„Ihr habt sie so nicht gesehen…“

Der nähere Ort des Geschehens ging durch die Medien. Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Diesmal richtete sich die Auswahl der Berichterstattung nach dem Tatvorwurf: Fahrlässige Tötung! Paragraf 222 Strafgesetzbuch besagt: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ In der Polizeilichen Kriminalstatistik sind nur Fälle erfasst, wenn sie nicht durch einen Verkehrsunfall bedingt waren. Für das Jahr 2018 sind insgesamt 27 solche Fälle registriert (2016: 23 Fälle, 2017: 26 Fälle). Ein Fall aus diesem Jahr wurde vor der 4. Strafkammer (Berufungskammer) des Landgerichts Erfurt verhandelt. Das zugrunde liegende Urteil hatte das Amtsgericht Weimar am 19. März diesen Jahres gesprochen. Auf Nachfrage beim Amtsgericht Weimar stellt sich heraus, dass es eine Verhandlung vor dem Strafrichter war. Eine Gerichtsberichterstattung gab es darüber nicht. Gemäß Paragraf 25 Gerichtsverfassungsgesetz entscheidet ein Strafrichter (als Einzelrichter) bei Vergehen, wenn eine höhere Strafe als Freiheitsstrafe von zwei Jahren nicht zu erwarten ist.

Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts Weimar vom 19. März 2019 lautete: Die beiden Angeklagten wurden zu jeweils neun Monate Freiheitsstrafe verurteilt, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde. Sie wurden verurteilt, weil das Amtsgericht Weimar es als erwiesen ansah, dass sie beide ihre Sorgfalts- und Aufsichtspflicht verletzt hatten und somit fahrlässig den Tod der vierjährigen Lena (Name geändert) verursacht hatte. Beide hatte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Nun verhandelte also die Berufungskammer gegen die 55jährige Bärbel Sch. und die 57jährige Doris K..

Was war geschehen? Am Sonntag, den 21. Januar 2018 waren die beiden Schwestern zu Besuch bei ihrer Mutter, zusammen mit anderen Angehörigen waren sie Gäste einer Familienfeier. Es war kalt, es hatte frisch geschneit, beide halfen zusammen, Schnee zu schnippen. Das Elternhaus der beiden liegt südöstlich von Kranichfeld, außerhalb des Ortes, hoch über der Ilm. Nur ein weiteres Einfamilienhaus steht in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ihre Nichte, nennen wir sie Sabine A., ebenfalls zu Besuch, kam zusammen mit ihrer vierjährigen Tochter und den Lebensgefährten und bat, auf Lena aufzupassen, sie wollten noch vor dem Kaffeetrinken ein Stück spazieren gehen. Im Weggehen drehte sie sich nochmals um und sah ihre Tochter im Schnee spielen. Ihre beiden Tanten schippten weiter Schnee und unterhielten sich über Autos.

Nach einer Weile kam das Paar zurück und fragte, wo ihre Tochter sei – das wussten die beiden Tanten nicht. Sofort begann eine hektische Suche, bis die Mutter ihr Kind im Gartenteich des Nachbargrundstückes fand, eingebrochen im Wasser liegend. Sie sprang sofort hinein und versuchte, ihr Kind zu retten. Das Kind lag leblos im Wasser. Eine der Tanten half, ihr das Kind abzunehmen und dann die Mutter aus dem eiskalten Teich zu ziehen. Sodann begann der Rettungseinsatz, Polizei, Feuerwehr und Notarzt waren schnell zur Stelle. Ein Rettungshubschrauber brachte das Kind nach Leipzig in eine Spezialklinik. Nach drei Tagen verstarb das Mädchen in der Klinik, sie war sehr stark unterkühlt, ihre Kerntemperatur betrug nur noch 24 Grad Celsius.

Die Vorsitzende Richterin der 4. Strafkammer, Frau Martina Hornstein-Engers, begann diese Verhandlung sehr ungewöhnlich. Sie stellte fest: „Das ist eine ganz schwierige Hauptverhandlung, da steht man da, und weiß nicht, was man machen soll.“ Nach dem Verlesen des Urteilstenors und der Begründung des erstinstanzlichen Urteils sprach sie die als Nebenklägerin anwesende Mutter der Lena an: „Ich mache jetzt bewusst eine andere Reihenfolge – Wie geht es Ihnen?“ Obwohl sie von Rechtsanwältin Kristin Ludwig-Müller vertreten wurde, erklärte sie: „Schlecht!“ Keine Ahnung, welche Antwort die Richterin erwartet hatte. Vernünftig schien dieser Beginn jedenfalls nicht. Die Richterin weiter: „Ich habe gelesen, Sie haben eine Trauerbewältigung gemacht?“ Die so Angesprochene brach in Tränen aus: „Man versucht, von einem Tag zum Nächsten zu kommen.“ Und weiter lässt sie tief in ihren Seelenzustand blicken: „Man geht spazieren, sieht einen Teich und sieht sie drinnen liegen!“ Und einmal im Reden, sagt sie ziemlich genau, wie es ihr jetzt geht: „Ich hab Trauerbewältigung gemacht, und dann kam der Brief vom Gericht, und dann ging alles wieder los!“ Damit meinte sie den Schriftverkehr in Zusammenhang mit der Berufungsverhandlung.

Sie erzählt weiter, dass sie inzwischen geheiratet hat, sie wollte nicht mehr ihren alten Familiennamen tragen, weil der sie immer wieder an diesen Tag erinnert. Sie hatte bei einer Reinigung gearbeitet, ist aber wegen der Reha mit der Trauerbewältigung von ihrem Chef entlassen worden. Die Richterin fragte weiter: „Haben sich die Tanten bei Ihnen gemeldet?“ – „Nein.“ Die Richterin fragte die beiden Angeklagten: „Waren Sie zur Beerdigung?“ Daraufhin reagierte die Eine: „Nein. Ich wollte mich doch nicht als Mörderin beschimpfen lassen!“ „Wieso?“ wollte die Vorsitzende wissen. „Naja,“ so die Angeklagte weiter, „das stand bei Facebook.“ Daraufhin ihre Nichte: „Aber nicht von mir, und für Kommentare von Anderen kann ich nichts.“

Die Neugier der Vorsitzenden war noch nicht gestillt: „Man hätte ja ein paar Zeilen schreiben können?“ Eine Angeklagte erwiderte: „Ich hatte versucht anzurufen, wurde aber immer wieder weggedrückt!“ Darauf Sabine A.: „Ja, den Anruf kam ich, da war ich bei Lena in der Klinik. Da wollte ich durch Niemand gestört werden. Da wollte ich mich nur um mein Kind kümmern!“ Und weiter unter Tränen: „Ihr habt sie so nicht gesehen, in der Klinik, aus Mund und Nase blutend!

In einer hoch emotionalen Situation müsste es eine Pflichtaufgabe des Gerichts sein, die Emotionen auf ein erträgliches Maß zu steuern. Nicht so die Vorsitzende, sie fragte die Angeklagten: „Wie ist das mit der Familie?“ Die Antwort überraschte nicht: „Alles zerbrochen.“ Daraufhin die Richterin: „Man steht ratlos vor der ganzen Situation.“ Die Vorsitzende fand leider nicht die richtigen Worte, um eine Berufungsstrafverhandlung zu führen, vielmehr verwies sie mehrfach auf die Tragik des Geschehens, bei dem ja alle gestraft sind, sich ihr Leben von diesem Tag an grundlegend verändert hat, sie das ganze Leben damit zu tun haben.

Nachdem sich niemand mehr äußern wollte, fragte die Vorsitzende Richterin die Nebenklägerin, ob sie noch einen Wunsch hätte. Die so Angesprochene reagierte sofort: „Ja, ich möchte wissen, wie das Ganze eigentlich passiert ist? Ob sie fortgegangen ist, ob Ihr sie weggeschickt habt?“ Das ist ein nur zu gut verständlicher Wunsch. Bei der erstinstanzlichen Verhandlung hatte eine Angeklagte von ihrem Recht zu Schweigen Gebrauch gemacht. Nun schilderten die Schwestern diese Minuten aus ihrer Sicht, offen, ungeschminkt. Sie gaben damit erneut zu, nicht die notwendige Aufmerksamkeit walten lassen zu haben. Sie haben einfach nicht aufgepasst, weiter Schnee geschippt, sich unterhalten, nicht nach dem Kind gesehen. Die Art, wie sie es sagten, stellte ihre Nichte aber zufrieden. Dass die ganze Familie an diesem Unglücksfall zerbrochen ist, hat wohl auch dazu geführt, dass über das Geschehen gar nicht mehr gesprochen wurden – nur verdrängt. So hatte diese auffordernde Frage der Richterin ihr Gutes.

Damit wurde die Beweisaufnahme geschlossen! Upps! Welche Beweisaufnahme? Es waren keine Zeugen geladen, es gab keine Sachverständigen oder Gutachter. Nun gut, die Berufung richtete sich „nur“ gegen das Strafmaß, neun Monate Bewährung waren den beiden Angeklagten zu viel. Frau Rechtsanwältin Marion Hecher für die Angeklagte Bärbel Sch. und Frau Rechtsanwältin Carmen Fritze für die Angeklagte Doris K. als Berufungsführerinnen plädierten für ein geringeres Strafmaß, beide hielten eine Verwarnung für ausreichend, beide waren der Meinung, dass es sich um ein Augenblicksversagen handelte, dass es den Angeklagten unendlich leid tue, dass beide nicht vorbestraft sind, sich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen haben.

Staatsanwältin Petra Peinelt hielt ihr Plädoyer: „Der  Schuldspruch ist rechtskräftig. Es ist eine angemessene Art der Berufungsverhandlung, die durchaus ungewöhnlich war“ und zur Mutter gewandt, „die Ihnen aber helfen kann.“ Dabei war die Staatsanwältin selbst sehr emotional, ihr kamen die Tränen: „Ihr Kind wird Ihnen immer im Gedächtnis bleiben!“ Sie behauptete: „Die Berufungsverhandlung war für alle Beteiligten ein wichtiger Schritt. Es eröffnet die Möglichkeit des Weiterlebens.“ Über die Handlungen der Angeklagten benutzt sie den Begriff „Blitzversagen“, und, „das so etwas Jeden passieren könne.“ Die Staatsanwältin schließt sich dem Strafmaß der Verteidigerinnen an und beantragt den Ausspruch einer Verwarnung, die Bewährungszeit solle zwei Jahre betragen. Darüber hinaus solle die Angeklagte Sch. 90 Tagessätze zu je 35 Euro und die Angeklagte K. zu 90 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt werden. Abschließend die Staatsanwältin: „Ich hatte schon bei der ersten Verhandlung eine Verwarnung mit Strafvorbehalt beantragt!

Die Nebenklage-Vertreterin geht in ihrem Plädoyer darauf unmittelbar ein und sprich die Staatsanwältin direkt an: „Wir waren wegen Ihres Antrages schon damals entsetzt und sind es jetzt auch!“ Dann fährt sie in ihrem kurzen Plädoyer fort: „Es war kein Blitzversagen, Sie haben sich gar nicht um das Kind gekümmert!“ Sie findet klare Worte, kurz, vielleicht zu kurz? Frau Ludwig-Müller weiter: „Ein Strafvorbehalt ist das unterste Level einer möglichen Strafe. Das ist nicht adäquat.“ Zum Verhalten der beiden Angeklagten nach dem Ereignis: „Es gab bis heute kein Interesse der Angeklagten am Schicksal der Mutter.“ Und nochmal direkt zur Staatsanwältin: „Ich kann den Antrag der Staatsanwaltschaft nicht verstehen. Ich hatte in der ersten Verhandlung sechs Monate Freiheitsstrafe gefordert. Der Richter ist mit neun Monaten sogar erheblich darüber hinaus gegangen!“

Das Gericht vertagt sich für 30 Minuten, diese Pause dauerte aber erheblich länger, vielleicht gab es eine Diskussion mit den beiden Schöffen. Die einzigen beiden Männer als Verfahrensbeteiligte dieser Berufungsverhandlung hatten kein einziges Wort gesagt, auch eine Kommunikation zwischen der Vorsitzenden und den beiden Schöffen war während der Verhandlung nicht wahrzunehmen.

Dann das Urteil: Gegen beide Angeklagte wurde eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen, sie müssen jeweils 90 Tagessatze zu je 15 bzw. 35 Euro zahlen. Zudem erhielten sie die Bewährungsauflage, jeweils 1.500 Euro an den Kinderschutzbund Thüringen zu zahlen. Frau Hornstein-Engers begründet das Urteil: „Es gibt hier keine gerechte Strafe. Es handelte sich um ein Augenblicksversagen. Es ist auch nicht der unterste Rahmen. Es gibt auch Fälle, die gegen eine Geldauflage eingestellt werden.“ Sie nimmt nochmals die Argumentation der Staatsanwältin auf: „Es war ein Augenblicksversagen. Das kann Jeden passieren.“ Zu den Angeklagten gerichtet: „Was ich Ihnen aber vorzuwerfen habe: Es hätte der Worte bedurft – ein Zeichen lange vor der Hauptverhandlung, Worte, ein Schreiben…“ Dann zum Tatablauf: „Es war eine Augenblicksgeschichte!“ Zu den Persönlichkeiten der Angeklagten: „Bei Tätern, die noch nicht in Erscheinung getreten sind, da fängt man mit einer Geldstrafe an. Dann die Frage, was ist ein Kind wert, 4.000 Euro oder so?

Die Richterin lies einen Einblick in ihr Innerste zu: „Als ich die Sache auf den Tisch bekam, habe ich überlegt, wie ich urteilen würde. Da fiel mir nur ein: Verwarnung mit Strafvorbehalt.“ Diese rhetorische Frage ist völlig unverständlich. Was soll hier heißen „…wie ich urteilen würde“? Sie hatte zu urteilen! Zusammen mit ihren beiden Schöffen hatte sie das Berufungsstrafverfahren durchzuführen. Ohne Vorbehalte. Nach einer Beweisaufnahme. Offensichtlich stand – ihren Worten folgend – das Urteil bereits vor der Verhandlung fest!

Sowohl die beiden Angeklagten, als auch die Staatsanwältin verzichteten auf Rechtsmittel.

Die Leser mögen sich – wie bei allen Gerichtsreportagen – ihre eigene Meinung bilden. Auf eine Sache soll jedoch eingegangen werden: Gibt es in solch einen Fall eine gerechte Strafe? Die Vorsitzende hatte dies verneint. Dies sagt viel über ihr Selbstverständnis als Richterin aus.

Meine Meinung: Ja, es gab hier eine gerechte Strafe. Das Urteil des Amtsgerichts Weimar wurde von der Mutter des verunglückten Kindes akzeptiert. Dies sollte ein wichtiges Kriterium bei dieser hoch sensiblen Bewertung sein. Die beiden Angeklagten sind in Berufung gegangen, ihnen erschien das Urteil zu hart. Sie hatten in Kauf genommen, dass das ganze Geschehen nochmals emotional hochkochte.

(30.07.2019 – 09:00 Uhr, Landgericht Erfurt, 4. Strafkammer, Saal E 48)

A.S.