Mord.

Der Angeklagte mit seinem Anwalt. Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Strafprozesse wegen Mordes sind (zum Glück) selten. Der Paragraf 211 Strafgesetzbuch umfasst den strafverschärfenden Tatbestand eines Tötungsdeliktes nach sogenannten Mordmerkmalen: Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder sonstige niedrige Beweggründe, Heimtücke, Grausamkeit, die Verwendung gemeingefährlicher Mittel oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken (Verdeckungsmord). Liegt kein Mordmerkmal vor, handelt es sich um Totschlag (Paragraf 212 Strafgesetzbuch).

Der Psychologe und Kriminologe Rudolf Egg sieht in der Tötung menschlichen Lebens keine bloße Normverletzung, sondern den Bruch eines zentralen gesellschaftlichen Tabus: Wer einen anderen Menschen tötet, überschreitet damit eine letzte Grenze transkulturell geltender Regeln.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für Thüringen waren 2018 vierzehn Morde erfasst, davon elf Versuche. Das sind zirka 0,1 Prozent der Gesamtkriminalität. In den letzten Jahren waren es durchschnittlich zehn Morde, davon waren durchschnittlich sechs Taten vollendet. Die Aufklärungsquote ist regelmäßig hoch, zwischen 85 und 100 Prozent. Naturgemäß erfasst die PKS nur das Hellfeld, also die den Strafverfolgungsbehörden bekannt gewordenen Fälle. Dunkelfeldforschungen gehen davon aus, dass auf jedes erfasste Tötungsdelikt zwei bis drei unerkannte Tötungsdelikte entfallen!

Eine wesentliche Ursache dafür ist, dass die in Deutschland praktizierte Leichenschau einer ihrer Hauptaufgaben, nämlich der Aufdeckung nicht-natürlicher Todesfälle, nur unzureichend nachkommt („Misere der ärztlichen Leichenschau“). Meist handelt es sich um Fehler bei der ärztlichen Leichenschau, in denen Tötungen irrigerweise als natürliche Todesfälle eingestuft wurden. Auch die Polizei hat daran einen gewissen Anteil: mangelnde kriminalistische Kenntnisse und unzureichende Spezialisierung sind hier ursächlich.

Auch langjährig Vermisste zählen zum Dunkelfeld, wenn sie getötet wurden, die Leiche aber unentdeckt blieben, aber nicht wegen eines Tötungsdeliktes ermittelt wurde.

Einer dieser Fälle wurde als einer der spektakulärsten Fälle der Thüringer Kriminalgeschichte bezeichnet. Das zeigt das enorme öffentliche und insbesondere mediale Interesse an Tötungsdelikten.

Die 6. Strafkammer des Landgerichts Erfurt hatte am 10.10.2019 einen Teil eines Falls zu behandeln, der mehrfach in die Vergangenheit führt, aber auch ansonsten außergewöhnlich war und noch immer ist: Ursprünglich war dieser Strafprozess wegen Mordes vor der 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt verhandelt worden. Für Tötungsdelikte ist nach Geschäftsordnung eigentlich die 1. Große Strafkammer als Schwurgericht zuständig. Jedoch war einer der Angeklagten zum Tatzeitpunkt noch Heranwachsender nach dem Jugendgerichtsgesetz, sodass die 2. Strafkammer als große Jugendstrafkammer zuständig war. Dieser Angeklagte – Sören K.  – war zum Tatzeitpunkt zwanzig Jahre alt, zur Verhandlung kam es aber erst ab dem Jahre 2014, da war er bereits 41 Jahre alt. Er wurde zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt, er ist immer noch in Haft. Diese kuriose Konstellation ist eher selten. Da Mord nie verjährt, finden auch nach langer Zeit Strafprozesse statt.

Im vorliegenden Fall wurde der Mord 1994 verübt! Nicht nur die lange Zeit zwischen Tat und dessen Aufklärung sind ungewöhnlich. Es ist auch der Tatort. Der Mord wurde in Tschechien verübt. Damit aber nicht genug. Es war ein gemeinschaftlich begangener Mord, an dem insgesamt sechs (!) Männer beteiligt waren.

Der Strafprozess dauerte fast zwei Jahre, von 2014 bis 2016. Angeklagt waren aber nur vier Tatbeteiligte. Zu den damaligen Tätern gehörte auch der Mitgeschäftsführer des gemeinsamen Unternehmens, der sich wenige Wochen nach der Tat das Leben nahm. Er hinterließ einen Abschiedsbrief. Dieser führte letztendlich zur Aufklärung der Tat. Ein anderer Mittäter war ein Jahr nach der Tat bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Das Mordopfer, damals 20 Jahre alt, hatte einen Musik- und Bekleidungsgeschäft in Erfurt eröffnet. Die Täter waren seine Angestellten. Am Dienstag, den 13. September 1994 fuhren sie mit zwei PKW – insgesamt sieben Männer – nach Tschechien, sie hatte das spätere Opfer Mario G. zu einem Ausflug überredet. Der Tathergang und das Motiv waren in der erstinstanzlichen Verhandlung nicht genau zu klären. Der Vorsitzende Richter der 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt, Holger Pröbstel, fasste damals aber zusammen, dass die Männer um den Haupttäter Marco St. erst mit einem Tonfa und dann mit großen Steinen auf ihr Opfer einschlugen, bis er leblos liegen blieb. Dann verbrannten sie ihn am lebendigen Leibe in einem Waldstück zwischen Karlsbad und Sokolov in der Annahme, er sei bereits tot.

Marco St. wurde am 2. Juni 2016 vom Landgericht Erfurt wegen gemeinschaftlichen Mordes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung mit Todesfolge zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Jens V. erhielt wegen gemeinschaftlichen Mordes dreizehn Jahre Freiheitsstrafe. Während der Haupttäter schwieg, sagte Jens V. umfassend aus, bestätigte und ergänzte mit seinen Aussagen den Inhalt des Abschiedsbriefes, den kriminaltechnischen Befunden und ermöglichte so die Schuldsprüche. Der vierte Angeklagte wurde von der 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt freigesprochen, seine Beteiligung an der Tat beschränkte sich nach Ansicht des Gerichtes auf das Fahren eines Autos, die anderen Taten waren verjährt.

Die Angeklagten Marco St. und Jens V. gingen in Revision. Beide hatten den gleichen Revisionsgrund: Sie rügten, ihre Angaben seien unverwertbar, weil sie  entgegen Paragraf 136 Absatz 1 Satz 3 Halbsatz 2 Strafprozessordnung alte Fassung  (jetzt: § 136 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 StPO) im  Rahmen  ihrer  polizeilichen  Vernehmungen nicht darüber belehrt worden seien, dass ihnen unter den Voraussetzungen des Paragraf 140 Absatz 1 und 2 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt werden könnte.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat mit Beschluss vom 6. Februar 2018 die Revision von Marcus St. verworfen. Er stellte fest, „dass das staatliche Verfolgungs-und Aufklärungsinteresse – wie  hier – bei  einem  Tötungsdelikt  besonders  hoch  ist,  die  Belehrung nicht bewusst oder willkürlich, sondern aus Unkenntnis der Vernehmungsbeamten  über  die  Neuregelung  unterblieben  ist  und  damit  der  festgestellte  Verstoß von  geringerem  Gewicht  ist.  Zudem  fehlen jegliche  Anhaltspunkte  für  die  Annahme,  die  Angeklagten hätten im Rahmen ihrer ersten Vernehmung Angaben zur Sache gemacht,  weil  sie  mangels  wirtschaftlicher  Mittel  keine  Möglichkeit  gesehen  hätten,  sich  eines  Verteidigers  zu  bedienen.“

Der Bundesgerichtshof stellte weiter fest, dass es beim erstinstanzlichen Verfahren gegen Jens V. unterblieben ist, die Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe zu prüfen. Er hob das Urteil des Landgerichts Erfurt auf, soweit eine Entscheidung über die Bildung einer Gesamtstrafe unterblieben ist. Jedoch ist dem Beschluss zu entnehmen, dass dieser Rechtsfehler nicht zur Aufhebung der Freiheitsstrafe zwingt. „Denn die noch nachzuholende Prüfung des Paragraf 55 Strafgesetzbuch wirkt sich – unabhängig von ihrem Ergebnis – auf deren Höhe nicht aus.“ Damit stand bereits vor Verhandlungsbeginn fest, dass es allein nur um die juristische Frage der nachträglichen Prüfung der Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe ging, es aber bei der Verurteilung zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe bleiben würde.

Die Verhandlung fand im Saal 1.12 des Erfurter Landgerichts statt. Die Vorsitzende Richterin am Landgericht Sabine Rathemacher begann auch die Verhandlung mit dem Verlesen des Beschlusses des Bundesgerichtshofs. Der Angeklagte Jens V. wurde aus der Justizvollzugsanstalt Tonna vorgeführt, dort sitzt er seit seiner Verhaftung 2012 als Untersuchungshäftling, da das Urteil durch das eingelegte Rechtsmittel noch nicht rechtskräftig war. Er wurde von Rechtsanwalt Stephan Rochlitz vertreten. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Martin Scheler, seit über zwanzig Jahren bei der Staatsanwaltschaft Erfurt Dezernent für Kapitalverbrechen.

Danach erteilte die Vorsitzende der Verteidigung das Wort. Der Angeklagte erhob sich und erklärte, an das Gericht gewandt: „Ich möchte Sie inständig bitten, den Gutachter Leichsenring, der mich in der JVA betreute, anzuhören. Ich bin jetzt 47 Jahre alt und habe mein halbes Leben hinter mir. Ich hab Vieles falsch gemacht, habe mit den falschen Leuten verkehrt und will neu anfangen. Um ein neues Leben zu beginnen, brauch ich professionelle Hilfe. Ich bitte Sie, Herrn Leichsenring anzuhören.“

Diese Erklärung verwunderte, da ja die zur Debatte stehende Rechtsfrage eine ganz andere war. Klar wurde aber, warum am Tisch der Anklage Wulf Ingo Leichsenring, ein Jenaer Facharzt für Psychiatrie, saß, der häufig als Gutachter in Strafprozessen auftrat. Auf wessen Geheiß er an der Verhandlung teilnahm, stellt sich später heraus: Das Gericht hatte ein Gutachten zu Jens V. bezüglich der Schuldfähigkeit in Auftrag gegeben. Warum, das blieb bis zum Schluss der Verhandlung unklar und war Streitpunkt zwischen Verteidigung und Gericht.

Die Vorsitzende verwies erst einmal in ihrer Erwiderung auf die Rechtslage, hatte auch in gewisser Weise Verständnis, das dies nicht jeder Laie verstehen müsse. Aber, so die Vorsitzende, ging es nun mal nicht um den Schuldspruch und die Höhe der Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren, das stünde nach dem BGH-Beschluss fest. Sie stellt nochmals dar, dass es nur um die Prüfung der Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe ginge.

Die Verteidigung ergriff das Wort, sprach von einem schwer zu verstehen Beschluss des BGH, der näher ausgelegt werden müsse. Er stellt auch fest, dass unzweifelhaft der Schuldspruch seines Mandanten feststehe, jedoch ist bezüglich der Höhe der Strafe durch den BGH-Beschluss die Prüfung dazu eröffnet. Um dies zu ermöglichen, wären die Strafzumessungskriterien zu prüfen, und dazu wäre es seiner Meinung nach unerlässlich, den anwesenden Gutachter anzuhören. Rechtsanwalt Rochlitz sprach von „einer vollkommen diffusen Rechtsauffassung des BGH“ und schloss sich der Bitte seines Mandanten an, das Gutachten zu verlesen und Herrn Leichsenring anzuhören.

Staatsanwalt Scheler machte es kurz: „Der Angeklagte ist voll schuldfähig verurteilt und jetzt den Paragrafen 21 zu prüfen, das geht nicht.“ Er sprach dann den Verteidiger direkt an: „Das hätten Sie in der ersten Instanz versuchen können, das haben Sie nicht gemacht. Sie hatten sich darauf versteift, dass die Aussagen nicht verwertet dürfen. Das war höchst riskant, war aber Ihre Entscheidung. Jetzt können sie den Paragraf 21 nicht mehr prüfen lassen!

Die Vorsitzende Richterin verlas anschließend den Auszug des Bundeszentralregisters zum Angeklagten, das dauerte fast eine Viertelstunde. Es enthielt insgesamt 27 Einträge, seit 1995 lagen gegen den Jens V. eine Vielzahl von rechtskräftigen Verurteilungen quer durch das Strafgesetzbuch vor, einschließlich mehrerer Freiheitsstrafen. Mehrfach wurden aufgrund der schnellen Abfolge der Strafprozesse durch verschiedene Gerichte in Thüringen und darüber hinaus Gesamtstrafen gebildet, auch nachträglich. Da war es nur zu verständlich, dass bei dem Mordprozess der Fehler unterlief, diese Prüfung nicht auch ausdrücklich ins Urteil zu schreiben.

Bezüglich einer möglichen nachträglichen Gesamtstrafenbildung stellte das Gericht fest: Alle Strafen sind verbüßt und vollstreckt, nichts ist mehr offen. Das hatte auch die Aktenlage bei der Erstinstanz schon bewiesen, es stand halt bloß nicht im schriftlichen Urteil.

Was hier nicht zur Sprache kam, dem Zuhörern aber auffiel: Der Mord wurde 1994 verübt. Er wurde erst viele Jahre später aufgeklärt. Jens V. aber hat aber in dieser Zeit unverdrossen eine Vielzahl von Straftaten begangen und die ganzen Jahre im Bewusstsein gelebt, gemeinsam mit seinen Mittätern einen Menschen umgebracht zu haben.

Die Kammer zog sich dann zu einer Beratung zurück. Nach der kurzen Unterbrechung verkündete Frau Rathemacher: Das Gericht bleibt bei seiner ursprünglichen Meinung. Es besteht kein Raum für die Anhörung eines Gutachters.

Rechtsanwalt Rochlitz beantragte daraufhin eine halbstündige Unterbrechung, um einen Beweisantrag vorzubereiten. Dies wurde ihm gewährt. Nach dieser zweiten Unterbrechung verlas er seinen Beweisantrag: Da die medizinischen Voraussetzungen des Paragrafen 21 und 64 Strafgesetzbuch vorliegen, beantragte er, den Gutachter als sachverständigen Zeugen zu hören.

Staatsanwalt Martin Scheler machte es wieder kurz und trocken: Der Beweisantrag sei abzulehnen, weil ohne Bedeutung. Der BGH habe die Sache nur zurückverwiesen, um die nachträgliche Prüfung einer Gesamtfreiheitsstrafe zu prüfen!

Die Vorsitzende gab vor einer erneuten Unterbrechung noch mit auf dem Weg („Habe ich zu Beginn vergessen.“), dass das Landgericht Erfurt im Urteil vom 2. Juni 2016 zum Zustand des Angeklagten zur Tatzeit am 13./14. September 1994 festgestellt hat: „Keiner der Angeklagten war zum Tatzeitpunkt körperlich oder geistig beeinträchtigt.“

Nach der erneuten Beratung verkündete das Gericht den Beschluss: Der Antrag der Verteidigung wird zurückgewiesen. Die bekannten Gründe wurden erneut verlesen. Sodann wurde die Beweisaufnahme fortgesetzt. Staatsanwalt Scheler sah es zweifelsfrei als erwiesen an, dass alle Strafen vollstreckt und verbüßt waren und eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung nicht erforderlich sei. Herr Scheler bewies ein Sinn für Kurioses und erinnerte daran, dass der Haftbefehl gegen den Angeklagten vom 10.10.2014 stammte, auf den Tag genau vor fünf Jahren.

Der Verteidiger sagte dazu Garnichts, erläuterte aber seine Probleme mit dem BGH-Beschluss und mit der Tatsache, dass das Gericht Herrn Leichsenring beauftragt hatte, für diese Verhandlung ein Gutachten zu erstellen, um dann in der Verhandlung das Gutachten nicht zuzulassen.

Das zu erwartende Urteil: Eine Gesamtstrafenbildung ist nicht erforderlich, das Urteil der ersten Instanz wurde bestätigt, die Untersuchungshaft des Angeklagten wird aufrecht erhalten.  Die Vorsitzende Richterin ging in der Urteilsbegründung nur indirekt auf die Probleme ein. Auch sie bezeichnete den BGH-Beschluss als „sicherlich schwer zu verstehendes Urteil“. Das Gutachten, so die Richterin, „war umsonst, ist aber vor einem Jahr beauftragt worden, da war dem Gericht die Rechtslage noch nicht so klar.“ Die Kosten des Verfahrens trägt der Angeklagte, die Kosten für das Gutachten die Staatskasse. Die Vorsitzende faste nochmals zusammen, dass das Gericht in der Erstinstanz „versäumt habe, die Vollstreckung der früheren Verfahren im Urteil zu erwähnen. Aber, dort wo gearbeitet wird, passieren auch Fehler.“

Zum Angeklagten gewandt, sagte sie: „Ob sie nach fünf Jahren aus dem Status des U-Häftlings herauskommen, um – wie Sie zu Beginn sagten – einen neuen Abschnitt zu beginnen, das liegt jetzt auch an Ihnen.“

Damit bezog sie sich natürlich auf eine mögliche Rechtskraft des jetzigen Urteils. Es steht aber zu befürchten, dass sein Verteidiger erneut in Revision geht, umsonst hat er den förmlichen Beweisantrag nicht gestellt, wohl wissend, dass es abgelehnt wird.

(10.10.2019 – 09:00 Uhr, 6. Strafkammer des Landgerichts Erfurt, Saal 1.21)

A.S.