. Daraufhin wurden die fünf als Zeugen geladenen Kriminalbeamten und eine Mitarbeiterin der Post einvernehmlich wieder entlassen. Damit war abzusehen, dass es eine kurze Verhandlung werden würde.

Für Beobachter in den Zuschauerreihen gingen damit die Schwierigkeiten los. Für die aktiv Beteiligten am Strafprozess handelte es sich wohl juristisch um einen klaren eindeutigen Fall, alles stand in den Akten, die lagen auf den Tisch. Für die Beobachter ist es schwer, überhaupt zu erfassen, welcher Lebenssachverhalt hinter den Vorwürfen steckt. Die Mündlichkeit der Verhandlung wird beeinträchtigt. Normalerweise enthält die vom Staatsanwalt verlesene Anklage wichtige Fakten. Wenn er aber sehr schnell und äußerst undeutlich vorträgt und die Akustik im Sitzungssaal zu wünschen übrig lässt, wird es anstrengend. Das routinierte Verlesen eines Behördengutachtens über die beschlagnahmten Betäubungsmittel ist wenig hilfreich, kommt es doch nur auf wenige Sätze an: Wirkstoffgehalt und „nicht geringe Menge“. Die jeweilige umfangreiche und detaillierte Substanzbeschreibung – offensichtlich gutachterliche Textbausteine – ist wohl notwendig, aber es trägt nicht wirklich zur Wahrheitsfindung bei.

Doch die Sache wurde noch interessant: Als Erstes überraschte der Verteidiger mit einer Aussage zur Situation seines Mandanten zur Tatzeit. „Ich weiß nicht, ob Sie es wissen“, so Dr. Fertig zur Vorsitzenden, „die Mutter meines Mandanten ist die ehemalige Mitarbeiterin im öffentlichen Dienst dieses Hauses.“ Die Vorsitzende darauf: „Ich weiß es, aber ich glaube, die Schöffen wissen es nicht.“ Der Verteidiger erklärte weiter: „Die Mutter hat die Staatskasse um 200.000 € erleichtert. Da war er völlig durch den Wind. Auch der Staatsanwalt kannte den Zusammenhang und fragte nach: „Und das war genau in dieser Zeit?“ Verteidiger und Angeklagter bestätigten es.

Der Staatsanwalt, der allgemein etwas schnoddrig wirkte, wollte trotz des Geständnisses vom Angeklagten mehr wissen, er hakte nach: Hat er die Packstation extra wegen des Drogenhandels angemietet? An wen hat er die Drogen weiter verkauft? Was hat er dabei verdient? Woher kam das Paket? Die Antworten kamen stockend, zögerlich und wie der Staatsanwalt sagte „bockig“. Die Packstation hatte er schon vorher angemietet, „ …sowas hat ja Jeder!“ – Im Saal war er der Einzige. Das Paket hat ca. 1.600 € gekostet, er hat mit dem Weiterverkauf einen Gewinn von 200 bis 250 € gemacht. Das Paket hat er an jemand bar bezahlt; verkauft habe er an Bekannte, die er von der Arbeit kenne, aus dem Raum Meiningen; Namen nenne er nicht.

Langsam konnte man erahnen, wie es zum Verfahren überhaupt kam. Der Post-Zusteller, welcher die Packstation belieferte, hatte einen typischen Marihuana-Geruch des Paketes wahrgenommen. Da er bei einer früheren Zustellung bereits Ähnliches roch, verständigte er die Polizei. Leider fehlte dieser Zeuge, leider wurden auch die anderen Zeugen nicht gehört. So blieb es bei seiner Aussage, selbst keine Drogen zu nehmen. Das entsprechende Utensilien in seiner „gutbürgerlichen“ Wohnung – so ein Zitat aus dem Kripo Durchsuchungsbericht – beschlagnahmt wurden, blieb unberücksichtigt.

Bei den Angaben zu seiner Person sagte der Angeklagte, dass er 13 Jahre in einer Raffinerie in Antwerpen gearbeitet hat und jedes Wochenende nach Hause fuhr. Nicht durch die Niederlande in Richtung Gotha zu fahren, wäre ein Umweg…. Erst seit knapp zwei Jahren arbeitet er wieder in Thüringen. 

Der Staatsanwalt sah sehr wohl die Differenzen zwischen dem Agieren des Angeklagten und seinen dürftigen Antworten, sodass er sich zu der Äußerung hinreißen ließ: „Ich bin nicht dafür bekannt, mir meine Hosen mit der Kneifzange anzuziehen!“ Im Plädoyer wurde er deutlicher. Die Drogen hat er nicht, wie behauptet, aus Gefälligkeit für Bekannte bestellt. Er wollte damit Gewinn machen. Er hat sich konspirativ verhalten. Er hat, „wie in diesen Kreisen üblich“, keine weiteren Namen genannt.

Sebastian H. wurde – wie vom Staatsanwalt beantragt – zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde.  Der Verteidiger stimmt dem zu, die vom Staatsanwalt geforderte Geldbuße von 3.000 € empfand er aber als zu hoch und plädierte für 1.000 €. Hier spielte wieder die mutmaßliche Tat der Mutter eine Rolle. Nach Medienberichten soll sie bis 2017 als Mitarbeiterin der Justizzahlstelle des Amtsgerichts Gotha ca. 200.000 € unterschlagen haben. Der Sohn war in dieser Zeit „völlig von der Rolle“. Die Kinder haben einen Kredit aufgenommen, um die Schulden der Mutter abzuzahlen. Aus Kostengründen hat der Angeklagte seine eigene Wohnung aufgegeben und wohnt wieder im Haus der Eltern. Deswegen sei die geforderte Geldbuße zu hoch. Das Gericht fand die Ratenzahlung einer Geldbuße von 2.000 € für angemessen.

Durch das schnelle Einräumen des Tatvorwurfs blieb Einiges im Dunkeln: Waren es nur diese beiden Taten? Wie kam er an die Drogen, wer verschickte das Paket? Hat er es im Darknet bestellt? Ist es tatsächlich glaubhaft, erst im Sommer letzten Jahres durch die Krise mit seiner Mutter zum zweimaligen Drogenhändler geworden zu sein?

(05.02.2019 – 09:00 Uhr, Schöffengericht am Amtsgericht Gotha, Sitzungssaal 221)

A.S.