„Hier erfahren wir Nichts mehr.“ Richter Claus-Peter Behlau – Teil I

Amtsgericht Apolda, Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Das Amtsgericht Apolda in der Jenaer Straße 8 ist ein altehrwürdiger gelber Backsteinbau, sorgfältig restauriert, thront er auf einer kleinen Anhöhe neben dem Schloss. Hier ist der 64jährige Claus-Peter Behlau Chef, genauer gesagt, ist er Direktor des Amtsgerichts Apolda. Die Zuständigkeit dieses Gerichtes ist ein Relikt Thüringer Verwaltungs- und Kommunal-gebietsreformen: Es ist für den alten Landkreis Apolda zuständig. Dieses vergleichsweise kleine Amtsgericht verfügt über kein Schöffengericht, Schöffensachen werden durch das Amtsgericht Weimar verhandelt. Neben seinen Leitungs- und Verwaltungsaufgaben ist der Direktor in erster Linie Einzelrichter. Seine in vielen Jahren als Richter angesammelten Erfahrungen waren ihm anzumerken, er strahlte eine ruhige, fröhliche und gelassene Souveränität aus. Der Beginn der auf 9 Uhr terminierten Verhandlung verzögerte sich etwas, die Verteidigerin hatte sich verspätet. Frau Dr. Stefanie Ernst kam aus Erfurt, sie war ein verkehrsbedingtes Opfer von Mäharbeiten geworden. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Börries Glanz, er hatte an diesem Tag in Apolda Sitzungsdienst. Er fiel nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Vornamens auf.

Bevor es so richtig losging, erläuterte Richter Behlau, warum es überhaupt eine öffentliche Hauptverhandlung gab. Eigentlich, so der Richter, sollte das Verfahren durch Strafbefehl abgeschlossen werden: „In 99 Prozent der Fälle gehen die Strafbefehle von der Staatsanwaltschaft durch. In diesem Fall habe ich aber beim Lesen gezuckt. Deshalb habe ich mir das Ding genauer angesehen.“ Zum Angeklagten direkt gerichtet: „Was die mögliche Strafe betrifft, eher zu Ihren Gunsten!“ Zuerst aber werden die Personalien aufgenommen. Der 56jährige Matthias Z. ist bei einem respektablen Arbeitgeber in einer Vertrauensstellung beschäftigt. Er ist nicht vorbestraft. Allgemein macht er einen seriösen und gediegenen Eindruck.

Staatsanwalt Glanz verliest die Anklage, quasi wortgleich mit dem Strafbefehl. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im Sommer 2018 in Apolda mit einem Kraftfahrzeug beim Wenden ein anderes, dort parkendes Kraftfahrzeug, beschädigt zu haben. Obwohl, so die Staatsanwaltschaft, er diesen Unfall bemerkt haben musste, entfernte er sich mit seinem Fahrzeug, verließ die Unfallstelle, ohne zuvor anzuhalten. Strafbar als unerlaubtes Entfernen vom Unfallort gemäß Paragraf 142 Absatz 1 Strafgesetzbuch, umgangssprachlich auch Unfallflucht genannt. Es war ein Schaden von 1.650 Euro entstanden.

Richter Behlau fragte, ob sich der Angeklagte äußern wolle. Seine Verteidigerin: „Ja, er will und er kann!“ Herr Z. schilderte den betreffenden Tag. Er hatte in einer schmalen Straße in Apolda im Auftrag seines Arbeitgebers zu tun, fuhr mit dem dienstlichen Transporter, ein Fahrzeug, das er nur gelegentlich nutzt. Da diese Straße nicht nur schmal, sondern auch eine Sackgasse war, musste er am Ende wenden. Nach Erledigen seines Auftrags ist er wieder in die Firma gefahren. Von einem Unfall habe er nichts bemerkt, weder gehört noch gefühlt.

Beamte der Polizeiinspektion Apolda hatten ihn dann auf Arbeit angerufen und mitgeteilt, dass er einen Unfall mit dem Transporter verursacht hätte. Er ist daraufhin zum Transporter gegangen, hat keinen Schaden festgestellt  und ist dann zu der „Wendestelle“ gefahren, wo die Polizei schon auf ihn wartete.

Richter Behlau bat zur Inaugenscheinnahme der Lichtbildmappe an den Richtertisch. Anschließend der Richter: „Da wir uns nun alle einen Eindruck von der Örtlichkeit gemacht haben, können wir fortfahren.“ Und zum Angeklagten gerichtet: „Wie war das nun?“ Herr Z.: „Ich kann nur das sagen, was mir die Polizei gesagt hat. Ich hätte mit einem Rad das andere Fahrzeug leicht berührt, da ist hinten rechts meine Radkappe abgefallen.“ Der Richter: „Die Frage ist jetzt, an der alles hängt, die Bemerkbarkeit!“

Staatsanwalt Glanz stellte ein paar gezielte Fragen, die in diese Richtung gingen: „Wie alt ist der Transporter?“ – „Zwölf Jahre alt!“ Weiter Herr Glanz: „Hat der Transporter eine Trennwand zur Ladefläche?“ Herr Z.: „Ja, das Fenster in dieser Trennwand ist aber zugemacht worden.“ Der Staatsanwalt: „Welcher Straßenbelag ist an dieser Stelle vorhanden?“ Darauf antwortet der ortskundige Richter: „Asphaltflickwerk!“ Herr Glanz stellte noch weitere Fragen, es hatte fast den Eindruck, er wollte überwiegend den Angeklagten entlasten („Hatten Sie das Fenster geöffnet?“ – „Nein!“/“Hatten Sie das Radio an?“ – „Möglich, weiß ich nicht mehr“). Richter Behlau wollte wissen, ob der entstandene Schaden reguliert sei. Der Angeklagte: „Ja, ich habe es sofort der Versicherung gemeldet, der Schaden ist reguliert! Ohne Probleme.“ Der Richter: „Das kenne ich oft anders. In der Akte ist auch keine Anfrage der Versicherung.“ Der Angeklagte ergänzt: „Ich hätte auch keinen Grund, meinen Arbeitgeber einen Unfall zu verheimlichen.“

Nun wurde der einzig geladene Zeuge gehört, der 32jährige Herr H. Er hatte den Unfall beobachtet und die Polizei verständigt: „Ich bin mit meinen Kleinen Spazieren gegangen, da ist der Transporter beim Wenden an den VW angestoßen, die Radkappe des Transporters lag dort.“ Richter Behlau: „Haben Sie wahrgenommen, was der Fahrer gemacht hat?“ Der Zeuge: „Nein, nach meiner Meinung müsste er es bemerkt haben. Ich bin mal bei Hermes gefahren. Da merkt man, wenn man mit einem Transporter irgendwo dagegen fährt.“ Der Richter wollte weiter wissen: „Bei der Polizei haben Sie ausgesagt, dass es beim Unfall einen Knall gegeben hat. Ein Knall ist ja ein sehr lautes Geräusch. Haben Sie bei der Polizei das Wort „Knall“ benutzt?“ Der Zeuge: „Das weiß ich nicht mehr, das ist ja auch schon ein Jahr her.“ Er schilderte noch, dass er mit seinem eineinhalb Jahre alten Sohn dort war, ein Kinderwagen und ein kleines Fahrrad dabei hatte. Auf Nachfragen verneinte er, selbst gefährdet gewesen zu sein. Schließlich Richter Behlau: „Hier erfahren wir Nichts mehr.

Der Richter war sichtlich bemüht, den Sachverhalt wirklich aufzuklären, dass polizeiliche Ermittlungsergebnis stellte ihn nicht zufrieden. Eine Tendenz zeichnete sich ab – er hielt den Angeklagten für unschuldig. Da war er nicht der Einzige. Das ungute Gefühl beim Durcharbeiten der Akte hat ihm Recht gegeben. Die Beweisaufnahme war abgeschlossen. Das Bundeszentralregister hat zu Herr Z. keine Eintragungen, auch keine Verkehrssachen. Der Staatsanwalt plädierte auf Freispruch: „Er fuhr einen alten klapprigen Transporter, er konnte es aufgrund der konkreten Situation nicht bemerken. Somit ist die Anklage nicht bewiesen.“ Die Verteidigerin konnte sich natürlich nur anschließen.

Herr Behlau konzentrierte sich: „Das muss ich jetzt nur noch in einen schönen Satz zusammenfassen.“ Alle erhoben sich, er verkündete einen Freispruch, die Verfahrenskosten übernimmt die Staatskasse. Er resümierte den Beginn der Hauptverhandlung, seine Gedanken zum Strafbefehl der Staatsanwaltschaft. Die hatte sechs Monate Fahrerlaubnisentzug beantragt. Der Richter: „Das hätte ich nicht gemacht, sondern eher Fahrverbot, wenn die Anklage bewiesen wäre.“ Und nochmals deutlich: „Wegen dieser drastischen Rechtsfolge habe ich den Strafbefehl angehalten.

Da ist dem Richter nur zuzustimmen! Es ist beruhigend, wenn man weiß, dass in der Strafjustiz verantwortungsvolle Menschen als Richter und Staatsanwälte tagtäglich mit viel Sach- und Menschenkenntnis auch äußerlich unscheinbaren  Sachverhalten auf den Grund gehen.

Über die anschließende Verhandlung am Amtsgericht Apolda wird in der kommenden Woche berichtet.

(04.06.2019 – 09:00 Uhr, Amtsgericht Apolda, Verhandlungssaal 51)

A.S.