Eine Gerichtsreportage mit einem Zitat zu beginnen, dass nicht aus der öffentlichen Hauptverhandlung stammt, mag ungewöhnlich erscheinen. Dieser bemerkenswerte Satz vom Staatsfeind Nummer 1 stammt vom 42jährigen Angeklagten Tino M., eines seit vielen Monaten vom Dienst suspendierten Kommissars der Polizeiinspektion Weimar. Er sagte es in einer Verhandlungspause, als er, begleitet von seinem Verteidiger, an den zahlreich erschienen Interessierten, vorbei ging.
Dieser Satz sagt viel über das Selbstverständnis eines Angeklagten aus, der als Polizeibeamter wegen 32 selbstständigen Fällen des Verrates von Dienstgeheimnissen gemäß Paragraph 353b Strafgesetzbuch und drei Fällen der Bestechlichkeit gemäß Paragraph 332 Strafgesetzbuch angeklagt war. Zu seinem Verständnis als Polizeibeamter im Allgemeinen und seiner Sicht zu den Tatvorwürfen war in den vier Verhandlungstagen viel zu hören. Das hat auch mit dem zitiertem Satz zu tun. Was geht in einem Menschen vor, der sich – offensichtlich zu Unrecht – als „Staatsfeind Nummer 1“ sieht und dies öffentlich und provokant kommuniziert? Vergleicht sich der Angeklagte mit dem Rechtsanwalt Robert Clayton Dean (gespielt von Will Smith) aus dem US-amerikanischen Actionthriller „Der Staatsfeind Nr. 1“ (Originaltitel: Enemy of the State) aus dem Jahr 1998? Das wäre eine besondere Art des Größenwahns. Im Spielfilm deckt der Protagonist eine umfangreiche und schwerwiegende Geheimdienstverschwörung unter Einsatz seines Lebens auf, bei der mehrere Menschen rücksichtslos getötet wurden, unter anderen ein US-Senator.
Durch diesen schnell hingeworfen Satz hat der Angeklagte konzentriert, wie unter einem Brennglas, gezeigt, wie er die Dinge sieht. Und er hat sich während der gesamten Verhandlung so verhalten. Er hat sich immer wieder selbst entlarvt. Zu hören und sehen, teilweise sogar zu spüren war seine übersteigerte Selbstüberschätzung, verbunden mit einem erschreckenden Realitätsverlust und einer gehörigen Portion Selbstmitleid, und, auch das passt: einem insgesamt dilettantischen Agieren.
Für dieses Verfahren waren zwei Verhandlungstage vorgesehen. Dass es dann doch vier Verhandlungstage wurden und ein Termin wegen der Erkrankung des Verteidigers verschoben werden musste, machte das Verfolgen dieses Strafprozesses noch schwieriger. Das lag nicht an den Tatvorwürfen. So unangenehm und für das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit schädlich ein Korruptionsstrafverfahren gegen einen Polizeibeamten auch sein mag, hier kamen noch ein paar Punkte hinzu. Und diese Punkte zogen sich durch die gesamte Verhandlung.
Es ging ständig um den Ausgangspunkt des Strafverfahrens, oder wiederum nicht. Nüchtern betrachtet war der Ausgangspunkt des Verfahrens eine Anzeige gegen den Angeklagten, die im Dezember 2017 durch die Polizeivertrauensstelle der Thüringer Polizei bei der Internen Ermittlung der Landespolizeidirektion Erfurt erstattet wurde.
Eigentlicher (Hinter-)Grund, warum sich die Zeugin an die Vertrauensstelle der Polizei wandte, war eine Durchsuchung in ihrem Wohnhaus am 14. September 2017. Die Zeugin beschwerte sich massiv über die Art und Weise dieser Durchsuchung, u.a., weil ihre damals knapp 18 Jahre alte Tochter sich vor den Polizeibeamtinnen teilweise ausziehen musste. Die strittige Durchsuchung, welche mit den Tatvorwürfen nichts zu tun hatte, zog sich durch die ganze Verhandlung. Immer wieder versuchte der Verteidiger, Rechtsanwalt Steffen Böttcher aus Jena, diese Durchsuchungsmaßnahme zu thematisieren. Tatsächlich hatte die Durchsuchung, zu der hier bewusst nicht berichtet werden soll, nichts mit den Tatvorwürfen zu tun. In diesem Zusammenhang soll jedoch auf umfangreiche Berichterstattung in der taz, dem MDR und in diversen anderen Medien, darunter das Weimarer Lokalradio „Radio Lotte“ verwiesen werden.
Als aber die Zeugin bei der Polizeivertrauensstelle ihre Beschwerde vorbrachte, teilte sie eher am Rande mit, dass es bei der Weimarer Polizei einen Polizeikommissar gibt, welcher mutmaßlich bei der strittigen Durchsuchung anwesend war und von dem sie über „drei Ecken“ wusste, dass er dienstliche Informationen über einen Messenger-Dienst von seinem Handy an Dritte weitergegeben hatte. Und diese Nachrichten hatte die Zeugin auf ihrem Handy und zeigte sie auch bereitwillig. Über „drei Ecken“ bedeutete: Der Polizeibeamte Timo M. hat in 35 Fällen Messenger-Nachrichten in einem Zeitraum von einem Jahr an die später als Zeugin vernommene 25jährige Lisa K. gesandt. Diese Lisa hat dann einige dieser Nachrichten, die nicht sie selbst betrafen, an die Mutter einer guten (in etwa gleichaltrigen) Bekannten weitergeleitet. Dies tat sie, weil der Nachrichteninhalt helfen sollte, die Mutter zu informieren. Ihre Tochter war schon mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten und beide hatten keinen Kontakt mehr. Die Lisa wollte der Mutter so mitteilen, welche Schwierigkeiten ihre Tochter wieder hatte. Und die Mutter, welche auch als Zeugin aussagte und entsetzt darüber war, dass ein Polizeibeamter dienstliche Informationen einfach so per Handy verschickte, hat es ihrer Schwester erzählt und diese Nachrichten dann von ihrem Handy an sie – die Beschwerdeführerin bei der Polizeivertrauensstelle – weitergeleitet.
Aber zurück zur eigentlichen (Ver-)Handlung: Am 4. Januar 2021 eröffnete die Vorsitzende Richterin des Schöffengerichts beim Amtsgericht Weimar, Frau Inez Gloski, den ersten Verhandlungstag. Frau Staatsanwältin Franziska Hetzer vertrat die Anklagebehörde und verlas professionell die Tatvorwürfe. Die Tathandlungen sollen in der Zeit vom April 2017 bis April 2018 stattgefunden haben. Beginnend mit dem ersten Fall vom 5. April 2017, trug die Staatsanwältin jeden einzelnen der insgesamt 35 Fälle vor. Die zurückliegenden staatsanwaltlichen und polizeilichen Ermittlungen umfassten auch Durchsuchungen und Beschlagnahmen, sodass der Chatverlauf der gesendeten Textnachrichten, als auch der übermittelten Dateianhänge, insbesondere Fotos, die Anklage untermauerten. Konkret wurde dem Angeklagten vorgeworfen, Daten aus den Auskunftssystemen der Polizeien des Bundes und der Länder „INPOL“ und des Vorgangsbearbeitungsprogramms der Thüringer Polizei „IGVP“ weitergegeben zu haben, indem er den Bildschirm seines dienstlichen PC mit seinem privaten Handy abfotografierte und die so entstandenen Bilder per Messenger-Dienst versandte. Inhaltlich handelte es sich dabei um polizeiliche Sachstandsberichte, Befragungsprotokolle, „Polizeiliche Äußerungen“, zusammenfassende Aufstellungen über „Voreintragungen“, Informationen über Fahndungsausschreibungen, polizeiliche „Täter“-Fotos und sogenannte Einsatzmeldungen (ESM). Darüber hinaus gab der Angeklagte mehrfach Informationen auf dem gleichen Wege weiter, ob ein bestimmter Polizeibeamter der Weimarer Polizeiinspektion gerade im Dienst war, oder nicht. Dies sollte den Zweck haben, die Bekannte des Angeklagten zu warnen, zu dieser Zeit nicht mit ihrem PKW zu fahren, da sie keinen Führerschein mehr hatte – der betreffende Polizeibeamte hatte sie bereits mehrfach beim Fahren ohne Fahrerlaubnis „erwischt“…
Auch übersandte er Fotos von einer Überwachungskamera und offenbarte Ermittlungsergebnisse aus einem Strafverfahren. Als Gegenleistung, so die Anklage, forderte der Angeklagte von der Zeugin Sex. So sendete er eine Textnachricht: „Das wird jetzt aber teuer. Ich nehme nur Naturalien.“ Auch fragte er nach: „Was bekomme ich, wenn ich den Haftbefehl erledige?“ Auch bot er ihr an, dass er ihr als Sachbearbeiter für Fahrraddiebstähle ein Fahrrad besorgen könne: Der Chatverlauf dazu: „Ich hätte ein Fahrrad.“ – „Was willst Du?“ – „Zwei Stunden.“
Nach der Anklageverlesung kam es zu einem Disput zwischen Rechtsanwalt Böttcher und der Staatsanwältin. Der Verteidiger zweifelte an, dass der Dienstplan einer Polizeidienststelle ein Dienstgeheimnis sei: „Ich bekomme immer telefonisch Auskunft, ob ein Beamter im Dienst ist.“ Und weiter Rechtsanwalt Böttcher: „Das weiß Jeder, der bei der Polizei anruft!“
Die Vorsitzende erwiderte auf den hitzig vorgetragenen aber rechtlich nicht untermauerten Zweifel ruhig und sachlich: „Zu der Frage, ob der Dienstplan ein Dienstgeheimnis ist, oder nicht, hat das Gericht gemäß Eröffnungsbeschluss bereits seine Meinung vertreten, dass es ein Dienstgeheimnis ist.“ Der Verteidiger erklärte weiter, die Lisa K. war eine Informatin seines Mandanten und als solche hat sie an ihn Informationen geliefert, das sein ganz normal. Hier steigerte er sich richtig rein: „Wenn so, wie mein Mandant ermittelte, nicht mehr ermittelt werden darf, dann kann man die Strafverfolgung einstellen. Ich erlebe das in fast jeden Verfahren, dass so ermittelt wird. Und wer das nicht weiß, der weiß nicht, wie es in der Praxis wirklich aussieht. In der Praxis bedient man sich immer wieder Informanten, sonst kriegt man die Fälle nicht geklärt.“
Rechtsanwalt Böttcher widersprach danach der Verwertung der Daten, welche durch die Zeugin, die sich bei der Polizeivertrauensstelle beschwerte, ins Verfahren eingebracht wurden. Seine Gründe waren schwer zu verstehen, denn er bezog sich auf die strittige Durchsuchung, bei der sein Mandant vermeintlich gar nicht dabei war, und so würden, seiner Meinung nach, diese Daten wegen eines Beweisverwertungsverbotes oder sogar wegen eines Beweiserhebungsverbotes nicht verwertet werden dürfen. Darüber hinaus beantragte er, das Video dieser Durchsuchung als Beweismittel vorzuführen. Nach einer Pause verlas die Vorsitzende den Beschluss, dass beide Anträge abgewiesen wurden. Das nahm der Verteidiger mit Unmutsäußerungen auf, die durch das Zitieren nicht aufgewertet werden sollen. Langsam kam der Gedanke des Wahrheitsgehaltes des Spruches auf, dass jeder Angeklagte den Verteidiger hat, den er verdient…
Nachdem die „Beschwerdeführerin“ und ihre Schwester zeugenschaftlich gehört wurden und sachlich begründeten, wie sie zu den Messenger-Nachrichten gekommen waren, wurde die 25jährige Lisa K. gehört. Sie berichtete locker und unbeschwert, dass sie den Angeklagten gut kenne, da sie bei und mit ihm an drei oder vier Wochenenden an seinem Stand Crêpes verkauft hat. Sie wusste, dass er Polizist war, und gab freimütig zu, dass er ihr Nachrichten und Akten gesendet hatte. Ihre weiteren Angaben deckten sich mit der Anklage. Richterin Gloski fragte dann konkret nach: „Es ging auch um Verfahren gegen Sie?“
Zeugin: „Ja, er wusste, dass ich keinen Führerschein hab, und ich hab ihn dann gefragt, ob der W. im Dienst ist. Ich bin ja auf Bewährung wegen Fahren ohne Führerschein.“
Richterin: „Und dass war immer Herr W.?“
Zeugin: „Ja, wir grüßen immer freundlich wenn wir uns sehen.“
Richterin: „Und Sie haben den Angeklagten M. wegen Herrn W. gefragt?“
Zeugin: „Ja, ich wollte wissen, wann ich fahren kann.“
Richterin: „Gab es Gegenleistungen?“
Zeugin: „Nein. Er hat vielleicht Fotos in Unterwäsche von mit. Da ist er nicht der Einzige. Es ist ja so: Wenn man ein hübsches Mädchen ist, dass weiß, dass man gefällt, das nutzt man dann halt aus…“
Richterin: „Er wollte Ihnen auch ein Fahrrad organisieren?“
Zeugin: „Ich habe nie ein Fahrrad bekommen.“
Richterin: „Was war unter ‚gegen Naturalien‘ zu verstehen?“
Zeugin: „Da war nichts. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt einen Partner.“ Und sie fügt verschmitzt hinzu: „Der ist auch erheblich jünger als Herr M.!“
Richterin: „Über seinen Anwalt hat Herr M. ausgesagt, Sie wären eine Informantin von ihm?
Zeugin: „Nicht das ich wüsste….“
Frau Staatsanwältin Hetzer fragte nach: „Der Angeklagte schrieb Ihnen ‚Ich nehme nur Naturalien‘, was meinte er damit?“
Zeugin: „Er wollte Sex, das war mir klar, dass kam für mich überhaupt nicht in Frage.“
Staatsanwältin: „Er hat geschrieben, er hat Zeit und würde für Sex vorbei kommen. Sind Sie davon ausgegangen, dass er das ernst meinte?
Zeugin: „Das war hin und her geflachst. Das war aber schon ernst von ihm gemeint. Aber mir war schon klar, dass ich von ihm meinen Führerschein nicht zurück bekomme hätte, denn es steht ja dann irgendwo, dass ich keinen habe.“
Staatsanwältin: „Was meinte der Angeklagte, als er schrieb: ‚2 Stunden‘?“
Zeugin: „Da meinte er sexuelle Handlungen.“
Staatsanwältin: „Haben bei Ihren Kennenlernen Straftaten von Ihnen eine Rolle gespielt?“
Zeugin: „Ja, als ich mich bei ihm vorstellte, hat er gesagt: ‚Du bist Lisa und hast einen BtM-Eintrag!‘ Das fand ich voll legitim. Wenn ich an seinem Crêpes- Stand arbeite, dass er da mal nachschaut, mit wem er es zu tun hat.“
Staatsanwältin: „Hat er zu Ihnen auch über Ermittlungen gesprochen?“
Zeugin: „Ja.“
Staatsanwältin: „Ging es auch um Haftbefehle?“
Zeugin: „Ja. Ich hab nicht immer regelmäßig meine Briefe geöffnet. Ich hab da nicht immer aufgepasst, ob da gerade ein Haftbefehl aufläuft… Das war aber immer Pillepalle. Das hat er für mich erledigt.“
Staatsanwältin: „…also gezahlt. Haben Sie ihm das zurückgezahlt?“
Zeugin: „Nee, da hab ich ja auch bei ihm gearbeitet. Vielleicht hat er es verrechnet.“
Staatsanwältin: „Wie lange ist Ihr Führerschein schon weg und können Sie sonst noch Angaben machen?“
Zeugin: „Ist immer noch weg. Und dann habe ich gehört, dass er sich gerühmt hat, mit vollem Geld zu Hause zu sein. Ich finds ja ein bisschen frech…“
Zur Zeugenaussage des zwischenzeitlich pensionierten Kriminalbeamten Lutz H. bleibt wenig zu sagen. Er bestätigt als ehemaliger Sachbearbeiter bei den internen Ermittlern die in der Anklage erhobenen Tatvorwürfe. Leider ließ er sich durch wiederholte unsachliche und provozierende Bemerkungen des Verteidigers („Will man hier etwas vertuschen?“) aus der Ruhe bringen, wurde dabei selbst unsachlich und antwortete nur noch zögerlich, fast bockig, auf Fragen. Obwohl sachlich alles nachvollziehbar erklärt war, hinterließ er durch das wenig professionelle Agieren einen schlechten Eindruck. Da half es auch nicht, dass die Vorsitzende den Rechtsanwalt mehrfach zurechtwies und die Vertreterin der Staatsanwaltschaft auf eine ordnungsgemäße Befragung hinwies.
Rechtsanwalt Böttcher war mit der Vernehmung dieses Zeugen nicht einverstanden und hatte noch weiteren Nachfragebedarf. Er stellte die Beweisanträge, drei weitere Polizeibeamte zeugenschaftlich zu hören. Er wiederholte den Beweisantrag, das Video von der strittigen Durchsuchung in die Verhandlung einzuführen.
Für diesen zweiten Verhandlungstag am 21. Januar 2021 waren neben den ausstehenden Beweisanträgen auch die Plädoyers und eventuell das Urteil geplant. Schnell war klar, dass dies nicht zu schaffen sein würde. Der Beweisantrag bezüglich des Einbringens des Videos wurde mit Gerichtsbeschluss abgelehnt. Der Grund verwunderte nicht: Diese Durchsuchung hat nichts mit den Tatvorwürfen in dem Verfahren zu tun. Dieser Verhandlungstag hatte – wie bereits am ersten Tag, ein erhebliches öffentliches Interesse hervorgerufen. Neben den zahlreichen Medienvertretern war auch der Vorsitzende des Innenausschusses im Thüringer Land, Herr Steffen Dittes (DIE LINKE) unter den Zuschauern. Darauf angesprochen, erklärte er: „Die hier am Rande behandelte Durchsuchung ist Thema im Innenausschuss. Und da Corona-bedingt jetzt eh mehr Zeit ist, schau ich mir das mal an.“ – Bemerkenswert.
Die geladenen Polizeibeamten erklärten erwartungsgemäß, dass die Daten ordnungsgemäß ausgewertet wurden (Anabell S.), dass die Dienstpläne nicht für jedermann sichtbar und einsehbar sind (Christian Sch.) sowie der Angeklagte nicht befugt war, Informatinnen zu führen (Torsten Hoßfeld). Trotz der zahlreichen provozierenden und unsachlichen Nachfragen blieben diese Zeugen korrekt und sachlich.
Während der ersten beiden Verhandlungstage unterhielt sich der Angeklagte regelmäßig mit seinen Verteidiger, egal wer gerade sprach. Er soufflierte seinen Anwalt immer wieder etwas zu, was dieser oftmals sofort in einen Einwand, einer Frage oder einfach nur durch eine Unterbrechung einbrachte. Trotz vielfacher Ermahnungen seitens der Vorsitzenden änderte sich dieses Verhalten bis zum Schluss nicht. Staatsanwältin Hetzer musste sich mehrere Male energisch gegen das wenig qualifizierte dazwischen Gequatsche zur Wehr setzen.
Da keine weiteren Beweisanträge gestellt wurden, erfolgten die obligatorischen Angaben zur Person. Dabei war der Angeklagte wieder er selbst, indem er – wie in der ganzen Verhandlung – Kommentare abgab. Er war seit 1997 bei der Polizei „…und schon ewig Kommissar“, verheiratet, hat drei Kinder (1, 12 und 14 Jahre alt), hat ein Einkommen von 3.800 € . Und wieder kommentiert er einfache Angaben extra und ungefragt: „Drei Kinder, Steuerklasse drei, netto“. Auch nach seiner Suspendierung ? „…Kraft Gesetz ja!“.
Weiter wollte die Staatsanwältin eigentlich die Inaugenscheinnahme von Bildern der Handyauswertung, da der Angeklagte der Zeugin Lisa K. Intimfotos von sich geschickt hatte, darauf der Angeklagte: „Soll ich mich ausziehen?“ Die Vorsitzende sah dieses Verschicken durch die Aktenlage als ergeben an, sodass die Plädoyers folgten.
Staatsanwältin Hetzer sah die Anklage voll bestätigt. Zweifelsfrei sei der Angeklagte Amtsträger, er habe Dienstgeheimnisse verraten und sich in drei Fällen der Bestechlichkeit schuldig gemacht. Sie listete nochmals die Anklagepunkte auf und forderte für die insgesamt 32 einzelnen Fälle des Verrates von Dienstgeheimnissen und der drei Fälle der Bestechlichkeit, davon ein Fall in Tateinheit mit dem Verrat von Dienstgeheimnissen, jeweils Einzelstrafen, welche sie zu einer Gesamtstrafe von drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe zusammenfasste. Strafverschärfend rechnete sie an, dass der Angeklagte eine Vielzahl von Taten über einen langen Zeitraum beging: „Wenn man es herunter bricht, alle zwei Wochen eine Tat!“ Mitnichten waren es Bagatellsachen, wie der Verteidiger es hinzustellen versuchte. Es ging unter anderen um einen Haftbefehl. Auch handelte der Angeklagte nicht als irgendein Amtsträger, sondern als Polizeivollzugsbeamter. Diese verkörpern geradezu Recht und Gesetz. Seine Handlungen erschüttern nachhaltig das Vertrauen in die Polizei. Dazu sei das Verhalten des Angeklagten extremst uneinsichtig. Er zeigte weder Demut noch Reue, noch Respekt vor den Zeugen. Im Gegenteil: Er beschimpfte und beleidigte die Zeugen, unterbrach vielfach die Verhandlung durch unsachliche Kommentare und Äußerungen und störte durch Zwischenrufe und ständiges hörbares Flüstern mit seinem Anwalt. Der Angeklagte, so die Staatsanwältin weiter, „zeigte keine Anzeichen von Einsicht“.
Der Verteidiger hielt ein sehr emotionales Plädoyer: „Ich bin fassungslos wegen Ihres Antrages, Frau Staatsanwältin! Für Totschlag gibt es weniger. Um es vorweg zu nehmen – ich beantrage Freispruch!“ In ähnlicher Qualität ging es weiter. Rechtsquellen bemühte er nicht. Er behauptete, der Dienstplan sei kein Dienstgeheimnis. Er behauptete weiter, dass sein Mandant die Informationen nur weitergegeben hatte, um zu helfen und um an Informationen zu gelangen. Darüber hinaus erklärte er, die Staatsanwaltschaft hat vor dem falschen Gericht Anklage erhoben, da die Addition der geforderten Einzelstrafen über vier Jahre betragen würde. Der in allen Punkten unsachlichen Argumentation konnte nur schwer gefolgt werden. Die hastig und eifernd vorgetragenen Bruchstücke einer unglücklichen Rechtfertigung verdienten nicht, Plädoyer genannt zu werden und gipfelten in allgemeinen Ausfällen: „Da kriegt ein Kinderschänder zwei Jahre auf Bewährung!“ Oder: „Die ganzen Politiker müssen durchleuchtet werden, die machen alle Vorteilsnahme!“ Auch war er sich nicht zu schade, eine nachgewiesene Verschwörungstheorie zu verbreiten: „Söders Frau stellt Masken her, da braucht man sich wegen der strengen Maskenpflicht in Bayern nicht wundern!“ Und er endete mit den für ein unabhängiges Organ der Rechtspflege bemerkenswerten Satz: „Ich kann Einen abstechen, dafür kriegt man drei Jahre!“
Für die Urteilsfindung war es zu spät, der nächste Termin wurde wegen der Krankmeldung des Rechtsanwaltes verlegt, am Freitag, den 29. Januar 2021 erfolgte der nächste, unerwartet kurze Termin. Die Vorsitzende trat wieder in die Beweisaufnahme ein. Die Polizeivertrauensstelle hatte ihr und der Staatsanwaltschaft ein Schreiben zugeleitet, das sie als relevant ansah. Es ging um das Verhalten des Angeklagten in einer Verhandlungspause und nach der letzten Verhandlung. Die Zeugin, welche als Beschwerdeführerin zu der strittigen Durchsuchung bekannt war, fühlte sich vom Angeklagten bedroht. Er war auf sie zugegangen, und hatte eine Entschuldigung verlangt. Nach dem letzten Verhandlungstag hatte er auf sie gewartet und provokant verfolgt. Daraufhin wurde die Zeugin, welche als Zuschauerin im Saal war, gebeten, draußen zu warten, um anschließend im Zeugenstand zu berichten. Die ganze Angelegenheit war eher unglücklich. Das Agieren des Angeklagten zu ihr und zu weiteren Zeugen war auch in den zurückliegenden Verhandlungstagen provozierend. Er fixierte diese Zeugen, welche im Zuschauerraum saßen, mit langen und intensiven Blicken, die etwas Eindrückliches hatten. Der Eindruck zum Angeklagten war klar: Er hat ein latentes Bedrohungspotential, er weiß darum und setzt es ein. Juristisch war es schwer zu fassen, zu beweisen war es noch schwerer. Staatsanwältin Hetzer versuchte es trotzdem, es gelang jedoch nicht vollständig – die Zeugin war auf die psychologischen „Spielchen“ des Angeklagten nicht vorbereitet. Und Rechtsanwalt Böttcher war in seinem Element und führte die Zeugin regelrecht vor. In einem Detail ihrer Erzählung war die Zeugin so unsicher – vermutlich hat sie sich sogar geirrt, dass der Verteidiger die Vernehmung der Ehefrau des Angeklagten verlangte. Sie würde beweisen, dass die von der Zeugin geschilderte Handlung gar nicht stattgefunden haben kann, da er durchgängig in der strittigen Zeit bei ihr war. Die Sache selbst ist zu belanglos, um hier überhaupt geschildert zu werden und für das Verfahren nicht relevant.
Der vierte und letzte Verhandlungstag fand am Freitag, den 19. Februar ab 15:30 Uhr statt. Die Ehefrau gab als Zeugin brav das gewünschte Zeugnis ab. Sodann wurde wieder plädiert. Staatsanwältin Hetzer bezog sich auf das erste Plädoyer vom 21. Januar 2021, an den Tatvorwürfen und ihrer Einschätzung dazu hatte sich nichts geändert, hatte aber nicht unerhebliche Ergänzungen: „Basierend auf den Ermittlungen zum ‚Nachtatverhalten‘ des Angeklagten möchte ich ausführen: Bereits in einer Verhandlungspause am 4. Januar 2021 hatte sich der Angeklagte der Zeugin in den Weg gestellt und eine Entschuldigung gefordert. Auch am 21. Januar hat er sich so verhalten, dass er den Eindruck erweckte, sehr bewusst zu agieren, indem er auf die Zeugin einwirken wollte.“ Rechtsanwalt Böttcher störte wieder mit einem unsachlichen Zwischenruf, worauf die Staatsanwältin sich äußerlich ruhig, aber sehr bestimmt an ihn direkt wandte: „Die Wertung von Zeugenaussagen erfolgt im Plädoyer und nicht durch Zwischenrufe!“ Das saß.
Sie fuhr, frei von jeder Attitüde, fort: „Der Angeklagte war sich ganz bewusst, wie er mit seinem Auftreten auf die Zeugin wirkte, war sich als Polizist bewusst, wie eine verängstigte Zeugin auf seine Handlungen reagieren musste. Und das trat ja auch ein. Das ganze spielt aber eine untergeordnete Rolle, denn der Tatvorwurf hat sich nach meiner Sicht voll umfänglich bestätigt. Das Nachtatverhalten muss strafverschärfend gewürdigt werden. Ich beantrage eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten!“
Der Verteidiger echauffierte sich: „Drei Jahre und neun Monate, da sind Sie an der Grenze, was dieses Gericht überhaupt kann. Warum sind wir dann hier? Da hätten Sie vor dem Landgericht einreichen müssen.“ Anschließend erging er sich fünf Minuten in Sprechdenken ohne jegliche sachliche oder juristische Relevanz. Das zu zitieren, lohnt wirklich nicht. Er endete mit: „Ich bleibe bei meinem Freispruch.“
Der Angeklagte ergriff nun das letzte Wort. Auch hier ist es die Sache nicht wert, mit langen Passagen den Angeklagten die Möglichkeit zu geben, die von ihm gewünschte Wirkung zu erzielen: Von sich und seinen Taten abzulenken. Seine Taten als normale Ermittlungen zu bezeichnen und Zeugen und andere Personen, welche im Verfahren keine Rolle spielten, zu verunglimpfen und zu beschuldigen. Der Innenminister, der ehemalige Dienststellenleiter und jetzige Bürgermeister von Weimar waren ebenso an der Reihe, wie eine Journalistin von der taz und natürlich auch die Staatsanwältin und die Vorsitzende. Sein Rundumschlag machte auch vor einen seit vielen Jahren pensionierten Polizeihauptmeister der Polizeiinspektion Weimar keinen Halt, er war als Zuschauerim Saal und bekam auch „sein Fett weg“. Wie auch der aktive Polizeibeamte, welcher der Lisa K. mehrfach beim Fahren ohne Fahrerlaubnis ertappt hatte. Der Angeklagte redete rund fünfzehn Minuten, bekam dabei einen hochroten Kopf, redete sich richtig in Rage. Er musste mehrfach von der Vorsitzenden unterbrochen werden, wurde zur Sachlichkeit aufgefordert. Seine wirklich letzten Worte in dieser Verhandlung: „Meine Intention war, dass ich immer helfen wollte, nichts anderes. Ich wollte einfach nur helfen. Und das wird dann zum Bumerang. Mehr kann ich nicht sagen. Und dann wollen Sie mich ins Gefängnis stecken…“
Nach einer längeren Pause verkündete die Vorsitzende das Urteil: Eine Gesamtstrafe von zwei Jahre Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Von der umfangreichen Urteilsbegründung soll nur kurz berichtet werden: „Besondere Umstände, die eine Strafaussetzung zur Bewährung gemäß Paragraph 56 Absatz 1 und 2 Strafgesetzbuch ermöglichen, waren nicht zu finden. Besonders das Verhalten des Angeklagten während der Hauptverhandlung und insbesondere seine Schlussworte machten dies deutlich.“
Bleiben noch ein paar offene Fragen: Wie war es möglich, dass ein Polizeibeamter mit einen offensichtlich erheblichen Defizit im Rechtsverständnis jahrelang ohne Einwirkung seiner Vorgesetzten agieren konnte? Wie war es möglich, dass eben dieser Polizeibeamte in Weimar ein Crêpes-Stand betrieb und dort Mitarbeiter anstellte, ohne diese Nebentätigkeit anzuzeigen bzw. sich genehmigen zu lassen? In Weimar haben das sehr viele gewusst, aus Polizeikreisen hat es zum Beispiel immer wieder für Unmut gesorgt, dass er zum Zwiebelmarktwochenende an seinem Crêpes-Stand arbeitete und die Kollegen Dienst schoben. Da dieser Crepes-Wagen als gestohlen gemeldet wurde und beim mdr ein entsprechendes Video anzusehen ist, indem der Angeklagten als „mitarbeitenden Ehemann“ bezeichnet wird, eröffnet die Möglichkeit, dass sich die Leser selbst ein Bild machen können…
Dass der Angeklagte über viele Monate suspendiert war und trotzdem seine vollen Bezüge bekam, mag wegen besonderer Umstände dienstrechtlich wohl in Ordnung gewesen sein, in der Außenwirkung war dies natürlich fatal.
Apropos „Staatsfeind Nr. 1“: Will Smiths Rolle war Fiktion. Wer jedoch reale Vergleiche sucht, wird Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich fündig. Ein ungeheuerlicher Justizskandal spaltete damals die Gesellschaft um den zu Unrecht wegen Hochverrates beschuldigten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der mehrere Jahre auf der Teufelsinsel streng bewacht verbannt war. Sowohl Dreyfus, aber auch der Oberstleutnant des französischen Generalstabs, Marie-Georges Picquart, der diesen Skandal entscheidend aufdeckte, wurden als Staatsfeinde Nummer 1 bezeichnet. Picquart wurde aus der Armee entlassen und inhaftiert, spät wurden beide rehabilitiert. Für beide Justizskandalopfer setzten sich unter anderen Émile Zolas und Georges Clemenceau ein, letzterer wurde später Premierminister und ernannte Picquart zum Kriegsminister. Die Dreyfuss-Affäre wurde übrigens nach dem ausgezeichneten Buch von Robert Harris verfilmt: Intrige.
Was uns diese Geschichte lehrt? Diese „Staatsfeinde“ waren unschuldig und wurden durch falsche Anschuldigungen, Rechtsbeugung und Geheimgerichte verurteilt.
Tino M. wurde in einer öffentlichen Hauptverhandlung mit einen von ihm gewählten Rechtsbeistand nach einem fairen Verfahren wegen des zweifelsfrei nachgewiesen Verrates von Dienstgeheimnissen und der Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Sein Verteidiger kündigte an, in Berufung zu gehen.
(04.01.2021, 21.01.2021, 29.01.2021, 19.02.2021 Schöffengericht am Amtsgericht Weimar, Schöffensaal)
A.S.