„Ich habe nichts Schlimmes gemacht.“

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Richter Michael Müllert-Hilgert gehört zu den wenigen Richtern an Amtsgerichten, die nach der Besoldungsgruppe R 2 besoldet werden. Dies ist an der Bezeichnung „wa“ zu erkennen, welche auf der Sitzungsliste hinter seinen Namen steht. Als „weiterer aufsichtführender Richter“ hat er im Auftrag des Direktors des Amtsgerichts zusätzliche Verwaltungsaufgaben zu erfüllen. In erster Linie ist er aber Einzelrichter und Ermittlungsrichter. An diesem Donnerstag hatte Herr Müller-Hilgert drei Verhandlungen terminiert. Um 11:45 Uhr begann die zweite Verhandlung, angeklagt war der 30jährige Ariel I. Er erschien ohne Anwalt – das war keine kluge Entscheidung. Die Anklage vertrat Frau Staatsanwältin Clemens.

Noch vor dem eigentlichen Beginn der Verhandlung sprach der Richter den Angeklagten an und machte ihn darauf aufmerksam, dass er seinen Einspruch jetzt noch zurücknehmen könne. Nach Aktenlage würde alles für eine Verurteilung sprechen und dann würde der Tagessatz nicht bei 30 Euro liegen, sondern bei 40! Darauf der Angeklagte: „Ich kann nicht das bezahlen, was ich nicht war.“ Klar war damit, dass wegen eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl verhandelt wurde. Mit Gleichmut nahm der Richter diese Äußerung auf und begann die Hauptverhandlung, indem er der Staatsanwältin das Wort gab.

Die Anklage war schnell verlesen, den aus Polen stammenden Angeklagten wurde vorgeworfen, an zwei aufeinander folgenden Tagen einen Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes in Erfurt genötigt zu haben. Im Rahmen von Kontrollen des ruhenden Verkehrs hat er einmal versucht, diesen Mitarbeiter beim Ausparken anzufahren, indem er nach einer Kontrolle auf ihn losfuhr. Beim zweiten Mal soll er den gleichen Ordnungsamtsmitarbeiter in der Nähe des Kaufhauses Anger 1 bei einer Kontrolle auf der Straße an einem PKW gesehen haben und wieder auf ihn zugefahren sein.

Richter Müller-Hilgert fragte den Angeklagten, ob er sich zur Sache äußern wollte. Er wollte. Er sprach sehr schnell, man merkte ihm aber deutlich an, dass die deutsche Sprache nicht seine Muttersprache war: „Ich kam von Arbeit nach Hause, habe geparkt, hatte keinen Anwohnerparkausweis, hab noch draußen gestanden und geraucht. Kam Kontrolle. Habe gesagt, fahre gleich weg. Ich rauche noch fertig. War ein bisschen frech.“ Er verhaspelte sich, sagte, dass man da gar nicht schnell raus fahren kann, holte sein Handy hervor und wollte den Richter ein Foto zeigen. Geduldig sah sich der Richter ein Foto auf dem Handy an, stellte fest, dass es die Parkplatzsituation zeigte, fotografiert nach der Tat. „Jetzt geht es aber um das Ausparken!“ Müller-Hilgert lenkte auf den wesentlichen Punkt, der Angeklagte wich immer wieder wortreich aus, ohne zur Sache etwas zu sagen.

Er sah ein, dass dies wenig Zweck hatte. Da Zeugen geladen waren, ging es weiter: „Nun zur zweiten Geschichte in der Meyfahrtstraße, mit dem Postauto!“  Der Angeklagte: „Ich weiß nicht, um was es geht. Habe nie etwas gesehen. Habe nichts Schlimmes gemacht. Wie soll ich 1.600 Euro bezahlen?“ Nicht nur, dass er schnell und unsachlich redete, er hörte auch nicht richtig zu, regte sich schnell auf. Der Richter mit den nächsten Versuch: „Wissen Sie, was Nötigung ist?“  Der Angeklagte: „Ich habe ihn nicht angefasst.“ Richter Müller-Hilgert: „Wir fangen jetzt mit der Beweisaufnahme an.“ Zum Angeklagten gewandt: „Sie neigen ganz offensichtlich dazu, impulsiv zu reagieren.“

Als Erstes wurde der 32jährige Florian L gehört, einer der beiden Ordnungs-amtsmitarbeiter. Seine offizielle Tätigkeitsbeschreibung: Überwacher des ruhenden Verkehrs. Er schilderte, dass er den Angeklagten vom Sehen kenne, er habe ihn bereits eine Woche vor dem ersten Vorfall „geknollt“. Bei der angezeigten Tat befand er sich mit seinen Kollegen am Hospitalplatz und kontrollierte dort geparkte Fahrzeuge. Beim PKW des Angeklagten, einen Audi mit polnischen Kennzeichen, stellte er fest, dass kein Anwohnerparkausweis vorhanden war. Weiter der Zeuge: „Er kam auf mich zu, ich bat ihn, das Fahrzeug wegzufahren. Ich sagte ‚Wenn Sie stehen bleiben, muss ich Sie aufnehmen. Ich habe es ihm erklärt, er war nicht bereit dazu.“ Der Richter wollte wissen: „Wie war die Atmosphäre, dass klingt alles so lieb und nett?“ Der Zeuge: „Es war schon angespannt, durch seine Weigerung, dass Fahrzeug wegzufahren, war es einseitig gespannt, das Verhältnis.“ Am Richtertisch wurden durch die Beteiligten Fotos und Skizzen in Augenschein genommen. Während der Vernehmung des Zeugen, aber auch am Richtertisch, redete der Angeklagte immer wieder unsachlich dazwischen und musste vom Richter zur Ordnung gerufen werden: „Reden Sie nicht dauern dazwischen!“

Der Zeuge schilderte weiter: „Der Angeklagte setzte sich in sein Auto und fuhr aus der Parklücke, dabei hat er versucht, mich anzufahren. Wenn ich nicht zur Seite getreten wäre, hätte er mich getroffen. Er hat nochmals zurückgesetzt und versuchte erneut, mich anzufahren. Das ging aber nicht, da war ein anderes Fahrzeug im Weg.“ Der Richter fragte nach: „Und dann sagte er noch etwas beim Auseinandergehen?“  – „Ja“ sagte der Zeuge, „er sagte: ‚Wenn ich Sie mal allein im Wohngebiet sehe, müssen Sie aufpassen!‘ Mein Kollege hat das auch gehört.“

Zur zweiten Tat schilderte der Zeuge, dass er in der Erfurter Innenstadt geparkte Fahrzeuge kontrollierte. Als er an einen schwarzen Golf stand, welcher in der Löwengasse vor einer Feuerwehr-Zufahrt parkte, „…kam Herr I. mit seinem DHL-Fahrzeug und fuhr gerade auf mich zu, ich stand auf der Straße als er zügig auf mich zufuhr, er ist sehr nah an den Golf vorbeigefahren, es war sehr eng, ich musste wieder zurücktreten, sonst hätte er mich getroffen.“ Weiter sagte der Zeuge, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug dann schräg gegenüber in einer Feuerwehrzufahrt parkte, er aber Nichts unternahm. „Ich bin dann nicht hingegangen, hatte da erst mal die Nase voll!“ Die logische Nachfrage des Richters: „Aus Furcht?“„Ja!“ Zwischendurch klingelte mehrfach das Handy des Angeklagten, energisch wies der Richter darauf hin, dass er das nicht duldete. Herr Ariel I. reagierte mit überflüssigen Erwiderungen, fingerte jedoch weiter am Handy herum, statt es auszuschalten. Richter Müller-Hilgert: „Wenn Sie das Handy nicht sofort ausschalten, verhänge ich ein Ordnungsgeld von 200 Euro. Und diskutieren Sie nicht immer mit mir.“ Der Angeklagte reagierte typisch: „Ich diskutiere nicht!“ Er hatte immer das letzte Wort.

Der zweite Zeuge des Ordnungsamtes, Herr Florian W., bestätigte und ergänzte die Aussagen seines Kollegen. Sein Vorname veranlasste den Richter aber erst zu einen kleinen Scherz: „Ist das bei Ihnen Einstellungsvoraussetzung?“ Der Zeuge schilderte den ersten Vorfall, den er mitbekam, weil das Gespräch zwischen dem Angeklagten und seinem Kollegen lauter wurde. Er war hingegangen, damit der Kollege nicht allein handeln musste. Er sagte weiter: „Er wurde lauter, weil er nicht die erste Knolle bekommen hatte.“

Den zweiten Vorfall schilderte er aus der beobachtenden Perspektive der Szene von hinten: „Ich hörte das Aufheulen eines Motors, wie, als wenn Einer schnell losfährt. Ich sah dann dass DHL-Fahrzeug, mein Kollege musste ausweichen.“ Der Richter wollte wissen: „Wie schnell war dieses Fahrzeug?“ – „So ungefähr 20 km/h.“ Die Staatsanwältin fragte nach: „Sie gehen davon aus, dass er beschleunigt hat?“ Der Zeuge, der seine Aussage in einer ruhigen Art vortrug und sehr authentisch wirkte: „Deswegen habe ich aufgeschaut, sonst hätte ich Garnichts beobachtet!

Das reichte dem Richter. Er verlas den aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister. Der Angeklagte hat eine Eintragung: Im Januar 2017 wurde er wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen in Tateinheit mit Nötigung zu 80 Tagessätzen a 30 Euro verurteilt. Richter Müller-Hilgert las das damalige Urteil vor: Der Angeklagte begleitete einen Landsmann in die Schule dessen Sohnes, um zu dolmetschen, obwohl er so gut deutsch auch nicht kann. Der Sohn seines Bekannten hatte in der Schule mit anderen Schülern Probleme. Statt mit Lehrern zu reden, gingen die beiden Erwachsenen in der Schule auf Schüler zu. Es kam zu einem Wortwechsel, der Angeklagte packte einen 12jährigen Schüler „am Schlawittchen“, drohte ihm und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht.

Das Plädoyer der Staatsanwältin war kurz, sie sah es als erwiesen an, dass die Beweisaufnahme die Anklage bestätigte. „Das Verhalten des Angeklagten ging knapp am Paragrafen 315 b vorbei! Ich finde wenig Entlastendes, er war nicht geständig, zeigte keine Reue.“ Sie hielt die Strafe des Strafbefehls für tat- und schuldangemessen und beantragte die Verurteilung zu 55 Tagessätzen a 40 Euro und die Übernahme der Kosten des Verfahrens. Der Angeklagte sagte dazu: „Ich habe nichts Schlimmes gemacht.

Richter Müller-Hilgert verkündete sofort danach das Urteil – 90 Tagessätze a 40 Euro. Er begründete schnörkellos: Die beiden Zeugenaussagen waren in sich schlüssig, sichtlich unabgesprochen und ohne jeglichen Belastungseifer. Er sprach den Angeklagten direkt an: „Das war letztmalig eine Geldstrafe. Eine Straferhöhung zum Strafbefehl war notwendig. Der Strafbefehl geht vom reumütigen und geständigen Täter aus. Das hat man hier nicht gesehen. Die 90 Tagessätze bedeuten, dass Sie zwar eine Eintragung im Bundeszentralregister haben, aber bei Anfordern eines polizeilichen Führungszeugnisses sauber sind. Ich will Ihnen den weiteren Weg nicht verbauen, falls Sie eine neue Arbeit annehmen.“

Der Angeklagte grummelte irgendetwas in sich hinein, im Hinausgehen sagte er zum Gericht: „Wie soll ich das Bezahlen, ich bin nur ein einfacher Arbeiter, der zur Arbeit geht.

Der von seiner Erscheinung sympathisch wirkende junge Mann, schlank und mittelgroß, kurz geschnittenes blondes Haar, hat offensichtlich Probleme mit seiner Impulsivität. Sowohl rhetorisch, als auch tatsächlich kann er sich selbst in kleineren Konfliktsituation nur schwer steuern. Sollte er da nicht dazu lernen, wird er weiterhin große Probleme bekommen.

(29.05.2019 – 11:45 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Sitzungssaal 10)

A.S.