Nach einer längeren Pause – auch coronabedingt – veröffentliche ich wieder Gerichtsreportagen zu Strafprozessen vor Thüringer Gerichten. Ich beginne mit einem Fall von Anfang 2020, der mich zum Nachdenken brachte, weil mehrere Aspekte zusammentrafen, die mich schon länger bewegen. Zum Ersten: Es ist immer wieder festzustellen, dass Angeklagte sich vor Gericht nicht von einem Rechtsbeistand vertreten lassen, obwohl sie ohne jegliche Rechtskenntnisse sind und das Verfahren – besonders aus strafprozessrechtlicher Sicht – dies dringend geboten hätte. Die Folgen sind vorhersehbar – ich versuche sie hier beispielhaft zu beschreiben. Zum Zweiten: Es scheinen erhebliche Unterschiede in der Strafrechtspraxis aufzutreten, welche sich aus der sozialen Stellung der Angeklagten und die ihnen zur Last gelegten Straftaten ergeben. Eine Kolumne von Thomas Fischer bei Spiegel-online („Strafen fürs schlichte Gemüt“) beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Die Strafjustiz ist schwach bei intelligenter und mächtiger Kriminalität, stark und manchmal großmäulig gegen Unterschichtenkriminalität.“ Fischer, immerhin ehemaliger Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, will diese These provokant und markant zugleich aufgefasst wissen – beinhaltet sie aber nicht doch im Kern etwas Wahres? Ich erinnere an das Urteil gegen die ehemalige Leiterin der Justizzahlstelle Gotha vom März 2019: Die Angeklagte wurde wegen Untreue im besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde! Sie hatte über Jahre hinweg in 391 einzelne Taten insgesamt circa 217.000 Euro veruntreut. Die zunächst eingelegte Revision wurde von der Staatsanwaltschaft zurückgenommen, das Urteil ist rechtskräftig. Auch Jens Gnisa, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes – im Hauptberuf immerhin Direktor des Amtsgerichts Bielefeld, legte erst kürzlich mit seinem Buch „Das Ende der Gerechtigkeit“ eine kritische Betrachtung der Strafjustiz vor. Die Situation wird nicht besser, wenn man, wie die Bundesrechtsanwaltskammer, um die gar nicht so paradoxe Situation weiß, dass „obwohl seit vielen Jahren insgesamt ein kontinuierlicher Rückgang von Kriminalität zu verzeichnen ist – von Schwankungen bei einzelnen Delikten abgesehen –, die Strafjustiz in weiten Teilen evident überlastet“ ist. Drittens: Lange Verfahrensdauer, Verständigung nach § 257c StPO, welche oft als unsaubere Deals verstanden werden, Staatsanwälte, die als „Sitzungsdienst“ das Verfahren erst kurz vor oder in der Hauptverhandlung lesen sind weitere Gründe, die das Misstrauen gegenüber der Strafrechtspflege wachsen lassen. Das liegt unter anderem daran, dass dieses System überwiegend von Juristen und Sachverständigen getragen wird und daher immer die Gefahr besteht, dass es den Kontakt mit den Denkkategorien der Bevölkerung verliert.
Aber nun zum konkreten Fall: Am 30. Januar 2020 hatte der Vorsitzende Richter der 5. Strafkammer des Landgerichts Erfurt, Dirk Steinmaier, einen vollen Terminkalender. Der erste Termin: Die ohne einen Rechtsbeistand erschienene 22jährige deutsche Angeklagte Elisabeth H. hatte gegen ein Urteil des Amtsgerichts Erfurt Berufung eingelegt. Sie war am 21. November 2019 wegen Erschleichens von Leistungen in drei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Im April und zweimal im Mai 2019 war sie, ohne in Besitz eines Fahrscheins zu sein, mit dem Bus bzw. mit der Erfurter Straßenbahn gefahren und bei einer Kontrolle angezeigt worden. Der angerichtete Schaden: 6,- Euro!
Oberstaatsanwalt Dr. Joachim Becker hatte staatsanwaltlichen Sitzungsdienst und verlas routiniert die kurze Anklage. Die Angeklagte, welche zu den Tatzeiträumen SGB-II-Leistungen bezogen hatte, war in sechs Fällen einschlägig vorbestraft und stand unter laufender Bewährung. Seit 2014 war sie kontinuierlich wegen Leistungserschleichungen in Erscheinung getreten. Sie war ohne eigenes Einkommen, aber hoch verschuldet. Zu ihren Gunsten, so der Oberstaatsanwalt, sprachen der geringwertige Schaden und ihre Geständigkeit.
Der Vorsitzende Richter sprach die Angeklagte an: „Was ist das Ziel Ihrer Berufung?“ – „Mich zu ändern!“ war die doch überraschende Antwort der Angeklagten. Richter Steinmaier: „Was wollen Sie mit der Berufung bewirken?“ Die Angeklagte: „Ich will noch mal Bewährung erreichen. Ich hab jetzt Arbeit, hab auch einen Arbeitsvertrag mit.“ Der Richter erläuterte ihr daraufhin die Bedeutung einer Berufungsverhandlung, und erklärt, wie er sagte, „auch aus Kostengründen, die Berufung zu gewissen Punkten einzuschränken.“ Es entwickelte sich ein merkwürdiges Zwiegespräch, das einen faden Beigeschmack hatte, denn es bestanden bei allen Anwesenden erhebliche Zweifel, ob die Angeklagte überhaupt verstanden hatte, um was es wirklich ging. Die Einsilbigkeit der Angeklagten tat ein Übriges. Richter Steinmaier fasste zusammen: „Ihr Hauptziel ist kein Freispruch, sondern Bewährung. Es kommt Ihnen auf die drei Monate an?“ Die Angeklagte: „Nein, ich habe Angst!“ Steinmaier: „Angst, in den Knast zu gehen? – „Ja.“ Der Richter: „Wollen wir eine Erklärung aufnehmen, dass Sie Ihre Berufung auf die Strafaussetzung zur Bewährung beschränken?“ Die Angeklagte war sichtlich überfordert und dachte nach.
Oberstaatsanwalt Dr. Becker nahm sich das Wort und erklärte, mit der Beschränkung auf die Rechtsfolgen einverstanden zu sein. Zur Angeklagten gewandt: „Ihre Berufung hat, so wie ich das sehe, null Chancen auf Erfolg. Sie fahren immer noch schwarz. Was sie retten würde, wäre, wenn Sie jetzt Arbeit hätten. Wenn sie jeden Tag auf Arbeit gehen, wenn Sie jeden Tag acht Stunden arbeiten würden. Das sehe ich alles nicht. Das einzige, was ich sehe, dass Sie nicht in den Knast gehen wollen. Dafür habe ich volles Verständnis. Das reicht aber nicht!“ Diese Rede verunsicherte die Angeklagte noch mehr. Der Vorsitzende bot an, die Sitzung für fünf Minuten zu unterbrechen.
Nach der Unterbrechung erklärte die Angeklagte, ihre Berufung auf die Rechtsfolgen zu beschränken, der Staatsanwalt erklärte seine Zustimmung.
Die Angeklagte erhielt die Möglichkeit, sich zur Sache zu äußern: „Ich will mich bessern, sehe meine Fehler ein. Ich war dumm und naiv.“ Die Angeklagte, schlank, modisch gekleidet und umweht von Parfüm-Duft, hatte ihr Outfit für eine Berufungsverhandlung schlecht gewählt. Der äußere Eindruck – sicherlich nicht ganz unwichtig bei einer so subjektiven Angelegenheit wie dem Erforschen einer Sozialprognose – brachte ihr beim Gericht sicherlich keine Pluspunkte. Da wäre etwas mehr Seriosität angezeigt gewesen. Eher am Rande erwähnte sie, dass sie oft mit dem Bus und der Straßenbahn fahre, weil sie nebenbei in einer Shisha-Bar kellnert. Offensichtlich hatte die Angeklagte niemand, der sie auf diese Berufungsverhandlung vorbereitete.
Der Vorsitzende Richter: „Allein die Zusicherung, dass man sich bessern will, reicht nicht aus. Aus welchem Grund sollen wir Ihrer Zusicherung glauben? Versuchen Sie, uns das zu erklären!“ Darauf wusste die sichtbar verunsicherte Angeklagte nichts zu erwidern. Richter Steinmaier: „2019 im März, Sie wurden gerade wegen Leistungserschleichung rechtskräftig verurteilt – und drei Wochen später wurden Sie wieder erwischt! Da kann man doch nur sagen, dass ist schmerzfrei.“
Da die Angeklagte nichts erwiderte, referierte der Richter die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten: Keinen Schulabschluss, keinen Beruf, Lehre als Floristin abgebrochen, die Schule nach der achten Klasse verlassen. Ihre Mutter war 2016 verstorben, aufgewachsen war sie beim Vater, wo sie auch zusammen mit einem jüngeren Bruder wohnt.
Die Angeklagte erklärt, ab dem 1. Februar 2020 einen Arbeitsvertrag zu haben, in einer Shisha-Bar, auf 450-Euro-Basis, mit 10,5 Stunden täglicher Arbeitszeit.
Dem Staatsanwalt reichte es: „Sie legen jetzt einen Arbeitsvertrag vor, von einem Arbeitgeber, bei dem Sie eh schon schwarz arbeiten. Sie hätten eine Monatskarte haben müssen! Die hätten Sie hier auf den Tisch knallen müssen. Sie hätten Schwielen an den Händen haben müssen, von der Arbeit!“
Richter Steinmaier: „Warum sind Sie immer wieder schwarz gefahren?“ – „Aus Dummheit.“ Der Richter weiter: „Da gibt es eine erste Geldstrafe, dann eine zweite, dann noch eine, dann gibt’s Bewährung, und dann noch mal Bewährung – da muss einen doch das Licht aufgehen!“ Haben Sie sich mal kundig gemacht, was eine Monatskarte kostet?“ – „60 €.“
Der BZR-Auszug wird verlesen, insgesamt sechs Eintragungen, und dann die hier verhandelten drei Fälle. Vor der Verurteilung zu den drei Monaten Freiheitsstrafe vom November wurde sie im März 2019 bereits zu zwei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Als Nächstes wurde der zuständige Bewährungshelfer gehört. Er machte einen ruhigen und sachlichen Eindruck. Die Angeklagte war ihm seit März 2019 unterstellt. Zum Erstgespräch war sie nicht erschienen. Insgesamt hat sie drei Termine beim Bewährungshelfer versäumt. Um die 40 Arbeitsstunden, die sie ableisten musste, hat sie sich zögerlich gekümmert, die Auflage ist aber durch eine Fristverlängerung des Amtsgerichts erfüllt. Seines Wissens war noch ein Verfahren gegen sie offen. Am 26. November 2019 hatten sie das letzte Mal Kontakt, zum Januar-Termin war sie auch nicht erschienen.
Richter Steinmaier: „Wenn Sie sich einen Rechtsanwalt genommen hätten, würde er jetzt ein Plädoyer halten. Sie könne jetzt einen Schlussvortrag halten!“
Die Angeklagte: „Ich will keine Freiheitsstrafe!“
Das Plädoyer des Staatsanwalts: „Es gibt nicht einen einzigen Anhaltspunkt, dass sie eine Bewährung verdient hat. Ich beantrage, die Berufung zu verwerfen. Wenn jemand über Jahre durch nichts erreichbar war, ist irgendwann der Zeitpunkt erreicht. Und dieser Zeitpunkt ist jetzt.“
Der Vorsitzende verkündete das Urteil: „Die Berufung wird verworfen. Die Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Zur Begründung: Das Urteil des Amtsgerichts Erfurt war wohl ausgewogen und hat alle Aspekte berücksichtigt. Es liegt mehrmaliges einschlägiges Bewährungsversagen vor.“ An die Angeklagte direkt gerichtet: „Sie sind durch Geldstrafen nicht mehr zu erreichen. Eine kurze Freiheitsstrafe ist tat- und schuldangemessen. Die große Frage: Strafaussetzung auf Bewährung – Sie haben uns nur als geringfügiges Indiz einen Arbeitsvertrag vorgelegt, der ein schon bestehendes Schwarzarbeitsverhältnis legalisiert. Sie gehen seltsam phlegmatisch durchs Leben, das es einen schon leidtut. Ich habe den Eindruck, dass Sie jemand brauchen, der Sie täglich an die Hand nimmt. Man muss darüber nachdenken, Ihnen einen gesetzlichen Betreuer zu geben. Und wieder an alle gerichtet: „Wir haben es hier mit einer Schwarzfahrerin zu tun, die einfach den Schuss nicht gehört hat. Jetzt ist es eben soweit.“
Diese Gerichtsreportage sollte eigentlich anders gestaltet werden. Ich wollte auch berichten, ob, wo und wie lange Elisabeth H. ihre Freiheitsstrafe verbüßt hatte. Ich wollte schreiben, ob die Verbüßung einer Freiheitsstrafe tatsächlich die erhoffte Wirkung erzielte. Ich wollte wissen, ob sie wieder straffällig geworden war. Der Mitarbeiter der Sozialen Dienste der Justiz konnte sich gut an die Verhandlung (und die darauffolgende, über die ich nächste Woche berichte) erinnern. Das waren gute Voraussetzungen für ein Gespräch, sie standen aber unter den Vorbehalt der Genehmigung seines Vorgesetzten beim Oberlandesgericht in Jena. Ein erstes Telefonat mit Herrn Thomas Jakob verlief sehr erfreulich. Er teilte mit, die Presse gern zu unterstützen, und stände auch für Fachfragen zur Bewährungshilfe selbst zur Verfügung. Er bat um eine E-Mail mit den wesentlichen Punkten meiner Anfrage, da er eine Rücksprache mit dem Pressesprecher des OLG halten müsse. Als nach zwei Tagen noch keine Antwort vorlag, rief ich erneut an. Er erklärte, dass ich das Gespräch mit dem Bewährungshelfer führen könne, die Genehmigung dazu liegt vor. Ich bat, auch den Bewährungshelfer zu informieren. Zwei weitere Tage später wusste der Bewährungshelfer nichts von einer Genehmigung. Die erneuten Versuche, Herrn Jakob zu erreichen, schlugen fehl….
Leider kann hier nicht über die Wirksamkeit einer kurzfristigen Freiheitsstrafe berichtet werden. Ob und wie Elisabeth H. den Strafvollzug überstanden hat, bleibt offen. Sie müsste ja die drei Monate von der aktuellen Verhandlung und die zwei Monate Freiheitsstrafe, welche zur Bewährung ausgesetzt waren, abgesessen haben. Normalerweise werden solche Freiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt in Chemnitz vollstreckt. Und – der Strafvollzug für Frauen soll auch kein Zuckerschlecken sein.
Die im Verfahren begründete Fragen, in wieweit bei Bagatellstraftaten, auch wenn sie wiederholt begangen werden, mit Freiheitsstrafen zu ahnden sind, muss hier offen bleiben. Was aber auffällt, ist der offensichtliche Mangel der Strafjustiz bei der Suche von Alternativen für diese Art von Delikten. Denn: Die kriminelle Energie der Elisabeth H. war sehr gering, der verursachte Schaden – gemessen am Fall der Gothaer Justizzahlstelle – marginal. Apropos Schaden: Selbstverständlich musste Elisabeth H. für jeden Fall des Fahrens ohne Fahrschein ein erhöhtes Beförderungsentgelt von 60 Euro zahlen. Die Justizbeamtin hat bloß den konkret verursachten Schaden wiedergutmachen müssen.
Fragen der Entkriminalisierung sind in Zeiten, in denen tatsächlich oder vermeintlich die Fragen der Inneren Sicherheit in der Bevölkerung besonders stark beachtet werden, zumindest unpopulär. In der Auseinandersetzung mit der AfD und den Versuchen der Rückgewinnung von AfD-Wählern überbieten sich Politikerinnen und Politiker in Vorschlägen zu diversen Strafverschärfungen.
Der personelle „Teufelskreislauf“ von notorischen Schwarzfahrern führt – wie bei Elisabeth H. – nicht selten ins Gefängnis. Das ZDF schätzte die Zahl der einsitzenden Schwarzfahrer in einem Beitrag von 2018 auf 5.000.
Aus einer Sicht ist die „Beförderungserschleichung“ für bestimmte Kreise herzlich willkommen: Jeder erwischte Schwarzfahrer wird angezeigt – jede Anzeige hat einen Tatverdächtigen – und somit ist es automatisch nach den Regeln der Polizeilichen Kriminalstatistik ein „aufgeklärter Fall“ – und das bei fast null Aufwand. Und wer nicht an eine solch zynische Betrachtung glaubt: Doch, sie gibt es. Und sie ist nicht selten. Bei über 200.000 Delikten pro Jahr in Deutschland ist es eine feste Größe beim Zelebrieren der polizeilichen „Aufklärungserfolge“.
Und noch mal zurück zur Thüringer Strafjustiz: Ich hatte bereits im April 2019 über einen notorischen Schwarzfahrer geschrieben. Der verdienstvolle Direktor des Amtsgerichts Apolda, Claus-Peter Behlau, hat sich in einem vergleichbaren Fall viel Gedanken gemacht und sich Mühe gegeben, die vertrackte Situation zu lösen. Deswegen hat es mich besonders gefreut, anlässlich seiner Verabschiedung in den Ruhestand Ende Oktober diesen Jahres die Würdigung des Justizstaatssekretär Sebastian von Ammon zu lesen: „Sie haben sich allseitigen Respekt erworben – hier in Ihrem Wirkungskreis und darüber hinaus bei den Menschen, ob nun Angeklagter oder unbescholtener Bürger. Das ist keine Selbstverständlichkeit, aber das macht Sie zu einer anerkannten Persönlichkeit der Region.“
Wie der Fall von Elisabeth H. in der Erstinstanz verhandelt wurde, kann ich nicht sagen – die Berufungsinstanz war sowohl von Seiten der Richter, aber auch der Staatsanwaltschaft, wenig am wirklichen Schicksal der Angeklagten interessiert.
(30.01.2020 – 9:00 Uhr, Landgericht Erfurt, 5. Strafkammer, Saal E 43)
A.S.