„…und versuche, nicht wieder einzuschlafen.“ Der Gerichtsalltag eines Strafrichters – erster Teil

Der Alltag eines Strafrichters als Einzelrichter am Amtsgericht. Am Dienstag, den 9. April 2019 hatte Richter Andreas Spahn zu drei Verhandlungen geladen, alles drei Jugendsachen, um 09.30 Uhr ging es los – für ihn und die Prozessbeteiligten. Zuschauer und Presse waren nicht zugelassen. Der Angeklagte war unter achtzehn Jahre alt, die Verhandlung war nicht öffentlich.

Strafrichter Andreas Spahn (Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de)

Richter Spahn nahm sich die Zeit für ein kurzes Gespräch. An diesem Verhandlungstag fungierte er als Jugendrichter, welcher als Einzelrichter tätig war. Darüber hinaus nimmt er am Amtsgericht Rudolstadt – Hauptstelle Rudolstadt – noch folgende andere richterliche Funktionen war: Vorsitzender Richter des Jugendschöffengerichts, Einzelrichter im Erwachsenenstrafrecht, Vorsitzender des Schöffengerichts. Zusätzlich ist Herr Spahn auch Ausbilder für den juristischen Vorbereitungsdienst, er wurde von einer Rechtsreferendarin begleitet, sie saß auch neben ihm am Richtertisch. Der 55jährige Andreas Spahn ist seit fünfundzwanzig Jahren Richter, genauso lange ist er Vorsitzender des Jugendfördervereins Saalfeld-Rudolstadt. Als Saalfelder Stadtrat engagiert er sich auch kommunalpolitisch, aber auch darüber hinaus – alle Achtung!

Die zweite Verhandlung begann um 10:30 Uhr. Angeklagt war der  20jährige Lukas M. aus Rudolstadt. Er trug ein verkehrt herum aufgesetztes Basecap und ein Kapuzenshirt, wollte wohl cool aussehen. Ihm wurde vorgeworfen, vor über einen Jahr eine transportable Lautsprecherbox entwendet zu haben. Die Anklage vertrat Frau Anja Schneider, Staatsanwaltschaft Gera. Sie ist Leiterin der Jugendstationen in Gera und Jena. Seine Tat: Eine einfache „Wegnahmehandlung“. Ein paar Jugendliche saßen an einem Spielplatz, hatten reichlich getrunken. Einer hatte die Box mitgebracht, man hörte Musik. Lukas M. nahm zum Schluss die Box mit, er wollte sie haben, um Musik zu hören. Staatsanwältin Schneider war mit ihrer Anklage in zwei Minuten fertig.

Richter Spahn erhob wie üblich die Personalien und belehrte den Angeklagten. Er erklärte, aussagen zu wollen: „Stimmt alles.“ Ein kurzes Geständnis.

Ein Zeuge wurde gehört, der 16jährige Adrian W. Schnell stellte sich heraus, dass er nicht der Eigentümer der Box war, sondern der Besitzer. Er hatte sich die Box nur geborgt. Zeuge und Angeklagter kennen sich. Auf Nachfrage sagte Lukas M., dass seine Freundin die Box noch hat und er sie zurückgeben würde. Sie tauschten auf Anregung des Richters die Handynummern aus. Der Angeklagte versprach, die Box zurückzugeben. Warum dass nicht schon viel eher geschehen war – rätselhaft.

Richter Spahn bemerkte, dass es noch ein weiteres Verfahren gegen Lukas M. gebe, er hatte es kurzfristig von der Staatsanwaltschaft bekommen, zu kurz, um die beiden Anklagen zu verbinden. Er fragte nach, ob man diese Sache gleich mit verhandeln wolle. Angeklagter und Staatsanwaltschaft stimmten zu, diese Sache als Nachtragsanklage zu verhandeln. Richter Spahn übergab die Akte an die Staatsanwältin und sie trug sogleich eine zweite Anklage vor.

Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im sozialen Netzwerk facebook zwei Bilder seiner Ex-Freundin, mit BH bekleidet, eingestellt zu haben. Unter ein Bild schrieb er „Das ist eine H…re“, und unter das zweite Bild „bitch“. Auch diesen Beleidigungsvorwurf gab Lukas M. sofort zu: „Ich hatte Streit mit ihr, ich habe Schluss mit ihr gemacht. Sie ist fremd gegangen.“ Am Rande erwähnt er, dass er mit seiner Ex-Freundin ein gemeinsames Kind hat, acht Monate alt. Er hat kaum Umgang mit seinem Kind. Das veranlasste Richter Spahn zu der notwendigen Feststellung: „Das mit den Bildern hat die Sache mit dem Umgang der Tochter sicherlich nicht erleichtert.“

Die neben der Staatsanwältin sitzende Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe Saalfeld-Rudolstadt erstattet ihren Bericht zum Angeklagten. Sein bisheriges Leben schildert sie als ziemlich schwierig, seine familiären Startbedingungen waren wirklich schlecht. Eine Tante von ihm, sie war bei der Verhandlung anwesend, war seit der Grundschule sein Vormund. Zur leiblichen Mutter hat er erst jetzt wieder Kontakt. Die gesamte Schulzeit über hatte er Probleme, letztlich hat er Mitte der zehnten Klasse die Schule ohne Abschluss abgebrochen. Er war dann beim Kolping-Bildungswerk tätig, aber auch dort gab es Schwierigkeiten. Aktuell lebt er von ALG-II-Geld. Sie schilderte, dass er Crystel konsumiert, nach eigenen Angaben aber damit aufgehört hat. Ein Gutachten des Psychologischen Dienstes der Arbeitsagentur bestätigt ihm, dass er täglich nur drei Stunden arbeiten könne.

Richter Spahn, der ruhig und geduldig zuhörte, war das Zuviel: „Wie kommt denn sowas zustande?“ fragte er nach. „Das weiß ich auch nicht, die haben mich hinbestellt und dann das Schreiben geschickt.“ Eine sachkundige Zuschauerin erklärte es: „Das machen die bei Drogenkonsumenten immer so. Die gehen davon aus, dass sie wegen ihrer Sucht nicht länger am Stück arbeiten können.“

Die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe führte weiter aus, dass gegen Lukas M. bereits zwei Verfahren, einmal wegen eines Betäubungsmitteldelikts, einmal wegen Diebstahls, von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden. Sie schlug vor, bei ihm Jugendstrafrecht anzuwenden und ihn unter Betreuungsaufsicht zu stellen sowie gemeinnützige Arbeit anzuordnen.

Staatsanwältin Schneider begann ihr Plädoyer: „Da bereits zwei Verfahren eingestellt waren, ist es notwendig, dass jetzt angeklagt wird!“ Sie fasste die beiden Sachverhalte kurz zusammen, schloss sich der Meinung der Jugendgerichtshilfe an, dass Jugendstrafrecht anzuwenden sei, weil es sich um ganz „jugendtypische Verfehlungen“ handele. Wenn man als Jugendlicher viel Zeit und Langeweile hat, „da kommt man auf ganz blöde Ideen.“ Da er in beiden Fällen geständig war, beantragte sie ein Jahr Betreuung und Aufsicht gemäß Paragraf 10 Jugendgerichtsgesetz und schlug die Sozialpädagogin Sandra Michelfelder als Betreuungshelferin vor. Wie sich herausstellte, war sie im Saal anwesend, es war die Zuschauerin mit dem sachkundigen Einwurf.

Weiter beantragte sie die Ableistung von 80 Stunden gemeinnützige Arbeit: „Er muss an das Berufsleben und an geregelte Arbeit herangeführt werden.“ Über seinen Tagesablauf wusste sie nichts, das kam auch beim Jugendhilfebericht zu kurz. Richter Spahn: „Das ist ja ganz einfach, da fragen wir ihn mal selbst.“  Zum Angeklagten gewandt: „Was machen Sie so den ganzen Tag?“  Er antwortete etwas verlegen: „Ich stehe früh auf, bringe meine Freundin zum Bus, gehe wieder nach Hause und versuche, nicht wieder einzuschlafen.“  „Was machen Sie da?“ gab der Richter keine Ruhe. Lukas M.: „Computerspielen und so.“ Die Reaktion des Jugendrichters war verständlich: „Dann können Sie auch weiterschlafen!“

Nach kurzer Unterbrechung lautete das Urteil: „Der Angeklagte wird angewiesen, sich für ein Jahr der Betreuung und Aufsicht der Sozialpädagogin Sandra Michelfelder zu unterziehen. Er hat 80 Stunden gemeinnützige Arbeit innerhalb von vier Monaten abzuleisten.“ Der Richter begründete das Urteil kurz und erläutere die Folgen, wenn die Weisungen des Jugendrichters nicht befolgt werden: vier Wochen Jugendarrest in der Jugendarrestanstalt.

Die Zusammenarbeit zwischen Jugendrichter, Jugendgerichtshilfe und der Betreuungshelferin waren beispielgebend. In einem Gespräch nach Verhandlungsende sagte die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe, dass sich die jahrelange Partnerschaft auszahlt. Wenn sie Vorschläge zu Maßnahmen unterbreitet, hat sie dies im Vorfeld bereits mit dem Träger abgesprochen. Deswegen war die Sozialpädagogin auch schon während der Verhandlung anwesend.

A.S.

(09.04.2019 – 09:30 Uhr, Jugendrichter beim Amtsgericht Rudolstadt, Saal 1)