„Rauchen Sie noch?“

Der Vorsitzende Richter beim Amtsgericht Erfurt, Oliver Friedrich, eröffnete die Hauptverhandlung wegen Steuerhinterziehung gegen die 33jährige Angeklagte Ka. K.* nach Aufnahme ihrer Personalien sehr ungewöhnlich. „Rauchen Sie noch?“ fragte er die schwangere Frau, die erwartungsgemäß mit „Nein“ antwortete. Richter Friedrich darauf: „Das ist die beste Prävention!“ Die dahinter steckende Pointe ergab sich erst nach Verlesen der Anklage durch Staatsanwältin Gabriele Decker, Staatsanwaltschaft Erfurt. Sie stellte routiniert den Tatvorwurf dar: Die Angeklagte hatte sich in elf Fällen von einem Herrn O. unversteuerte Zigaretten in erheblicher Menge zusenden lassen und damit Steuerhehlerei nach Paragraf 374 Abgabenordnung, nicht Steuerhinterziehung, begangen.

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Der Zigarettenschmuggel ist aufgrund des Steuersatzes für Tabakwaren bei kriminellen Gruppierungen seit Jahren beliebt und eine lukrative, fortdauernde Einnahmequelle. Tätergruppierungen haben sich daher über Jahre hinweg etabliert und arbeiten zunehmend abgeschottet und professionell. Sie nutzen alle technischen Möglichkeiten, um konspirativ miteinander zu kommunizieren und ihre Straftaten zu verabreden, wie es in einer Bundestagsdrucksache heißt. Von Organisierter Kriminalität zu sprechen, wie die Tabakindustrie, ist aber zu hoch gegriffen. Nicht jede gut organisierte Kriminalität ist bereits Organisierte Kriminalität. Die Zigaretten werden illegal nach Deutschland eingeführt und sind demnach unversteuert und unverzollt. Sie sind in aller Regel gefälscht, das heißt, es wird vorgeben, dass es sich um eine bestimmte (bekannte) Marke handele, diese wird aber nur äußerlich nachgeahmt. Und die Zigaretten sind oft in „illegalen“ Fabriken hergestellt worden, Mindeststandards an Qualität und Arbeitsbedingungen werden häufig nicht eingehalten.

Für die Verfolgung von Steuerstraftaten im Bereich der Tabaksteuer ist die Zollverwaltung zuständig, dort wurden laut einer Kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag 2018 insgesamt 3.826 steuerstrafrechtliche  Ermittlungsverfahren mit Bezug zu Zigaretten eingeleitet. Darüber hinaus wurden 1.108 Verfahren mit Bezug zu illegalen Tabakprodukten, einschließlich Zigaretten, geführt.

In Deutschland sterben allein jedes Jahr mehr als 120.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Die volkswirtschaftlichen Kosten beliefen sich hierzulande auf fast 80 Milliarden Euro im Jahr. Dem stehen 14 Milliarden Euro an Tabaksteuereinnahmen gegenüber. Im Jahr 2017 gingen dem Bundeshaushalt 89 Millionen Euro an Steuereinnahmen durch Zigarettenschmuggel verloren. Die Tabakindustrie nennt bedeutend höhere Zahlen und nutzt das Thema, um sich als legitimer Produzent sicherer Produkte darzustellen. Die Janusköpfigkeit des staatlichen Handelns zwischen Steuereinnahmen, der Gesundheit der Bevölkerung und den Gesundheitskosten ist offensichtlich. Da hilft es auch wenig, dass die Bundesrepublik 2017 die Ratifikation des Tabakschmuggelprotokolls der Weltgesundheitsorganisation beschlossen hat. Die Rolle der Tabakindustrie bleibt durch geschicktes Marketing im Dunkeln.

Doch zurück in den Saal 7 des Erfurter Justizzentrums. Die Staatsanwältin verlas die elf Fälle, in denen die Angeklagte im Zeitraum vom Januar 2015 bis Mai 2016 per Paket jeweils zwischen 25 und 50 Stangen Zigaretten zugesandt bekam. Eine Stange Zigaretten enthält 10 Schachteln, eine Schachtel enthält 20 Zigaretten. Die Angeklagte hat per WhatsApp bei ihrem „Lieferanten“ jeweils die gewünschte Sorte und die Anzahl der Stangen bestellt, er hat den Preis dafür benannt. Sie hat diesen Betrag auf dessen Konto überwiesen, dann kam das Paket an. Die Angeklagte soll dies gewerbsmäßig betrieben und so einen Teil ihres Lebensunterhalts bestritten haben.

Ihre Verteidigerin, Frau Susan Rechenbach-Auerswald, erklärte, dass ihre Mandantin Angaben machen würde. Sie räumte die Tathandlungen ein, die Anzahl der bestellten Waren stimmt aber nicht genau. Die Angeklagte hat bereits eine Steuerschuld für Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer von 15.048,20 Euro sowie zirka 7.800 Euro Zoll als Einfuhrgebühr beglichen. Um das schnell begleichen zu können, hat sie Darlehen aufgenommen, welche sie in großen Teilen bereits tilgte. Die Verteidigerin verlas aus einem Schreiben, in welchen die genauen Mengen der bestellten und gelieferten Stangen Zigaretten aufgelistet waren. Insgesamt ergab sich nur eine kleine Differenz zur Liste der Staatsanwaltschaft. Der Angeklagten war aber wichtig: „Ich habe die Zigaretten nicht gewinnbringend verkauft, sondern an Freunde und Bekannte für den Preis weiterkauft, für den ich sie selbst kaufte. Das war so eine Art Sammelbestellung, jeden Monat. Die Stange kostete aber 28 Euro, und nicht 25!“ Richter Friedrich fragte nach: „Und wieviel haben Sie selbst verbraucht?“ Frau Ka. K.: „Sechs Stangen im Monat.“ Zwei Schachteln Zigaretten pro Tag, na ja.

Aufgrund des Geständnisses konnten die geladenen Zeugen aus Dresden und Köln, vermutlich Zollbeamte, die mit dieser Sache betraut waren, entlassen werden. Auch Herr O., der „Lieferant“, war geladen. Er wurde ebenfalls nicht gehört – schade. Nun hatte das Gericht jedoch die Aufgabe, detailliert zu jeder Lieferung den Zoll, die Einfuhrumsatzsteuer sowie die Tabaksteuer entsprechend der Liste der Verteidigerin neu auszurechnen. Richter Friedrich tat dies mit bewundernswertem Gleichmut, ein Taschenrechner und die Schöffinnen halfen ihm. Die Staatsanwältin rechnete von ihrem Platz mit: „Gut, dass ich als Leistungskurs Mathe hatte.“ Der Gesamtschaden: 18.204,88 Euro.

Bevor die Beweisaufnahme abgeschlossen wurde, verlas der Vorsitzende Richter noch einige Schreiben. Das Zollkriminalamt Köln hat das Herkunftsland der Zigaretten bestimmt – Weißrussland. Dann ein Bericht des Zollfahndungsamtes Dresden; nun wurde der Fall klarer. Der „Lieferant“, Herr O., wurde von der Bundespolizei und vom Zoll in Görlitz festgenommen, weil sich im Kofferraum seines PKW illegale Zigarettenstangen befanden. Im Zuge der weiteren Ermittlungen wurden seine Handy-Daten ausgewertet: Die Beamten erhellten einen regen Zigarettenhandel zwischen ihm und seinen Abnehmern. Unter den WhatsApp-Namen „Kippen-Ka…“ war eine Handy-Nummer gespeichert, welche der Angeklagten zugeordnet werden konnte. So begannen die Ermittlungen, welche vor dem Amtsgericht Erfurt ihr vorläufiges Ende fanden.

Richter Friedrich gab einen rechtlichen Hinweis: „Ein gewerbsmäßiger Handel scheint aus heutiger Sicht nicht der Fall gewesen zu sein!“  Die Staatsanwaltschaft war damit einverstanden. Frau Deckert plädierte für eine Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Monaten, welche zu einer 3jährigen Bewährungszeit ausgesetzt werden könne. Eine Geldbuße von 600 Euro zugunsten eines gemeinnützigen Vereins hielt sie als Auflage für angemessen.

Die Verteidigerin wies in ihrem engagierten Plädoyer daraufhin, dass die Angeklagte im gesamten Verfahren von Beginn an, auch im vorgelagerten Steuerverfahren, geständig und kooperativ war. Die monatlichen Sammelbestellungen waren für sie selbst und für Freunde und Arbeitskollegen. „Für sie hält sie jetzt den Kopf hin.“ Weiter macht die Verteidigung geltend, dass die Steuerschuld bereits bezahlt sei, sogar mehr, als sie eigentlich müsste. Sie hat sich dafür verschuldet, um die Schulden abzubezahlen, hat sie einen zweiten Job angenommen. Weiter zu Gunsten ihrer Mandantin spräche, dass sie seit vielen Jahren bei einem angesehenen Arbeitgeber einen geachteten Arbeitsplatz habe. Sie fände es als Reaktion ausreichend, wenn die Angeklagte zu 90 Tagessätzen á 56 Euro verurteilt werden würde.

Das Schöffengericht zog sich, wie Richter Friedrich ankündigte, „zu einer kurzen Beratung zurück.“ Daraus wurden 45 Minuten. Ganz offensichtlich war es doch schwieriger geworden, ein Urteil zu finden, welches der Tat und den konkreten Umständen gerecht wurde. In der Pause war nebenbei zu erfahren, dass der „Lieferant“ und Haupttäter in dieser Sache – vom Einzelrichter des Amtsgerichts Görlitz – zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt wurde – auf Bewährung.

Oliver Friedrich verkündete das Urteil: Drei Monate Freiheitsstrafe, welche zu drei Jahren Bewährung ausgesetzt wurde. Als eine Auflage wurde eine Geldbuße von 2.500 Euro ausgesprochen. Er begründete unter anderen: „Die Meisten leiden unter den Steuerschulden nicht so sehr. Sie waren an einer schnellen und vollständigen Rückzahlung interessiert.“ Der Vorsitzende Richter zeigte, dass sich das Schöffengericht die Entscheidung nicht leicht machte: „Es wäre gleichzeitig möglich gewesen, höher zu gehen. Wir wollen Ihren Lebensweg nicht weiter verbauen.“ Hintergrund dieser Aussagen war die Tatsache, dass die ausgesprochene Strafe nicht in einem Führungszeugnis erscheint. Die Verteidigerin hatte entsprechend plädiert, Staatsanwaltschaft und Gericht hatten gemeinsam im Bundeszentralregistergesetz nachgesehen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

*Name geändert

A.S.

(16.04.2019 – 09:00 Uhr, Schöffengericht beim Amtsgericht Erfurt, Saal 7)