Wer hilft?

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Nach der hier zu beschreibenden Gerichtsverhandlung kam ein seltenes Gefühl zum Tragen – traurige Hilflosigkeit. In der kurzen Zeit der Verhandlung vor der Jugendrichterin am Amtsgericht Erfurt kamen Facetten aus dem Leben einer Familie in so komprimierter Form zur Sprache, die sonst an den meisten Menschen vorübergehen, von Dritten nicht wahrgenommen werden. Natürlich ging es wieder um eine Straftat, die üblichen Akteure der Strafjustiz bei Jugendsachen waren präsent. Es ging aber auch um die Menschen, in einer Art und Weise, die so bisher nicht erlebt wurde. Nicht nur als Handelnde, die aus einer bestimmten Perspektive im Strafprozess relevant waren. Die Verhandlung zeigte, in kurzen Momentaufnahmen hinein gesehen, das schwierige Leben einer Erfurter Familie:

Es ging um den 20jährigen Rafael F. (Name geändert). Zur Tatzeit 19 Jahre alt, wurde ihm von Staatsanwältin Petra Jarisch versuchter Betrug vorgeworfen. Die 55jährige Richterin Heike Schwarz, als Jugendrichterin sehr erfahren, engagiert und wenn es sein muss  – energisch, führte behutsam durch die Verhandlung. Rafael macht den Eindruck eines großen und gutmütigen Jungen. Er kam in Begleitung seiner Freundin, sie verfolgte die Verhandlung im Zuschauerraum. Bereits bei der Aufnahme der Personalien – sonst reine Routine – ein Achtungszeichen. Rafael F. wohnte nicht mehr an der bei Gericht bekannten Adresse, sondern in einer städtischen Notunterkunft im Erfurter Norden. Richterin Schwarz fragte nach seinen Vermögensverhältnissen: Er ist ALG-II-Empfänger und hat 637 Euro Schulden bei der EVAG, der Erfurter Verkehrsbetriebe AG, Resultat seines Schwarzfahrens. Zurzeit kann er wegen ALG II nichts zurückzahlen, er müsse das erst mal klären, vorher habe er monatlich 30 Euro abgestottert. Die Richterin kannte sich mit dieser Art Schulden aus: „Die EVAG hat gleich ein Inkassobüro eingeschaltet, mit denen müssen Sie das klären.

Frau Staatsanwältin Jarisch verlas die Anklage. Der versuchte Betrug des Rafael F. bestand darin, dass er ein Handy vom Typ IPhone X (Klone) bei Ebay-Kleinanzeigen für 130 Euro kaufte und gleich als vollwertiges Handy für 880 Euro weiterverkaufte. Der Käufer hat sofort gemerkt, dass es sich nicht um ein Markenhandy handelte und Anzeige erstattet. Wie sich herausstellte, hatte Rafael F. den Verkauf über PayPal abgewickelt. Durch den PayPal Käuferschutz ist das Finanzielle rückabgewickelt worden, der Anzeigenerstatter hat die 880 Euro zurückerhalten. Insoweit, so Frau Jarisch, handelt es sich nur um versuchten Betrug.

Richterin Schwarz zum Angeklagten: „Sie kennen das ja, Sie können aussagen, aber sie müssen nicht.“ Er wollte, druckste aber erst ein bisschen herum und versuchte – etwas naiv und unsicher – dem Gericht weis zu machen, dass er im guten Glauben gehandelt hatte, als er das Handy zum Verkauf anbot. Da war er bei der Richterin an die richtige Adresse geraten, sie war gut vorbereitet, kannte die Details der Akte: „Warum soll Jemand so bekloppt sein, ein Handy für 130 Euro zu verkaufen, dass 1000 Euro wert ist?“ Dann las sie aus der Akte die Verkaufsanzeige „Hier biete ich eine IPhone Klone…“ Das Handy war laut Aktenlage vom Verkäufer zum Funktionstest einmal ausgepackt worden, angeboten hatte er es für 85 Euro mit der Bemerkung „fast wie neu“. Der Angeklagte, so warf ihm die Richterin vor, hatte dann bei Ebay-Kleinanzeigen geschrieben: „Verkaufe mein Handy IPhone X, versiegelt, aus Vertragsverlängerung …“.

Frau Schwarz energisch: „Ich kaufe doch kein Handy für 130 Euro und verkaufe es für 880 Euro und alles ist gut. Das glaubt Ihnen niemand!“ Sie liest weiter aus der Akte vor, E-Mails zwischen Verkäufer und Angeklagten. Ganz offensichtlich hat der Verkäufer das Handy gleich weiter geschickt an den Käufer des Angeklagten: „Sie verkaufen etwas, was Sie noch nicht mal haben. Das ganze Geschäft ist Müll!“ Der Richterin reicht es: „Das sind alles Schutzbehauptungen, was Sie uns hier erzählen.

Die Staatsanwältin, die bis dahin nur zugehört hatte, aber den Angeklagten genau beobachtete und seine immer hilflosere Lage sah, sprach ihn direkt an: „Ich gehe davon aus, dass Sie die Tat einräumen! Stimmt das?“ Der Angeklagte, irgendwie erleichtert: „Ja!“ Die Richterin: „Das soll uns als Geständnis reichen.“ Staatsanwältin Jarisch wollte noch wissen, wo das Handy sich jetzt befindet. Der Angeklagte: „Ich hab es nicht, hatte es nie, will es nicht. Das hab ich gelernt, das tut mir auch leid.“ Frau Jarisch weiter: „Eigentümer ist der Erstverkäufer, der muss es jetzt auch zurückbekommen!“

Weiter ging es mit dem Bundeszentralregisterauszug des Rafael F.: Es lagen vier Eintragungen vor: Drei Mal geringwertige Leistungserschleichungen und ein gemeinschaftlicher Diebstahl, die beiden letzten Eintragungen 2016 – „Da haben wir uns kennengelernt“ bemerkte die Jugendrichterin. Bei diesen Verfahren wurde jeweils von einer Strafsanktion abgesehen.

Die neben der Staatsanwältin sitzende Vertreterin der Jugendgerichtshilfe verlas den Bericht über Rafael F.: Er ist das älteste von drei Geschwisterkindern, aufgewachsen in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft der leiblichen Eltern. Die Mutter erkrankte 2008 an einer psychischen Störung, sie hatte Panik- und Angstattacken, konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben. Der Vater war dieser Situation nicht gewachsen, fing erst an zu Trinken, dann schlug er die Frau, später verließ er die Familie. Ab 2014 hatte er keinen Kontakt mehr zu den Kindern. 2015 verließ Rafael F. die Regelschule mit dem Zeugnis der achten Klasse. Er versuchte anschließend, bei einem Bildungsträger den Hauptschulabschluss nachzuholen, schaffte es aber nicht, auch eine Ausbildung hatte er abgebrochen. Dann hatte er bei der Post und in einem Supermarkt Arbeit, aber nicht länger als wenige Monate. Rafael F. wohnt mit seinen beiden 12- und 14jährigen Geschwistern in einer Notunterkunft. Die Mutter hatte aufgrund ihrer Erkrankung nur ALG-II, Mietschulden hatten sich aufgetürmt und die Wohnung wurde gekündigt. Die Räumungsschutzklage hat sie nicht hingekriegt. Sie wurden geräumt. Die Jugendgerichtshilfe empfahl die Anwendung von Jugendstrafrecht und das Verhängen von Arbeitsstunden.

Frau Staatsanwältin Jarisch plädierte auf eine Verwarnung und das Ableisten von 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit: „Der geborene Betrüger sind Sie nicht. So kommen Sie nicht zu Geld, so kommen Sie nur auf die Anklagebank!“ Weiter beantragte sie, dass dem Angeklagten erspart bleiben soll, die Kosten des Verfahrens zu tragen. So lautete auch das Urteil. Jugendrichterin Schwarz begründete ihr Urteil: „Er hat, anders als andere Betrüger, die ich hier kennenlernte, PayPal akzeptiert, die anderen wollten vorher alles bezahlt haben, so blieb es beim Versuch. Ich schließe mich der Jugendgerichtshilfe an, Jugendstrafrecht anzuwenden. Beim Angeklagten sieht man deutlich, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.“ Zu seinen Gunsten sprach auch, dass die Tat bereits ein Jahr zurücklag, seit dem nichts gegen ihn vorlag und kein materieller Schaden entstanden sei.Da beide Seiten Rechtsmittelverzicht erklärten, ist das Urteil rechtskräftig.

Das Urteil erscheint angemessen. Es bleiben jedoch viele Fragen. In der Urteilsbegründung hatte die Richterin ein gewisses Verständnis für den Angeklagten – mit diesem „Geschäft“ wäre er auf einem Schlag seine Schulden los gewesen. Muss die EVAG unbedingt und in jedem Fall ein Inkassobüro beauftragen? Der Vorsitzende des Aufsichtsrates ist der Erfurter Stadtrat der Partei „Die Linke“ und ehemaliges langjähriges Mitglied des Thüringer Landtages, Matthias Bärwolff. Die Erfurter Verkehrsbetriebe AG sind ein Unternehmen der Stadtwerke Erfurt, Aufsichtsratsvorsitzender ist der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD). Gibt es keine Härtefallregelung? Gibt es keine Einzelfallprüfung, müssen hinter einer geringwertigen Leistungserschleichung wirklich zwanghaft zivilrechtliche Forderungen auflaufen, welche den eigentlichen Schaden um ein Vielfaches übersteigen?

Und zur Räumung der Wohnung – eine Mutter mit drei Kindern in einem Zimmer wohnen zu lassen, das ist wirklich mehr als grenzwertig. Hier muss geholfen werden!

Richterin Schwarz sagte am Ende der Verhandlung, dass nicht Jeder für eine schulische Laufbahn und fürs Lernen begabt ist. Aber eine Arbeit zu finden, muss doch möglich sein. Wo sind die sozialen Netze, die Rafael F., seine Mutter und die zwei Geschwister auffangen? Wo ist die Straffälligenhilfe, wo die Jugendgerichtshilfe? Nach der Verhandlung ein kurzes Gespräch auf dem Flur zur Ableistung der Arbeitsstunden, das kann es doch nicht gewesen sein.

Eine kleine Internetrecherche brachte ein trauriges Bild: Die Thüringer Bewährungs- und Straffälligenhilfe e.V. hat noch nicht mal eine funktionierende Website. Der Jugendhilfeausschuss der Stadt Erfurt hat kein Mitglied mit entsprechenden Präferenzen, von der Strafjustiz ist niemand vertreten. Die Landesgruppe Thüringen der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ e.V.) scheint da eher akademisch ausgerichtet zu sein, auf der Homepage sind die letzten Aktivitäten vom November 2018! Die letzte Pressemitteilung ist aus dem Jahr 2006.

Dass gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, wird oft zitiert, Franz von Liszt (1851-1919) hat in härteren und wirtschaftlich schlechteren Zeiten darauf hingewiesen. Und in unserer heutigen Zeit? Rafael F. und seiner Familie sollte doch zu helfen sein. Hilfe brauchen sie, allein ist es für sie nicht zu schaffen. Viel brauchen sie nicht. Etwas Anlaufunterstützung, Schuldnerberatung, rechtliche Beratung, hin und wieder Orientierung. Das müsste doch machbar sein. Ob  Stadtjugendring, Arbeiterwohlfahrt, Diakonie, Caritas, Arbeiter-Samariter-Bund – die Aufzählung lässt sich weiter fortsetzen…

Wer hilft?

(08.07.2019 – 09:00 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Saal 7)

A.S.