Verstehen Sie mich?

Der Schöffensaal des Amtsgerichts Rudolstadt (Bildrechte: Architekturbüro
Alexander Pfohl, Weimar)

Der mittelgroße schmächtige 20jährige Angeklagte – nennen wir ihn Gilbert P. – wirkte unscheinbar. Er betrat als letzter – zusammen mit einer jugendlich wirkenden Begleiterin – den Schöffensaal und beide gaben sich einen flüchtigen Kuss. Er setzte sich neben die Verteidigerin, sie nahm hinten, in den gut besetzten Stuhlreihen für die Öffentlichkeit, Platz. Zuvor kamen SchülerInnen einer ganzen Schulklasse in den Verhandlungssaal, begleitete von einer Lehrerin.

Der Schöffensaal des Amtsgerichts Rudolstadt ist beeindruckend und der Kontrast zwischen der Architektur des Raumes und der Beleuchtungstechnik ist nur ein Bespiel der gelungenen denkmalpflegerischen Sanierung dieses Gebäudekomplexes. Rechtsanwältin Elisabeth Neubert begrüßte ihren Mandanten fragend, ob er Herr P. sei. Ob das gut gehen würde, wenn sich Verteidigerin und Mandant erst im Gerichtssaal kennenlernen?

Der Vorsitzende Richter des Jugendschöffengerichts Rudolstadt, Andreas Spahn, begrüßte zu Verhandlungsbeginn diese neunte Klasse der Staatlichen Regelschule Neusitz und klärte zuerst eine Formalie: Er hatte Herr Rechtsanwalt Dr. Manfred Dahmen als Pflichtverteidiger bestellt. Urlaubsbedingt wurde er durch seine Kollegin Neubert vertreten.

Sodann verlas Frau Oberstaatsanwältin Anja Schneider von der Staatsanwaltschaft Gera die Anklage: Am 28. Juli 2022 soll der Angeklagte beobachtet haben, wie am Busbahnhof in Saalfeld eine junge Frau ihre Tasche auf einer Bank vergessen hatte, in einen Bus stieg und davonfuhr. Daraufhin hat er die Tasche an sich genommen, der Inhalt: Ein Laptop mit Ladekabel im Wert von 1.000 €. Darauffolgend fuhr er mit dem Zug nach Erfurt und von dort weiter in Richtung Nordhausen. Während dieser Zugfahrt soll er den Laptop zum Verkauf angeboten haben. Der Betreffende lehnte ab und rief die Polizei. Strafbar wegen Unterschlagung gemäß § 246 Strafgesetzbuch.

Richter Spahn schaute in Richtung des Angeklagten und seiner Verteidigerin. Diese signalisierte, dass ihr Mandant sich äußern wolle. Der bisher schüchtern wirkende Angeklagte legte gleich los: „Es war nicht ganz so, wie sie es vorgelesen hat. Es war schon dunkel, und ich sah die Tasche, die da lag. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich habe nachgeschaut, es war ein MacBook  drin. Ich hab’s mit nach Hause genommen. Hab nachgesehen und festgestellt, da war ein Aufkleber dran, von der Uni Jena.

Richter Spahn stellt richtig: „Von der Fernuniversität Hagen.

Der Angeklagte: „Ja, oder so. Da stand auch der Name der Besitzerin drauf. Die habe ich auf Facebook gesucht und ihr eine Nachricht geschrieben.

Der Vorsitzende unterbricht: „Aber bei der Polizei haben Sie ausgesagt, dass Sie den Laptop gewinnbringend verkaufen wollten?!“

Darauf ging Gilbert P. nicht ein: „Als ich ausstieg, war die Polizei schon da und hat mich abgegriffen.

Richter Spahn wechselte das Thema, scheinbar ohne tieferen Sinn. Eigentlich wären hier dringende Nachfragen logisch. Er jedoch sprach über die nicht wenigen Vorstrafen des Angeklagten und das er die angeklagte Tat unter zweifacher Bewährung (!) begangen hatte. Er fragte dann den Angeklagten: „Sie hatte die Zusage für einen Therapieplatz?

Der Angeklagte: „Das war die falsche Therapie, war Verhaltenstherapie, keine Suchttherapie.

Der Richter bemerkte, wie auch der neben der Staatsanwaltschaft sitzende Vertreter der Jugendgerichtshilfe, dass gerade diese Therapieeinrichtung für Suchttherapie bekannt sei, und fragte weiter: „Und wie siehts mit einem Job aus?

Da fühlte sich der Angeklagte auf sicherem Terrain: „Ja, ich habe erst in der Schokoladenbude gearbeitet, dann gewechselt zu einem anderen Betrieb. Da musste ich so schwer tragen, das ging gar nicht. Und dann hab ich in Pößneck angefangen.“ Was er nicht sagte, dass er zurzeit ohne Arbeit war, das kam erst später heraus.

Der Vorsitzende schaute in die Runde, ob es Fragen gäbe. Sein Schöffe zur Linken fragte, ganz auf Logik setzend, nach: „Bei der Polizei haben Sie ausgesagt, dass Sie den Laptop gewinnbringend verkaufen wollten. Hier haben Sie eben ausgesagt, dass sie ihn zurückgeben wollten. Das ist ein ziemlicher Widerspruch!

Die Verteidigerin und der Vorsitzende tauschen einen Blick aus, sie beantragte eine kurze Unterbrechung, um sich mit ihren Mandanten zu beraten. Der Richter stellte nebenan einen Beratungsraum zur Verfügung.

Nach zehn Minuten wurden fortgesetzt. Die Verteidigerin: „Ja, es ist so gewesen, wie er bei der Polizei ausgesagt hatte. Er hat ihm Zug mit einem Kumpel telefoniert und gefragt, was er für einen solchen Laptop kriegen kann. Der hat gesagt, 150 €. Das hat wohl ein Mitreisender gehört und die Polizei gerufen.

Alle schienen ob dieser Wendung zufrieden. Das Kalkül des Richters ging auf. Erleichtert stellte er fest: „Da haben wir uns einiges erspart. Wir brauchen keine Zeugen vorladen, brauchen keinen Fortsetzungstermin und die Schüler erfahren noch heute, wie es ausgeht.“ Ohne weitere Unterbrechung fuhr er fort: „Dann werden wir uns mal die persönlichen Verhältnisse anschauen.

Darauf soll hier ausdrücklich verzichtet werden. Nur so viel, wie die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer kurz zusammenfasste: Er hatte keinen guten Start ins Leben, hatte wirklich sehr ungünstige familiäre Verhältnisse, hat keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Er wuchs zum Teil bei den Großeltern und in verschiedenen Kinderheimen auf, lebte zum Teil auf der Straße und beging mehrere Straftaten. Oberflächlich betrachtet klingt das nach dem entschuldigenden Klischee der „schweren Kindheit“. Hier wurde es aber sehr einfühlsam und echt vorgetragen. Der Angeklagte nickte nur ab und zu. Er war fast zwei Jahre in Haft, wurde drei Monate vor der hier zu verhandelnden Tat nach Verbüßung von ⅔ der Strafe aus der Jugendstrafanstalt Arnstadt entlassen. Er ist deutscher Staatsbürger, verheiratet und lebt zurzeit von Bürgergeld.

Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe beim Jugendamt des Saale-Orla-Kreises, Herr Michael Ernst, gab seine Einschätzung zur Persönlichkeit des Angeklagten ab. Er schätzte ein, dass auf jeden Fall Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen sollte, und beschrieb den Gilbert als noch unfertigen, unsteten und teils impulsiven jungen Mann, der noch nicht in der Lage ist, sich den Alltag selbstständig erfolgreich zu stellen. Er untermauerte seine Einschätzung mit einer ganzen Reihe von Beispielen, die zeigten, dass er ihn sehr gut kannte. So sagte er, dass Gilbert sehr jung geheiratet hatte, er ihm aber erst neulich sagte, dass es nicht so gut lief und seine Frau aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist. Dies, so Herr Ernst, war wohl nur eine Momentaufnahme, denn seine Frau begleitete ihn ja in den Gerichtssaal. Seiner Meinung nach braucht er unbedingt praktisch Anleitung und Struktur im täglichen Ablauf. Die umfassende Stellungnahme war von Detailwissen und zugleich guter Menschenkenntnis geprägt und half, sich ein plastisches Bild vom Leben des Angeklagten zu bilden.

Mehrfach spielte in der Verhandlung das problematische Verhältnis des Angeklagten zu seiner Mutter eine Rolle. Sie hatte mit ihm zusammen auch Straftaten begangen, auch häusliche Gewalt gegen ihren Sohn wurde erwähnt. Richter Spahn fragte nach dem Verhältnis zu ihr. Der Angeklagte überlegte eine kurze Weile – ein bisschen theatralisch, und sagte, wenig impulsiv, eher wie zuvor zurechtgelegt: „Wir sind wie Plus und Minus. Wie ziehen und an, und, wenn wir zusammen sind, geraten wir aneinander. Wir können nicht mit uns, aber auch nicht ohne uns. – Verstehen Sie mich?“ Wie er dies sagte, ein bisschen rotzig, ein bisschen frech – schwer zu verstehen, was da in ihm vorging. Vielleicht glaubte er, den Zuhörern etwas bieten zu müssen…

Diese nachgeschobene Frage, direkt an Richter Spahn gerichtet, hatte schon eine gewisse Komik, aber diese ging eher zu Lasten des Vorsitzenden. Das ließ  der berufs- und lebenserfahrene Richter leicht amüsiert an sich abtropfen, den Angeklagten hat er ob seiner Theatralik wohl durchschaut.

Ohne den genauen Auszug aus dem Bundeszentralregister zu referieren, nannte Richter Spahn die diversen Vorstrafen, überwiegend Delikte der Beschaffungskriminalität, wie Diebstähle, zum Teil unter Führung einer Waffe, aber auch mehrfach Körperverletzungen und, wie bei einem Suchtkranken wohl zwangsläufig, Betäubungsmitteldelikte.

Oberstaatsanwältin Schneider begründete in ihrem ausführlichen Plädoyer die Anwendung des Jugendstrafrechts gegen den heranwachsenden Angeklagten. Zur Tat sagte sie nicht so viel, nur so viel: Er hat eine Gelegenheit zur Begehung einer Straftat genutzt, hat sie aber nicht bewusst herbeigeführt. Seine Pflicht wäre es gewesen, die aufgefundene Tasche abzugeben, zum Beispiel bei der Polizei. Darauf der Angeklagte: „Mit der Polizei hab ich es nicht so, den versuche ich aus dem Weg zu gehen.“

Die Staatsanwältin ging gründlich auf die Persönlichkeit des Angeklagten ein, machte deutlich, dass er jetzt eine letzte Chance bekommen kann, die er unbedingt nutzen müsse, und redete ihm auch ins Gewissen, endlich sein Leben in den Griff zu bekommen. So viele weitere Gelegenheit werde er nicht bekommen. Das Plädoyer war sehr engagiert und konkret auf die Persönlichkeit des Angeklagten und seine Lebensumstände zugeschnitten. Hier hatte man wirklich den Eindruck, dass die Anklagevertreterin ihre Aufgabe sehr umfassend und tiefgreifend versteht und ihren Beitrag dazu leistet, um der Begehung von weiteren Straftaten durch den Angeklagten entgegenzuwirken. Abschließend folgte sie dem Vertreter der Jugendgerichtshilfe, dass ein soziales Training oder eine Betreuungsweisung für den Angeklagten als gute Ideen einschätzte.

Um es kurz zu machen, die Verteidigerin schloss sich dem Plädoyer der Staatsanwältin an, hatte ansonsten wenig zu tun, jedoch im richtigen Augenblick den Angeklagten besonnen beraten.

Der Angeklagte verzichtete auf ein letztes Wort.

Nach einer Beratungspause verkündete der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts das Urteil: Der Angeklagte wird angewiesen, sich für die Dauer eines Jahres einen Betreuungshelfer zu unterstellen (§ 10 Jugendgerichtsgesetz).

Auch Richter Spahn verdeutlichte in seiner Urteilsbegründung, dass dem Angeklagten eine Möglichkeit geschaffen wurde, endlich sein Leben in den Griff zu bekommen. Seiner Meinung nach ist eine weiterer Wahrnahme der Suchthilfetermine und eine Suchttherapie zwingend, denn „… das Suchtgedächtnis ist lang.“  Deutlich hob er hervor, dass es im Jugendstrafrecht nicht darum gehe, ein tat- und schuldangemessenes Urteil zu fällen, sondern Mittel und Wege zu finden, die Jugendlichen von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Er riet auch dazu, die Betreuung aktiv in Anspruch zu nehmen, denn es werden wieder Konflikte auf ihn zukommen, und da muss er lernen, diese zu bewältigen. „Man kann nicht bei jeder Kleinigkeit weglaufen, kündigen, bloß weil irgendjemand etwas getan oder gesagt hat, was nicht gefällt. Und wenn man der Meinung ist, dass es die falsche Therapie ist, dann bricht man nicht einfach ab, sondern wendet sich an die Fachleute und lässt sich beraten.

Die Betreuungsweisung, eine typische Maßregel der Besserung und Sicherung (§ 7 Jugendgerichtsgesetz), wurde für die Dauer von einem Jahr ausgesprochen. Die Höchstgrenze, so der Richter, und zwar im doppelten Sinn, denn nach deren Ablauf fällt der Angeklagte nicht mehr unter das Jugendstrafrecht.

Wünschen wir ihm alles Gute!

A.S.