„Wollen wir boxen?“ Der Gerichtsalltag eines Strafrichters – zweiter Teil

Das ursprüngliche Gebäude des Amtsgerichts Rudolstadt, ein 125 Jahre altes Bauwerk zwischen Güntherbrunnen und Neumarkt, wird umfassend saniert. Auf dem Weg zum Ausweichquartier in der Breitscheidstraße fährt man unweigerlich an den historischen Stätten Rudolstädter Porzellantradition vorbei. Im jetzigen Stadtteil Volkstedt stand die Wiege des europäischen Porzellans. Von fünfzehn Manufakturen sind nur noch wenige vor Ort. Ein trauriges Bild gibt die ehemalige Porzellanfabrik Karl Ens ab – eine Industriebrache (Foto). Nur knapp einen Kilometer entfernt befindet sich im ehemaligen Arbeitsamt vorübergehend das Amtsgericht.

Ehemalige Porzellanfabrik Karl Ens (Bildrechte www.gerichtsalltag.de)

Hier begann um 13:00 Uhr für Richter Andreas Spahn die dritte Verhandlung an diesem Dienstag, den 9. April 2019. Mit dem Pensum war er aber nicht allein, die Anklage vertrat wiederum Frau Anja Schneider, Staatsanwaltschaft Gera. Auch die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe war zum dritten Mal gefragt – das ist Gerichtsalltag. Angeklagt war der zur Tatzeit 19jährige Sandro O. – dass er nicht das erste Mal vor den Schranken des Gerichts stand, wurde bei den ersten Worten des Richters deutlich: „Ihre Rechte kennen Sie ja aus den vorausgegangenen Verfahren.

Staatsanwältin Schneider trug in gebotener Kürze die Anklage vor. Die Beweislage war recht klar: Der Angeklagte war geständig, bei den Taten gab es Augenzeugen. Beim ersten Delikt handelte es sich um eine Körperverletzung, bei der zweiten Tat um zwei tateinheitliche Fälle von Beleidigung.

Am 7. April 2018 hatte Sandro zusammen mit seiner Freundin – nennen wir sie Lisa – ein bisschen gefeiert. Dazu gehörte für ihn das Trinken von Alkohol, mehr, als er vertrug. Übermäßiger Alkoholgenuss führt bei ihm zu einem  Zustand unbeherrschter Aggression. Die Veranlagung dazu sieht man ihm nicht an, sie muss wohl vorhanden sein, sie spielte in beiden Fällen eine Rolle. Lisa wusste sich keinen Rat mehr und rief ihre Mutter mit den Worten an: „Mutti, komm bitte schnell, der Sandro randaliert.“ Einmalig war dies wahrscheinlich nicht.

Die Mutter, eine 44jährige Verkäuferin, schilderte die Situation und deren Folgen sehr authentisch und immer noch hoch emotional. Sie fuhr sofort zusammen mit ihrem Freund, dem 43jähriger Zimmermann Mario H., zur Tochter. Beide, Lisa und der Angeklagte, standen vor dem Haus und stritten. Auf der Straße lag ein Blumenkasten, den hatte Sandro zuvor vom Balkon geworfen. Die Mutter und ihr Freund gingen auf sie zu und wollten den Streit schlichten. Sandro war „aufgestachelt“ und fauchte die Beiden an: „Was wollt Ihr von mir. Ihr habt mir Garnichts zu sagen!“ Dann sprach er den Freund der Mutter provozierend an: „Wollen wir boxen?“ Ehe sich der doppelt so alte Mario H. besann, hatte Sandro ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Er blutet sofort stark, musste ins Krankenhaus: Das Nasenbein war gebrochen.

Sandro O., eher ein unscheinbares und schmächtiges Kerlchen, war dem Freund von Lisas Mutter zwar augenscheinlich körperlich unterlegen, durch eine unbestimmte Grundaggressivität griff er aber „erfolgreich“ an. Beide Zeugen schilderten das Geschehen aus ihrer gemeinsamen Erinnerung, während Marion H. ruhig wirkte, war die Mutter immer noch aufgeregt. Ihr war es anzumerken, dass sie solche Erlebnisse noch nicht hatte. Sie beteuerte auch, dass sie ihre Kinder bewusst und ordentlich erziehe, nur bei Lisa gibt es durch den Sandro hin und wieder Zoff. Auch nach dem Schlag war er immer noch wie von Sinnen, wollte sich nicht beruhigen, lief auf die Straße, zwischen den vorbeifahrenden Autos durch, war unberechenbar. Die hinzu gerufene Polizei nahm ihn mit.

Mario H. schilderte, dass er ins Krankenhaus gebracht wurde, noch im Krankenwagen fotografierte die Polizei seine Verletzung. Er musste nicht operiert werden, es war kein bleibender Schaden entstanden. Richter Spahn. „In diesem Gerichtssaal habe ich es leider oft mit Nasenbeinbrüchen zu tun, daher weiß ich, dass es viel schlimmer ausgehen konnte.“ Die Schilderung der Zeugen veranlasste ihn zu der abschließenden Einschätzung: „Das war ja sehr anschaulich!“ In der Tat, das war es.

Sandro O. sagte nicht viel, gab es zu, sagte auch, dass es ihm leid tue. Er hatte ein paar Tage danach den Mario H. in der Stadt getroffen, ihn angesprochen und sich entschuldigt. Das hatte der Zeuge auch bestätigt, trotzdem auf einer Anzeige bestanden, weil es „eine Reaktion geben müsse.“

Der zweite Fall ereignete sich am 29. Juli 2018 kurz nach Mitternacht im Heinrich-Heine-Park in Rudolstadt. Sandro O., der beim Theaterspielhaus erst ein Praktikum und dann den Bundesfreiwilligendienst absolvierte, hatte bei einem Fest die Aufgabe, „den Bierwagen zu machen“. Dies bedeutete, zusammen mit einem Kollegen Bier auszuschenken. Dass eine solche Tätigkeit für einen Heranwachsenden mit nicht nur einem Problem – wie wir noch sehen werden – völlig kontraproduktiv erscheinen muss, hätten die Verantwortlichen klar erkennen müssen. Er hat auf jeden Fall zu viel Bier getrunken und musste viel austreten.

In dieser Zeit hat – nach seinen Angaben – sein Bierwagen-Kollege die mitgekommene Freundin Lisa mit Schnaps „abgefüllt“, ohne das er (angeblich) etwas davon mitbekam. Dieser Kollege wurde leider als Zeuge nicht gehört. Im Ergebnis war Lisa vollständig betrunken.

In der Nacht wollte er sie nach Hause bringen, hat sie aber mehr geschleift, als das sie gegangen war. Im Heine-Park wurde er von mehreren Frauen angesprochen. Wegen ihres desolaten Zustandes machten sie ihm Vorwürfe. Sandro O. beschimpfte und bedrohte diese Passantinnen. Dass sie die Polizei riefen, war nur logisch.

Zwei der schnell zur Stelle gewesenen Polizeibeamten wurden von Richter Spahn als Zeugen gehört. Einer konnte sich gut an Sandro erinnern: „Wir sind zusammen mit dem RTW eingetroffen. Das Mädchen lag auf der Bank.“ Der Sandro O. beleidigt immer noch die anderen „Mädchen“, die Polizei sei dazwischen gegangen. Er wurde aufgefordert, das sein zu lassen. „Das hat er auch nicht gemacht, dem Platzverweis ist er nicht nachgekommen. Hat uns dann beschimpft, als ‚Staatswichser‘ und als ‚Wichser‘. Wir haben ihn zur Ausnüchterung mitgenommen.“ Der Atemalkoholtest ergab einen Wert von 1,34 Promille. Seine Freundin wurde zur Ausnüchterung ins Krankenhaus gefahren.

Richter Spahn fragte den Polizeibeamten, ob er den Sandro O. kenne und deswegen beleidigt wurde. „Nein, ich kenne ihn nicht, er kennt mich wohl auch nicht, ich kenne zwar die O.s, die sind ja ein Begriff, ihn aber nicht. Er hat mich als Polizist beleidigt.“

Die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe aber kannte Sandro von einigen Sachverhalten. Er war als Drogenkonsument und Kleindealer aufgefallen, hatte einen Ladendiebstahl begangen, auch ein anderer Diebstahl ging auf sein Konto. Bisher wurden die Fälle gemäß Paragraf 154 StPO eingestellt. Er hatte die Grund- und Regelschule besucht, ist dann in das Förderschulzentrum gewechselt, hat aber keinen Abschluss. Wie vor einer Verhandlung beim Jugendrichter empfohlen, hatte Sandro einen Termin bei der Jugendgerichtshilfe. Dort gab er an, keine Drogen mehr zu konsumierten. Bei der letzten Verhandlung wurde ihm auferlegt, einen sozialen Trainingskurs zu besuchen, den hatte er nicht vollständig wahrgenommen, sich aber entschuldigt.

Sandro O. war in Begleitung seiner Mutter bei Gericht erschienen. Sie verfolgte die Verhandlung als Zuschauerin. Vor Verhandlungsbeginn sagte er der Jugendgerichtshilfe-Mitarbeiterin, dass er ab September eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner beim Berufsbildungszentrum beginnen werde. Zusammen mit seinem Geständnis empfahl sie „Vorbewährung“, eine weitere Teilnahme am sozialen Trainingskurs sowie eine Geldauflage.

Auch die Staatsanwältin kannte Sandro O., hatte ihn in unguter Erinnerung. Er stand wegen seiner Vortaten bereits unter Bewährungsaufsicht. Sie hatte sich nicht nur mit den Akten beschäftigt sondern mit der dahinter stehenden Persönlichkeit. Sie begann ihr Plädoyer mit den Worten „Auch ich kenne den Angeklagten schon länger. Er war wieder nicht zu bändigen, war hoch aggressiv, war überhaupt nicht zu beruhigen.“ Weiter sagte sie zu ihm gerichtet: „Wir wollen helfen und unterstützen. Wir sind hier langsam an einem Punkt angelangt, wo sich dringend etwas ändern muss.“ Weiter eindringlich: „Wir sind hier an einem Scheideweg, sie müssen jetzt endlich die Regeln begreifen.“  Staatsanwältin Schneider war sehr engagiert und energisch: „Ich kann Ihnen nur ans Herz legen, jetzt die Kurve zu kriegen.“

Sie forderte unter Einbeziehung eines früheren Urteils eine Jugendstrafe nach Paragraf 27 Jugendgerichtsgesetz. Als Bewährungszeit verlangte sie zwei Jahre, davon ein Jahr mit einem Bewährungshelfer. Als Bewährungsauflage hielt sie die Fortsetzung des sozialen Trainingskurses sowie 100 Euro Geldbuße für angemessen.

Nach kurzer Pause verkündete Richter Andreas Spahn das Urteil: „Die Jugendstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Er hatte schon zu viele Sozialkontakte mit dem Jugendgericht. Ich folge dem Vorschlag der Staatsanwaltschaft und der Jugendgerichtshilfe. Das heißt, wir verhängen hier keine numerisch festgesetzte Jugendstrafe. Wir warten ab, ob Sie sich bewähren. Die Bewährungszeit beträgt zwei Jahre. Wir unterstellen Sie ein Jahr der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers. Sie müssen sechs Monate an einem sozialen Trainingskurs teilnehmen.“

Durch beidseitigen Rechtsmittelverzicht ist das Urteil sofort rechtskräftig.

A.S.

(09.04.2019 – 13:00 Uhr, Jugendrichter beim Amtsgericht Rudolstadt, Saal 1)