„Wissen Sie, was ein Auto ist?“

Hinweistafel am Amtsgericht Mühlhausen. (Bildrechte www.gerichtsalltag.de)

Wenn eine Gerichtsreportage mit solch einer Frage beginnt, könnte man am Verstand des Journalisten zweifeln. Bitte nicht – Alles wird gut!

Am 23. März 2021 verhandelte am Amtsgericht Mühlhausen der Strafrichter Dr. Thomas Linß ab 08:30 Uhr gegen den 54jährige Thomas B. wegen Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung in zwei Fällen, davon im zweiten Fall tateinheitlich mit vorsätzlicher Körperverletzung. Eine Anklage, die bombastisch klingt, wenn man sie liest. Im kleinen Sitzungssaal 3 in Mühlhausen kam dann schnell Ernüchterung, oder, besser gesagt, der Alltag. Der Alltag eines Strafrichters. Staatsanwalt Thomas Anstötz verlas routiniert einen Strafbefehl. Strafbefehl? Ganz offensichtlich hatte der Angeklagte Einspruch gegen einen bereits erlassenen Strafbefehl eingelegt (Paragraph 410 Strafprozessordnung), deshalb die mündliche Hauptverhandlung.

Mit den Formalien verschwendete der Richter keine Zeit. Das neben dem Angeklagten sein rechtlicher Betreuer saß, und nicht sein Rechtsanwalt, wurde erst während der Verhandlung klar. Ob als Beistand im Sinne des Paragraph 149 StPO (Zulassung von Beiständen) blieb während der ganzen Verhandlung unklar.

Die vorgeworfen Taten hatten sich am 7. Dezember 2020 zugetragen, der Angeklagte soll einen männlichen Mitbewohner im Frühstücksraum des Gutes Sambach als „Lackaffe“  und „armer Vogel“ beschimpft haben. In einer darauffolgenden rechtlich selbstständigen Handlung soll er diesen Mitbewohner in dem Arm gekniffen und mit den Worten „Ich schlag Dir den Schädel runter“ bedroht haben.

Richter Dr. Linß wollte wissen, wie der Angeklagte zum Tatvorwurf stand. Dieser reagierte sofort und begann, den 60jährigen Richter mit „junger Mann“ anzusprechen. Pikiert fragte dieser nach: „Wer ist hier der junge Mann?“ Der Angeklagte wandte sich hilflos an seinen Betreuer: „Wie soll ich ihn ansprechen?“ Dieser raunte ihn zu: „Mit Herr Vorsitzender.“  Thomas B. gab sein Bestes, diese Ansprache war aber für seine sprachliche Fähigkeit zu schwer.

Nach sehr kurzer Zeit war klar – der Angeklagte hat eng begrenzte Möglichkeiten. Das Gut Sambach ist eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie umschließt die Tätigkeitsfelder der Werkstatt und Wohnheim für behinderte Menschen, des landwirtschaftlichen Betriebes, der Biogasanlage, der Fleischerei und der Käserei am Stadtrand von Mühlhausen. Wie sollte das weiter gehen? – Schlimmer?

Der vom Richter zu den Tatvorwürfen Angesprochene versuchte zu erklären, dass er sich bei seinen Mitbewohner entschuldigte und dieser die Entschuldigung auch angenommen hatte. Seine Worte waren schwer zu verstehen, er sprach schnell und sehr undeutlich – eine denkbare schlechte Mischung. Seine Sätze blieben unvollendete, er wiederholte Satzhälften mehrfach, verhaspelte sich – gab sich aber sichtlich Mühe. Mehrfach sprach er den Strafrichter mit „Herr Vorsitzender“ an, brachte die Worte aber nicht fehlerfrei über die Lippen. Mitleid machte sich breit – nicht beim Richter, so der Eindruck.

Richter Dr. Linß fragte barsch: „Gut Sambach, was machen Sie dort?

Der Angeklagte: „Ich staple mit einem älteren Mann Reifen.“ Diesen Satz wiederholte er in mehreren Varianten und fragte dann den Richter: „Wissen Sie, was ein Auto ist?“ Der Richter völlig schmerzfrei: „Ja, ich weiß, was ein Auto ist.“ Der Angeklagte sprach in seiner Art schnell weiter, wie er Reifen aufstapelte, das mal welche runter gefallen waren und was sonst noch passierte: „Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Vorsitzender!“ Dazu kam es nicht. Richter Dr. Linß fragte den rechtlichen Betreuer, was die Betreuung umfasst. Der Betreuer kurz und knapp: „Vertretung vor Behörden, Vertretung bei Gericht, Gesundheitsvorsorge.

Der Richter fragte wieder den Angeklagten: „Verdienen Sie etwas? Haben Sie ein Einkommen“? Die Frage hatte der Angeklagte entweder nicht verstanden, oder er wusste es nicht. Eine Zuhörerin, eine junge Frau Anfang Zwanzig, offensichtlich aus dem Gut Sambach, sprang zur Seite: „140 Euro Werkgeld im Monat.

Der Richter fragte scharf nach: „Können Sie die Geldstrafe bezahlen oder soll ich Sie einsperren?“ Auch darauf wusste der Angeklagte keine Antwort. Deshalb wandte sich der Richter an seinen Betreuer: „Können Sie etwas zu seinem geistigen Zustand sagen?

Er hätte sicherlich gekonnte, so angesprochen und gefragt, erwiderte er ausweichen: „Ja, er ist heute sehr aufgeregt. Er weiß, dass es um etwas geht. Ich glaube, die Entschuldigung hat er ernst gemeint.

Stück für Stück erhellte sich der Sachverhalt. Die Beiden, der Angeklagte und sein Opfer, waren als gemeinsame Bewohner im Gut Sambach befreundet gewesen, hatten sich dann aber zerstritten. So kam es auch zur Auseinandersetzung.

Der rechtliche Betreuer unterbreitete den Gedanken, seinen Einspruch zurückzuziehen um nur noch über die Höhe des Tagessatzes zu verhandeln. Dr. Linß machte ihn darauf aufmerksam, dass dies so nicht gehe. Wenn, dann müsse er den Einspruch nur auf die Rechtsfolgen beschränken. Und direkt an den Betreuer gewandt: „Und da mache ich kein Geheimnis draus, dass ich den Tagessatz auf 7 Euro absenke.“ Und der Betreuer beantragte es wie besprochen.

Der Staatsanwalt hielt ein sehr kurzes Plädoyer. Als entlastend für den Angeklagten wertete er, dass er bisher straffrei durchs Leben gegangen war.

Der Richter verkündete sein Urteil: Eine Geldstrafe von 50 Tagessätze  zu je 5 Euro.

Der Angeklagte hatte das letzte Wort. Er versicherte nochmals, sich entschuldigt zu haben: „Und der Sven hat‘s angenommen.“ Mehrfach versuchte er, den Richter unter vier Augen zu sprechen, von seinem Betreuer war er diesbezüglich kaum zu bremsen. Der Richter: „Sowas geht bei Gericht nicht.

Es blieb natürlich die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten offen. Im Strafbefehlsverfahren kann man so etwas schlecht feststellen, aber in einer mündlichen Hauptverhandlung? Auf eine entsprechende Nachfrage im Anschluss an die Verhandlung antwortet der Richter: „Und beim nächsten Mal lasse ich ihn für 3.000 Euro begutachten?!“ – Nachdenkliche Blicke. Und dann doch ein weniger sarkastischer Nachsatz des Dr. Linß: „Er weiß, was er gemacht und das es verboten ist. Im Gegenteil zu Jemand, der gar nicht mehr weiß, was er gemacht hat.

So kann man es auch sehen.

Irgendwas fühlte sich jedoch komisch an. War ich zu spät gekommen? Hatte ich etwas verpasst? Ging es doch schon vor 08:30 Uhr los? So sehr konnte ein Strafrichter nicht danebenliegen. Eine Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit oder wegen geringer Schuld wäre normal gewesen.

Also nachrecherchieren. Die Erklärung für diese sonderbare Verhandlung kam bei einem Telefonat mit dem rechtlichen Betreuer. Nach anfänglicher Skepsis gab er vorsichtig Auskunft: Herr Thomas B. steht unter seiner Betreuung. Er war als Beistand vor Gericht, nicht als Verteidiger. Mit dem Angeklagten gab es im Gut Sambach zurückliegend immer wieder Schwierigkeiten, er war ständig auffällig, es gab verschiedene Übertretungen, bis hin zu Beleidigungen, aber auch Körperverletzungen und Bedrohungen.

Es gab und gibt eine Vielzahl von Menschen, die sich um ihn bemühen. Aber es wurde immer schwieriger. So hatte man sich entschlossen, einen Übergriff von ihm zur Anzeige zu bringen. Ziel war es, Herrn B. aufzuzeigen, dass sein Handeln Konsequenzen hat, nicht folgenlos blieb, um eine Verhaltensänderung zu erreichen. Und das wollte man erreichen, bevor es eskaliert. Der Betreuer: „Sie können davon ausgehen, dass es im Vorfeld mehrere Telefonate gegeben hat.

Deshalb der Strafbefehl! Deshalb der Einspruch! Formal wegen der Höhe der Geldstrafe. Dem Betreuer ging es aber hauptsächlich um die erzieherische Wirkung einer öffentlichen Hauptverhandlung vor dem Strafrichter. Auch wenn Herr B. nicht alles in der Verhandlung mitbekam, hat sie doch, so der Betreuer, die erwünschte Wirkung erzielt. Abschließend der rechtliche Betreuer: „Wir haben noch lange nach der Verhandlung vor dem Gericht gestanden und uns unterhalten. Er ist mir – nicht ganz Corona-konform – um den Hals gefallen. Auch die Mitarbeiterin vom Gut Sambach hatte nach dem Termin den Eindruck – das hat Wirkung erzielt.

So betrachtet, bekam das eigentlich unverständliche Agieren des Strafrichters einen tieferen Sinn.

Respekt!

Vielleicht wirkt die Vergangenheit des jetzigen Gerichtsgebäudes als Bestandteil des Zisterzienserklosters Volkenroda nach.

A.S.

23.03.2021, 08:30 Uhr, Amtsgericht Mühlhausen, Saal 3