„Ich brauche Ihre Aussage nicht mehr!“

Der Angeklagte mit Verteidigerin. Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Die Verhandlung vor der Strafrichterin des Amtsgerichts Jena gegen den Schweizer Staatsbürger Robin R. sollte bereits kurz nach der Tat stattfinden, als sogenanntes beschleunigtes Verfahren. Ein Termin war schon avisiert, musste aber verschoben werden, da der Angeklagte bereits mehrfach einschlägig vorbestraft war, sodass ein normales Verfahren durchgeführt wurde. Wobei „normal“ war es gewiss nicht. Das mediale Interesse war groß, dass Thüringen Journal des mdr war mit einem Kamerateam vor Ort, ein Dutzend Zuschauer, wohl aus einem Unterstützerkreis des Angeklagten und ein großes Sicherheitsaufgebot zeigte, dass es bei diesem Verfahren um mehr ging.

Bereits am Tag der Tat – Samstag, der 18. Mai 2019 – hatte das Tatgeschehen für ein erhebliches mediales Interesse gesorgt. Tatort war das Ernst-Abbe-Sportfeld, das Jenaer Fußballstadion. Wie so oft ging es um Gewalt, wo es doch eigentlich um den Fußballsport gehen sollte. Zum terminierten Verhandlungsbeginn begann aufgrund einer sitzungspolizeilichen Verfügung der Richterin die Einlasskontrolle, jedoch war auf den Zuschauerreihen Geduld gefragt. Sowohl die Verteidigerbank war leer, auch die Richterin und der Staatsanwalt hatten ihre Plätze noch nicht eingenommen. Eine junge Frau ohne Robe saß gelassen am Richtertisch, wie sich herausstellte, war sie mit der technischen Seite des Abspielens von Videos betraut. Die ganze Szenerie sah sehr nach einem Rechtsgespräch aus. Nach gut einer halben Stunde schaute die Richterin mal rein und gab eine Zwischeninformation: Es würde noch etwas dauern.

Mit über einer Stunde Verspätung ging es dann los. Der Angeklagte wurde von vier Justizwachtmeistern aus der Haft vorgeführt. Auf der Anklageseite hatte Staatsanwalt Erdt von der Staatsanwaltschaft Gera Platz genommen, neben ihm saßen zwei Rechtsanwälte als Nebenklagevertreter. Den Angeklagten vertrat Frau Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk. Neben ihr saß der Angeklagte, eher schmächtig, kurz geschorenes Haar, ein kurz gehaltener Kinnbart. Er trug ein weißes T-Shirt, seine tätowierten Arme waren prägnant. Neben ihm saß eine Dolmetscherin, da der Angeklagte nicht ausreichend deutsch verstand. Sie übersetzte ins Französische. Richterin Wilma Göritz belehrte und vereidigte die Dolmetscherin, wobei die Zuschauer den Eindruck hatten, dass sie deutsch nicht besonders gut verstand.

Frau Göritz informierte, dass der vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger entbunden sein, und der Angeklagte von der Verteidigerin seiner Wahl vertreten wurde. Dann teilte sie mit, dass es einen Adhäsionsantrag gab. Geregelt ist dies in Paragraf 403 der Strafprozessordnung. Dann teilte sie mit, dass es eine Verständigung im Strafverfahren gegeben habe, jedoch zuerst die Personalien des Angeklagten aufgenommen werden müssen: Er ist ledig, wohnt in Lausanne und arbeitet bei der Schweizer Bundesbahn als Qualitätskontroller. Der Staatsanwalt wollte Angaben zu seinem Einkommen erfahren, dies wurde durch die Verteidigerin abgelehnt. Hier begann ein Disput, der sich durch die ganze Verhandlung zog. Der 56jährige Staatsanwalt, groß gewachsen, weißes Haar, wirkte in der gesamten Verhandlung überfordert, kommunizierte unsicher, verhielt sich defensiv. Er sprach leise, bediente sich selten einer juristischen Sprache. Statt einen Antrag zu stellen, sagte er „Ich hätte gern …“, worauf die Verteidigerin einfach „Nein“ sagte. Rechtsanwältin Pietrzyk sprach laut, klar und deutlich. Sie wirkte selbstsicher und dominierte das Geschehen. Sie bestimmte – auch vom Ablauf des Verfahrens – wo es lang ging. Die Richterin wirkte wenig souverän, teilweise unsicher. Die Verteidigerin machte mehrfach auf juristische Details aufmerksam, die von der Richterin bzw. dem Staatsanwalt aufgenommen wurden. Das wirkte zum Teil peinlich.

Dem 27jährigen Angeklagten wurde von Staatsanwalt Frank Erdt vorgeworfen, vor Beginn des eigentlichen Fußballspiels zwischen dem FC Carl Zeiss Jena und der TSV 1860 München in zwei tateinheitlichen Fällen schweren Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzungen begangen zu haben. Am Spieltag gegen 11:35 Uhr kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen sogenannten Ultras aus Jena und der Polizei. Eine Gruppe von 30 bis 40 jungen Männern bewarfen die Polizei mit Steinen, Stangen, Latten und Absperrgittern. Sie griffen die Polizei mehrfach und immer wieder an. Die Polizei wich zurück, formierte sich neu und ging wieder nach vorn. Der Angeklagte befand sich als einziger der Ultras im Stadioninnenraum, von der Polizei und der Ultragruppe durch einen hohen Zaun getrennt. Der Angeklagte war besonders gewalttätig, warf drei Mal einen neun Kilogramm schweren Holzbalken (140 cm lang, 10 x 10 cm Durchmesser) über den Zaun, gezielt auf die Polizeibeamten. Zwei Polizeibeamte wurden am Kopf getroffen, dadurch verletzt und mussten in ärztliche Behandlung, sie erlitten ein Schädel-Hirn-Trauma. Der Staatsanwalt begründete die gefährliche Körperverletzung gegen die Polizeibeamten mit dem geworfenen Balken, der als Waffe bzw. gefährlicher Gegenstand angesehen werden musste.

Die Richterin fragte bei der Verteidigung, dem Staatsanwalt und den Nebenklagevertreter nach, ob die geladenen Zeugen gehört werden müssen. Da alle drei verneinten, wurden die drei Polizeibeamten in den Saal gerufen, darunter die beiden Kommissare, welche verletzt wurden. Frau Göritz zu den Zeugen: „Ich brauche Ihre Aussage nicht mehr!

Nachdem die Zeugen den Saal verlassen hatten, ging die Richterin auf das Ergebnis der Verständigung ein: „Das Gericht stellt einen Strafrahmen von eineinhalb bis zwei Jahren Freiheitsstrafe in Aussicht, die zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wenn sich der Angeklagte umfassend geständig einlässt.“ Die Richterin belehrt den Angeklagten, indem sie eine Textpassage aus dem StPO-Kommentar verlas, dass das Gericht nicht an das Ergebnis der Verständigung gebunden ist, wenn der Angeklagte nicht umfassend aussagt bzw. dass das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, dass der Prognose des Gerichts zugrunde gelegt worden ist. Darüber hinaus teilt sie mit, dass zwischen den Nebenklagevertretern und der Verteidigung ein Vergleich über die Schadensersatzregulierung getroffen wurde.

Dann bekam der Angeklagte das Wort. Für ihn verlas seine Verteidigerin eine Erklärung: „Ich habe die besagten Gegenstände geworfen. Diese haben die beiden Polizeibeamten getroffen. Ich bedauere, dies getan zu haben und möchte mich entschuldigen.“ Staatsanwalt Erdt erwiderte: „Zum schweren Landfriedensbruch muss er auch etwas sagen.“ Die Verteidigerin: „Das ist eine Rechtsfrage, deswegen schauen wir uns die Videos an!“ Der Staatsanwalt, wieder sehr leise, fast unsicher: „Das war aber mit angeklagt.“ Frau Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, etwas lauter und ungehalten: „Ich habe während der Verständigung zwei Mal gesagt, was er sagen wird!“ Damit gab sich der Staatsanwalt zufrieden, die Richterin hörte – unverständlicherweise – dem Disput wortlos zu.

Dann wurden die beiden polizeilichen Videos abgespielt. Dank professioneller Begleitung auf einer großen Leinwand mit gutem Bild und Ton. Sehr deutlich waren die in der Anklage vorgeworfenen Taten zu sehen. Die Polizei, in Unterzahl, wurde hart attackiert.

Im sogenannten Selbstleseverfahren wurden die ärztlichen Atteste der beiden geschädigten Polizeibeamten in die Verhandlung eingeführt. Dann bat der Staatsanwalt darum, dass der Schweizer Bundeszentralregisterauszug verlesen wird. Da der Staatsanwalt nur darum bat, war es eine gute Gelegenheit für die Verteidigerin, dem nicht zuzustimmen. Nach längerem Hin und Her las die Richterin doch Auszüge daraus vor: Der Angeklagte war mehrfach einschlägig vorbestraft, bereits seit 2005 war er in der Schweiz mit vergleichbaren Delikten aufgefallen, immer in Zusammenhang mit Sportveranstaltungen. Zu Hause soll er umfangreiche Stadionverbote haben.

Was macht ein Schweizer eigentlich im Jenaer Fußballstadion? Im Selbstverständnis der Fans gibt es zu anderen Fangemeinschaften „Freundschaften“ und „Feindschaften“. Die Ultras des Lausanner Eishokey-Club „Section Ouest“ haben eine Fanfreundschaft mit der „Horda Azzuro Ultras 2001“ – den Ultras des FC Carl Zeiss Jena. Obligatorisch sind bei solchen Fanfreundschaften gegenseitige Besuche der jeweiligen Spiele. Wohl nicht nur.

Dann plädierte der Staatsanwalt: „Ich muss mit meiner Kindheit anfangen. Ich bin  Fußballfan, seit meiner Kindheit.“ Hatte er das wirklich gesagt? Ja – und es wurde noch schlimmer. Er erzählte, dass er mit seinen Sohn immer zum Fußball gegangen war, auch seien sie zu den Auswärtsspielen gefahren. Wörtlich: „Wenn wir zu Fußballspielen fuhren und wir waren mitten drin, dass machte Spaß, da brauchte man das Spiel nicht!“ Sein Sohn, jetzt erwachsen, hat sich während seines Studiums auch mit Fußballfans beschäftigt, hatte eine Arbeit über Ultras geschrieben. „Ultras findet er gut, ich auch. Aber Ultras sind nur gut, wenn sie dem Sport dienen. Und hier dienen sie nicht dem Sport.

Ja, das sind Aussagen, die man von einem Ankläger nicht erwartet. Ob er je in der Mitte von Ultras bei einem Fußballspiel gewesen war, ist fraglich. Wenn doch, muss man erheblich an seinem Urteilsvermögen zweifeln: Wie kann man Hassgesänge, Schmähungen der gegnerischen Mannschaft und deren Fans, Beschimpfungen der Schiedsrichter und Drohungen gegen die Polizei – schlicht gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – als „gut“ empfinden?

Dass die Ultras  – genau wie die Hooligans – das Fußballspiel selbst nicht brauchen, stimmt jedoch. Wie kann es sonst zu „Dritt-Ort-Auseinandersetzung“ kommen? Hier geht es selten um Sport, im Mittelpunkt stehen Gewalt, Aggression, Konflikteskalation und immer wieder Gewalt. Da ist der tatsächliche Unterschied zu Hooligans marginal, auch wenn dies dem Selbstbild der Ultras nicht entspricht. Aber: An ihren (Straf-)Taten sollt ihr sie messen!

Zurück zum Plädoyer des Staatsanwalts: „Wenn wir hier nur zur gefährlichen Körperverletzung kommen, dann ist es zu fünfzig Prozent Glück.“ Der Satz war schwer zu verstehen, vermutlich meinte er, dass durch die Tathandlungen schlimmere Verletzungen möglich gewesen wären. Wenn er dies so meinte, war seine Formulierung nicht nur schwach, sondern wenig justiziabel. Anschließend sagte er: „Ich bin mir auch sicher, dass er nur werfen wollte.“ Was soll hier „nur werfen“ aussagen? Unklar. Besser wäre es gewesen, wenn er in seinem Plädoyer die Tatbestände subsumiert hätte, mit ihren tatsächlichen, aber auch mit ihren möglichen Folgen.

Zum schweren Landfriedensbruch erläuterte Staatsanwalt Erdt: „Wenn wir jetzt über den schweren Landfriedensbruch reden, dann stellen wir fest, dass er als Teil einer Gruppe gehandelt hat. Der Angeklagte hatte den Vorteil, dass er als Einziger im Innenraum war und so systematisch die Anderen der Gruppe unterstützt hat. Er hatte mehrfach geworfen. Es erfüllt den Tatbestand des schweren Landfriedensbruchs, der Angeklagte hatte Glück, dass der Balken so gefallen ist, dass er zwei Polizeibeamte quer getroffen hat. Es hätte auch anders kommen können. Und trotzdem sind die Helme kaputt gegangen.

Diese Helme wären geeignete Objekte für eine Inaugenscheinnahme gewesen, ebenso der geworfene Holzbalken. Diese Gegenstände als Beweismittel in das Verfahren einzubringen, hätte Wirkung erzielt. Denn selbstverständlich hätten sich die Polizeibeamten noch weitaus schlimmere Verletzungen zuziehen können. Dies wurde deutlich, als die Sprache darauf kam, aus welcher Situation geworfen wurde: Der Angeklagte warf von schräg hinten die Gegenstände gegen die Polizei. Er war außerhalb des Blickfeldes der Polizei, diese konzentrierten sich auf die gegenüber agierende Menschenmenge, verteidigten sich, setzten erst später den Wasserwerfer ein. Für das Handeln des Angeklagten gibt es passende Begriffe: Hinterhältig und arglistig!

Dann erklärte der Staatsanwalt, wie er an das Verfahren gekommen war. Das ist bis auf eine Bemerkung uninteressant: „Er versicherte mir, nicht vorbestraft zu sein.“ Dann rechtfertigte er sich, indem er erläuterte, warum er dem „Deal“ zustimmte mit der Einleitung „Es ist mir schwergefallen.“ Für ihn war ausschlaggebend, dass der Angeklagte von Anfang an geständig war. Kein Wunder, bei der Beweislage, die polizeilichen Videos dokumentieren seine Taten überdeutlich. Auch, so glaubte der Staatsanwalt, wären die knapp vier Wochen Hafterfahrung ausreichend. Zudem waren die Schweizer Vorstrafen zwar einschlägig, aber nur Geldstrafen. Er resümierte: „Man hätte genauso gut das Gegenteil fordern können!“ Hier bleibt völlig im Dunkeln, was er damit meinte. Er schloss mit den Worten: „Und es war knapp. Ich beantrage eine vierjährige Bewährungszeit und Stadionverbot für ganz Deutschland.“

Die Nebenkläger plädierten nacheinander, wobei Herr Rechtsanwalt Gutte ausführte: „Ob mein Mandant seinen Beruf noch so ausüben kann, wie zuvor, ist offen. Ob er noch unbeschwert in der vordersten Linie einer wilden Horde gegenüberstehend die Anweisungen seiner Dienstleiter erfüllt, dass wird die Zukunft zeigen.

Das Plädoyer von Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk war insofern bemerkenswert, dass sie gleich zu Beginn auf Konfrontation ging: Ja, an diesem Tag sind Menschen, auch Frauen und Kinder, traumatisiert worden. Sie zitierte eine Pressemitteilung der Blau-gelb-weißen Hilfe, darin behaupten die Vertreter der Fans, dass der Polizeieinsatz diese Traumatisierungen ausgelöst hat. Sie stellte weiter fest, dass der schwere Landfriedensbruch nicht erfüllt ist. „Da muss man nicht tief graben, dass der Grundtatbestand nicht erfüllt ist, sieht man schon im Handkommentar, da muss man aus einer Menge heraus handeln, und das hat er nicht getan.“ Dann relativierte sie die Verletzung der Polizeibeamten als „nicht so schlimm“ und „ohne klinischen Befund“. Sie beantrage die Aufhebung des Haftbefehls und hielt eine Bewährungsverurteilung zu  eineinhalb Jahren für angemessen.

Richterin Wilma Göritz verkündete eine einstündige Unterbrechung: „Da können Sie Mittag essen gehen, wir haben hier unten eine Kantine.

Ihr Urteil: Ein Jahr und acht Monate Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf vier Jahre Bewährung, Erfüllen des zivilrechtlichen Vergleichs (die Zahlung von jeweils 2.000 Euro an die beiden verletzen Polizeibeamten) sowie ein deutschlandweites Stadionverbot bei Sportveranstaltungen. Der Angeklagte wurde „nur“ wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, nicht wegen schweren Landfriedensbruchs. Die Richterin schloss sich damit der Rechtsauffassung der Verteidigerin an.

Da hat der Bundesgerichtshof schon 2016 anders entschieden. Aus den amtlichen Leitsätzen (BGH, Urt. v. 24.05.2017 – 2 StR 414/16):   

„Strafbarkeit wegen Landfriedensbruchs setzt weder Täterschaft bei der Begehung von Gewalttätigkeiten noch die Zugehörigkeit des Beteiligten zur Menschenmenge zurzeit der Gewalttätigkeiten voraus.

Eine räumliche Distanzierung von der Menschenmenge nach Erbringung von Beihilfehandlungen unmittelbar vor Beginn der Gewalttätigkeiten hebt die Strafbarkeit wegen Landfriedensbruchs nicht auf.“

Rechtsgespräche, in deren Folge Verständigungen entstehen, haben immer einen gewissen Makel. Hier war der Verzicht auf eine halbwegs ordentliche Beweisaufnahme extrem schädlich. Ein gewaltbereiter sogenannter Fan wurde nicht weger des schwerer wiegenden Delikts verurteilt.

Aus Ermittlerkreisen wurde bekannt, dass der Angeklagte am gleichen Tag am Roten Turm in Jena mit Flaschen auf Polizeibeamte geworfen hatte. Warum der Staatsanwalt diese Akte zur Verhandlung nicht beigezogen hatte, bleibt sein Geheimnis. Obwohl – er findet Ultras ja gut.

(26.06.2019 – 10:30 Uhr, Amtsgericht Jena)

A.S.