Nachdem der Direktor des Amtsgerichts Apolda letzte Woche in der 9-Uhr-Verhandlung bereits durch Lesen der Akte große Erfahrung unter Beweis stellte, war ab 10 Uhr seine Menschenkenntnis gefragt. Die Anklage vertrat wieder Staatsanwalt Börries Glanz, Frau Rechtsanwältin Caroline Vinz verteidigte den 56jährigen Sascha F. Der Angeklagte wurde aus der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben vorgeführt. Er war nur an den Händen gefesselt, auf die sonst obligatorischen Fußfesseln verzichteten die Beamten. Die Handfesseln wurden sofort bei betreten des Gerichtssaals entfernt. Der darauf angesprochene Beamte: „Wir kennen ihn gut, der haut nicht ab!“ Der Angeklagte hatte kurz geschnittenes dunkles volles Haar und trug einen weißen Kinnbart. Er wirkt friedlich, gemütlich, ruhig. Der Tatvorwurf: Erschleichen von Leistungen, auch Beförderungserschleichung genannt, umgangssprachlich als Schwarzfahren bezeichnet.
Über das Schwarzfahren
Dieses Delikt ist sowohl kriminologisch als auch kriminalpolitisch vom besonderen Interesse. Es gehört zu den sogenannten Bagatelldelikten. In Deutschland wurden laut Polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 213.443 Fälle registriert, das sind 3,8 Prozent der Gesamtkriminalität. 89,6 Prozent dieser Fälle haben einen Einzelschaden von unter 50 Euro, deswegen Bagatellkriminalität. Zusammen mit Ladendiebstahl und Tankbetrug gehört die Leistungserschleichung zu den Massendelikten. Diese drei Delikte haben noch andere Gemeinsamkeiten: Sie weisen einen geringen Versuchsanteil auf – bei Leistungserschleichung 0,2 Prozent. Das liegt daran, dass es sich um sogenannte Kontrollkriminalität handelt, ohne Fahrscheinkontrolle gibt es keine Delikte, wer erwischt wird, hat die Straftat bereits vollendet. In der kriminalpolitischen Diskussion sind Leistungserschleichungen häufig Thema, meist geht es um Entpönalisierung, das bedeutet, das immer wieder Vorschläge eingebracht werden, diese Straftaten nur noch als Ordnungswidrigkeit zu ahnden.
Für die Polizeiliche Kriminalstatistik sind derartige Delikte immer von Interesse: Ohne viel Arbeit zählt jede vom Beförderungsunternehmen eingegangene Anzeige als aufgeklärter Fall. Dabei ist gerade hier die Leistung der Polizei zur Aufklärung vergleichsweise gering, wie auch bei Ladendiebstählen. Die Täterpersonalien werden gleich mitgeliefert, die meist eindeutige Beweislage dokumentiert. Der Kontrolleur ist zugleich der einzige Zeuge.
Richter Behlau eröffnete die Hauptverhandlung, indem er auf die vor ihm liegende Akte verwies: „Ein Drittel ist Sachakte, zwei Drittel dokumentieren die Schwierigkeiten einen Termin zu finden. Sie waren erst in Tonna, sind jetzt in Hohenleuben?“ Das bestätigte Sascha F. und berichtet nach Anfrage aus seinem Leben. Er ist ledig, hat aber zwei Kindern, der 15jährige Sohn lebt bei seinen Eltern, die 5jährige Tochter bei einer Pflegefamilie in Norddeutschland. Er ist seit 2012 überwiegend ohne Arbeit, zu diesem Zeitpunkt war seine Lebensgefährtin verstorben. Er selbst hatte bereits drei Schlaganfälle, 2013, 2017 und 2018. Er hat im Herbst 2015 für sich eine rechtliche Betreuung beantragt, diese wurde im Januar 2016 vom Amtsgericht Apolda angeordnet. Der damalige Richter: Herr Behlau. Der Angeklagte ist geschäftsfähig, die Betreuung umfasst die Vermögenssorge, den Umgang mit Behörden, bei Wohnungsangelegenheiten sowie neueren Datums auch die Gesundheitssorge. Die rechtliche Betreuerin war auf Bitte von Richter Behlau als Zuschauerin im Gerichtssaal anwesend.
Der Schaden
Staatsanwalt Glanz verlas die Anklage: Sascha F. wurden acht selbstständige Handlungen der Leistungserschleichung gemäß Paragraf 265 a Strafgesetzbuch zur Last gelegt. Er soll zwischen dem 27. Dezember 2017 und 22. Januar 2018 acht Mal mit Zügen der DB Regio AG gefahren sein, ohne jeweils einen gültigen Fahrausweises zu haben. Dabei entstand ein Schaden von 119,40 Euro, der kleinste Betrag war 5,60 Euro, der höchste 34,60 Euro. Der Angeklagte hatte sich im Zwischenverfahren, so Richter Behlau, in mehreren Briefen aus Tonna an ihn gewandt, hat alle Taten zugegeben. Eigentlich sollte die Verhandlung bereits im Dezember 2018 stattfinden, zu diesem Zeitpunkt ist der Angeklagte aber nach Hohenleuben verlegt worden.
Richter Behlau wandte sich direkt an den Angeklagten „Aus der Akte ist nicht ersichtlich, warum Sie mit der Bahn fahren?“ Sascha F.: „Wenn ich in Richtung Norden gefahren war, wollte ich zu meiner Tochter, die darf ich ein Mal im Monat für eine Stunde sehen. In Richtung Osten zu meiner Lebensgefährtin, die wohnt in Aue.“ Der Richter fragte weiter: „Wie viel Geld haben Sie zur Verfügung?“ Der Angeklagte: „Ich bekomme von Frau N. (die rechtliche Betreuerin) wöchentlich 40 bis 50 Euro. Davon kaufe ich Essen und etwas zu Trinken.“ Der Richter mit wirklichem Interesse: „Mit welchen Gefühl steigen Sie in den Zug, wenn Sie keine Fahrkarte haben?“ Darauf wollte der Angeklagte nicht antworten, schließlich erwiderte er lapidar: „Mal klappt’s, mal klappt’s nicht.“ Das zeigte zumindest, dass er neben den verhandelten Fällen noch mehr schwarz gefahren war, aber nicht erwischt wurde. Es zeigt aber auch sein geringes Unrechtsbewusstsein.
Der Bundeszentralregisterauszug, verlesen von Richter Behlau: Er hat seit 1998 zehn Eintragungen, alle wegen Leistungserschleichung! Waren es in den ersten Jahren noch wenige Fälle, steigerte es sich: Im November 2015 wurde er wegen 21 Fällen des Schwarzfahrens vom Amtsgericht Gera zu einem Jahr und sieben Monaten Bewährung verurteilt, im Februar 2017 vom Amtsgericht Weimar wegen 31 Fällen der Leistungserschleichung zu einem Jahr ohne Bewährung. Der Richter dazu: „Was auch immer Grund war, die Höchststrafe auszusprechen…“ Gegen das Geraer Urteil legte Sascha F. Berufung ein, diese wurde verworfen. Richter Behlau: „Die Tinte des landgerichtlichen Urteils war noch nicht trocken, da ging es wieder auf Fahrt!“ Zwischenzeitlich, so der Richter weiter, sind ein paar Fälle nach Paragraf 154 eingestellt worden.
Wie soll es weiter gehen?
Der Richter las aus der Betreuungsakte des Angeklagten, deutlich wurde hier das Bild eines Menschen, der nur bedingt den Alltag selbstständig meistern kann. Permanente Probleme und Sorgen, um Geld, die Wohnung, den Unterhalt, das Sorgerecht haben ihn veranlasst, sich betreuen zu lassen. Das ärztliche Gutachten erstellte sein Hausarzt, ein Internist. Er bestätigte auch seine Schlaganfälle. Ein kranker 56 Jahre alter Mann, der älter wirkt, nur eingeschränkt lebenstüchtig ist und notorisch schwarz mit der Eisenbahn fährt. Staatsanwalt Glanz fragte ihn: „Wie soll es weitergehen?“ Der Angeklagte: „Es muss sich etwas ändern.“ Das klang nicht überzeugend. Wenn er wieder aus dem Gefängnis raus ist, so der Angeklagte, wolle er zu seiner Freundin nach Aue ziehen. Da würde der eine Grund zum Schwarzfahren wegfallen. Er ist zu 60 Prozent schwerbeschädigt, sie ist auch schwerbeschädigt. Beide würden versuchen, kostengünstiger an Fahrkarten für die Bahn zu kommen, damit er seine Tochter besuchen könne. Und er wolle sich mit Fahrradreparaturen etwas dazu verdienen. Das klang zwar recht gut, wirkte aber wie auswendig gelernt.
Richter Behlau machte sich auch mehr Sorgen um das danach. Mehrfach fragte er bei seiner rechtlichen Betreuerin nach. Sie war über seine Situation gut informiert. Wie viel Schulden er konkret hat, konnte sie aber auch nicht sagen. Es kommt immer wieder diesbezüglich Post. Die Bahn erhebt nach den Beförderungsbedingungn neben der erstatteten Anzeige auch eine sogenannte Fahrpreisnacherhebung, das ist teurer als die Fahrkarte selbst. Bevor er in Haft kam, hatte er längere Zeit seine Post nicht geöffnet, sich um seine Angelegenheiten nicht gekümmert. Sie gab ihm auch mehrfach Geld für Fahrkarten, das er aber für andere Sachen nahm. Er hat, so sagte sie, noch seine eigene Wohnung in Apolda, die wolle man ihm auch während der Haft erhalten, dafür wolle sie weiter sorgen. Richter Behlau: „Häufig ist es ein Problem, die Leute kommen raus und stehen vor dem Nichts.“ Das wäre bei Sascha F. nicht der Fall. Bei der Betreuerin war heraus zu hören, dass nicht alle Angaben, die er vor Gericht machte, stimmten. Besonders zu der Häufigkeit des Bahnfahrens („Manchmal fährt er mehrfach die Woche!“).
Der Richter schaute im Vollstreckungsplan nach, im günstigsten Fall würde der Angeklagte im März 2020 aus der Haft entlassen. Wenn er alles absitzen müsse, würde er im Juli 2021 wieder in Freiheit sein. „Das ist aber alles im Fluss, wegen Widerruf et cetera.“Der Staatsanwalt plädierte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten. Zu seinen Gunsten sprächen sein Geständnis und die schwierige persönliche Situation. Zu Ungunsten müssten die vielen einschlägigen Vorstrafen berücksichtigt werden. Herr Staatsanwalt Glanz sinnierte über den Fall: „Es entstehen Kosten für die Haft in Höhe von täglich 100 Euro, es entstand ein Schaden durch die Leistungserschleichungen. Ich weiß nicht mehr, ob hier eine Freiheitsstrafe wirklich hilft.“ Aber auch die Verteidigerin plädierte für eine sechsmonatliche Freiheitsstrafe.
Die Wirkung
Richter Behlau: „Dann werde ich die Sache zu Ende bringen.“ Er schrieb den Urteilssatz und verlas ihn: Sechs Monate Freiheitsstrafe. Er begründete: „Bewährung ist für ihn ein abstraktes Wort ohne Bedeutung.“
Die Höchststrafe für Leistungserschleichung beträgt ein Jahr Freiheitsstrafe. Diese war bereits gegen den Angeklagten ausgesprochen worden. Zusammen mit anderen Bewährungsstrafen, die widerrufen waren, sitzt er jetzt über drei Jahre in Haft. Seine Gesellschaftsgefährlichkeit ist gleich null. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft standen vor der schweren Aufgabe, eine Strafsanktion für einen notorischen Schwarzfahrer zu finden. Einen Schwarzfahrer, der trotz seiner schwierigen Lebenssituation keine anderen Straftaten begangen hat. Einen Schwarzfahrer, der krank ist, dessen Lebenstüchtigkeit sehr eingeschränkt ist. Wäre ein anderes Urteil wünschenswert gewesen? Ich glaube ja. Gäbe es einen Weg dorthin? Eine psychiatrische Begutachtung des Angeklagten hätte vielleicht eine verminderte Schuldfähigkeit ergeben.
(04.06.2019 – 10:00 Uhr, Amtsgericht Apolda, Verhandlungssaal 51)
A.S.