„Hat mich dann volle Kanne überfahren!“

Die Urteilsverkündung (Blidrechts: www.gerichtsalltag.de)

Tatort Apolda. Es war im Sommer des letzten Jahres – Donnerstag, der 25. Juni 2020 – an sich ein schöner Tag, sonnig und warm, am späten Nachmittag etwas Regen, abends noch sommerliche 24 Grad.

Der damals 38jährige Polizeiobermeister Benjamin H. hatte zusammen mit zwei jüngeren PolizeibeamtInnen Dienst, er war ihr Truppführer, angesiedelt bei der sogenannten ESU, der Einsatzunterstützung bei der Landespolizeiinspektion (LPI) Jena. Diese ESU-Beamten führen meist sogenannten Schwerpunkt-Dienst durch, sie sind für den gesamten Schutzbereich der LPI zuständig. Während der normale Streifendienst in den Polizeiinspektionen durch jeweils zwei PolizeibeamtInnen durchgeführt wird, sind es bei der ESU überwiegend vier bis sechs.

An diesem Abend führten die drei in Apolda in der Nähe des Bahnhofes Verkehrskontrollen durch. Kurz vor Ende der Kontrollen fiel ihnen ein PKW Polo auf. Bereits durch die Buchstabenkombination „J- RP“ des Kennzeichens hatte Benjamin H. die Vermutung, dass es sich bei dem PKW um ein Fahrzeug handelte, welches dem jetzt Angeklagten Rico P. gehörte. Der Dienstbezirk der Landespolizeiinspektion Jena ist zwar nicht klein, aber erfahrene Beamte kennen ihre Pappenheimer. Er gab den anderen Beiden eine entsprechende Anweisung, sie brachen die aktuelle Kontrolle ab und fuhren mit ihren Funkstreifenwagen vom Typ VW T 6 zu dritt hinter dem VW Polo her, denn Polizeiobermeister H. wusste sicher, dass der Besitzer keinen Führerschein hatte.

Am Freitag, den 9. April 2021 verhandelte die 1. Strafkammer des Erfurter Landgerichts unter den Vorsitzenden Richter Markus von Hagen gegen den 39jährigen Rico P. wegen versuchten Mordes!

Bereits im November 2020 verhandelte diese Strafkammer gegen einen Angeklagten, dem versuchter Mord vorgeworfen wurde. Letztlich wurde der 32jährige wegen gefährlichen Körperverletzung und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre wegen versuchten Mordes gefordert. Der Angeklagte, der auch wegen zweier Drogendelikte verurteilt wurde, hatte sich im April 2019 einer Polizeikontrolle widersetzt und mit seinem Auto mehrere Fahrzeuge gerammt. Danach fuhr er auf Polizisten zu, die sich durch Sprünge an die Seite in Sicherheit brachten.

Auch die aktuell verhandelten Straftaten hatten ein starkes mediales Interesse. Dabei spielte eine besondere Rolle, dass der Tatverdächtige, welcher den Polizeibeamten mit seinen PKW VW Polo zweimal an- bzw. überfahren hatte, fliehen konnte. Der Mitteldeutsche Rundfunk berichtete unter der Überschrift: „Beine eines Polizisten in Apolda überrollt – Fahndung läuft noch immer“ – aber auch überregional war es ein Thema: „Brutale Szenen bei Verfolgungsjagd. Mann entzieht sich Kontrolle, indem er Polizisten mit Auto überrollt – mehrmals“.

Nach dem Täter wurde fast zwei Tage intensiv gefahndet, bis er endlich in Jena festgenommen werden konnte. Die damalige Sprecherin der Landespolizeiinspektion Jena, Polizeihauptkommissarin Steffi Kopp, sagte nach der Festnahme des Tatverdächtigen gegenüber der BILD-Zeitung: „Seit 2009 gibt es Anzeigen gegen den Beschuldigten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Die war ihm wegen Drogenkonsums entzogen worden. Außerdem wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung.“ Zu sehen ist ein Foto des damaligen Beschuldigten, wie er nach seiner Festnahme von Kriminalbeamten in das Justizzentrum Erfurt zur Haftvorführung gebracht wird. Natürlich geht sowas nicht ohne die entsprechende Überschrift: „Der Mann in Handschellen wollte einen Polizisten töten!“

Der 59jährige Vorsitzende Richter am Landgericht, Markus von Hagen, führte zusammen mit den anderen beiden BerufsrichterInnen, Herr Jürgen Linder und Frau Claudia Jünger sowie die Schöffen, Frau Fricke und Herr Brucker, souverän durch die insgesamt zehn Verhandlungstage.

Am 08. Juli 2021 verkündete der Vorsitzende Richter das Urteil: Acht Jahre Freiheitsstrafe und fünf Jahre Fahrerlaubnissperre sowie 20.000,- € Schadenersatz im Adhäsionsverfahren, einschließlich auch noch eintretender Schäden.

Was war passiert? In akribischer Kleinarbeit wurde der Tatablauf vom Erkennen des VW Polo, der anschließenden Verfolgungsfahrt und letztlich die Haupttat untersucht. Dabei wurde das Gericht durch mehrere Sachverständige unterstützt. Die psychiatrische Exploration hatte die Sachverständige Privatdozentin Dr. Iris Maurer, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, übernommen. Das gerichtsmedizinische Gutachten erstattete Frau Nneka Schwimmer-Okike. Dr. Holger Muggenthaler, ebenfalls vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Jena, wurde als Biochemiker für die verletzungsmechanischen Fragestellungen hinzugezogen und das technische Gutachten erstattete der Unfallanalytiker der DEKRA, Herr Daniel Bismann. Die Anklage vertrat Oberstaatsanwalt Rainer Kästner-Hengst von der Staatsanwaltschaft Erfurt.

Der Angeklagte wurde von den Rechtsanwälten Andreas Schiller und Andreas Wiese (beide Jena) vertreten.

Benjamin H., der durch den Angeklagten geschädigte Polizeibeamte, der an allen zehn Verhandlungstagen, begleitet von seiner Ehefrau, am Prozess teilnahm, ließ sich als Nebenkläger durch Rechtsanwalt Markus Gutte (Erfurt) vertreten.

Die Tat war am 25. Juni 2020, von Ende März bis Anfang Juli 2021 wurde verhandelt. Warum erst jetzt diese Gerichtsreportage? Die einfache und schwere Antwort: Ich war unzufrieden. Irgendetwas fehlte. Der bisherige Text wurde der Sache nicht gerecht.

Das lag insbesondere am „Opfer“. Ganz bewusst schreibe ich dies in Anführungszeichen, denn Benjamin H. sieht sich als alles Andere, aber nicht als klassisches Opfer. Er hatte vorschriftsmäßig seinen Dienst verrichtet und selbst, als er schwer verletzt am Boden lag, noch klare Anweisungen zur Beweissicherung gegeben und über Funk einen knappen Lagebericht an die Zentrale erstattet. Er wurde schwer verletzt, er wurde stark an der Gesundheit geschädigt, aber eine Opferrolle hat er nicht angenommen und nimmt er auch nicht an. Mit starkem Interesse hat er die gesamte Verhandlung verfolgt. Er hat zweimal als Zeuge ausgesagt und mit seiner Art, von der Tat zu berichten, das Gericht und die Zuhörer beeindruckt. Seine klare und sehr deutliche, wenn nicht gar laute Aussprache („Ich rede immer so laut, wird mir häufig vorgeworfen, ich kann nicht anders.“) hat durch Rationalität überzeugt. Im Gerichtssaal war den meisten klar: Hier steht ein Staatsdiener, der tatsächlich dem Staat dient: In aller Regel unauffällig, ohne großes Gewese, er hat Pflichten, diese erfüllt er. Er kennt die Gesetze und Vorschriften – und er hält sich selbstverständlich daran. Zu einem solchen Polizeibeamten muss man einfach Hochachtung haben. Trotz aber auch und gerade wegen dem, was ihm widerfuhr.

Bereits während der Verhandlung entstand der Gedanke, Benjamin H. in einer Verhandlungspause anzusprechen. Es erschien mir nicht tunlich, denn bei aller Ruhe und Souveränität, der er ausstrahlte, musste ihm die Verhandlung, insbesondere das Verhalten des Angeklagten und seiner Anwälte, mächtig zugesetzt haben. – Letztlich hatten wir erst kürzlich ein langes Gespräch, einige Inhalte lasse ich hier einfließen, dass meiste ist einfach privat.

Jedoch zuerst zurück zur Gerichtsverhandlung: Zum Verhandlungsbeginn stellte der Vorsitzende fest, dass zu viele Personen im Gerichtssaal waren, das Interesse der Medien war erwartungsgemäß hoch, die Polizei hatte einen Prozessbeobachter entsandt und in einer Pause musste geklärt werden, wie es weiter gehen sollte. Das Gericht entschied souverän: Es wurden die Abstandsregeln eingehalten und die freien Plätze auf der Verteidigerseite wurden genutzt, sodass niemand abgewiesen werden musste.

Nach weiteren Formalien stand der Tatvorwurf im Mittelpunkt: Rico P. war angeklagt wegen tateinheitlichen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung, schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, verbotenen Kraftfahrzeugrennen, tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sowie vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.

Wie eingangs geschildert, fuhr der Trupp von Polizeiobermeister Benjamin H. in ihrem Dienstfahrzeug hinter dem VW Polo her, um den PKW anzuhalten und einer Verkehrskontrolle zu unterziehen. Als an einer Kreuzung in der Nähe des Apoldaer Viadukts, einer 1847 eingeweihten beeindruckenden Eisenbahnbrücke, der PKW an der rot zeigenden Ampel hielt, schaltete Benjamin H. als Beifahrer die gut hör- und sichtbaren Anhaltesignale am Dienstfahrzeug an. Der Fahrer des Polos bemerkte dies offensichtlich, hielt aber nicht an – im Gegenteil – er beschleunigte stark, um sich einer Kontrolle zu entziehen. Dabei fuhr er mit überhöhter Geschwindigkeit durchs Stadtgebiet von Apolda und überfuhr mehrfach rot zeigende Ampeln. Oder wie Benjamin H. als Zeuge aussagte: „Dann begann die wilde Fahrt quer durch Apolda.“

Der Vorsitzende wollte die Zeugenaussage visualisieren, indem die Lichtbilder aus der Akte über den Beamer von allen in Augenschein genommen werden sollten. Das klappte aber nicht, der Kampf mit der Technik ging wieder mal vor einem Thüringer Gericht verloren. Jedoch half der technische Sachverständige aus: „Ich hab Google Maps drauf.“ So konnten sich alle ein Bild vom Geschehen machen – kurz.
Da hatte sich der Beamer gerade runtergefahren. Der Vorsitzende griff zum Telefon: „Können Sie jemand hochschicken, der uns zeigt, wie der Beamer funktioniert?“ Ein Justizwachtmeister kam, aber er konnte nicht helfen – sehr peinlich!

Jedoch zurück zum Tatgeschehen: Der Angeklagte fuhr dann von der Karl-August-Straße rechts in die Weilandstraße ein, immer noch verfolgt vom Polizeifahrzeug. Pech nur, die Weilandstraße ist eine Sackgasse, was er nach wenigen Metern erkennen musste. Er fuhr rückwärts und stieß mit dem Polizeifahrzeug zusammen, welches ebenfalls in die Weilandstraße eingebogen war und quasi hinter ihm stand. Der Angeklagte fuhr wieder zwei bis drei Meter vor und stoppte das Auto. Die Lage war hoffungslos! Rechts und links standen geparkte Autos, vor ihm die Sackgasse, hinter ihm die Polizei. Auch Benjamin H. glaubte, dass die Flucht hier endete. „Ich bin hingerannt und hab laut geschrien: Polizei! Stopp jetzt! Aussteigen!“. Polizeiobermeister H. hatte keine Zweifel, gehört zu werden – er wird immer gehört. Der Zeuge Benjamin H. weiter: „Er hat dann stark nach rechts eingeschlagen und ist Vollgas rückwärts gefahren. Hat mich dann volle Kanne überfahren!
Sein linker Fuß wurde vom linken Vorderrad des Polos überrollt, er stürzte zu Boden, schleppte sich aus der vermeintlichen Gefahrenzone heraus ca. zehn Meter in Richtung Karl-August-Straße, wo er zum Liegen kam. Die beiden anderen Polizisten verließen sofort das Dienstfahrzeug, als sie sahen, dass ihr Kollegen überfahren wurden. Dabei vergaß Polizeimeisterin St. als Fahrerin, das Automatikgetriebe auf die Park-Stellung zu schieben. Im Aussteigen bewegte sich das Fahrzeug nach vorn und kollidierte mit einem geparkten PKW.

Der PKW des Angeklagten stand kurz in der Karl-August-Straße in Fahrtrichtung des am Boden liegenden Benjamin H., der die Situation vor Gericht plastisch schilderte: „Ich lag in der Karl-August-Straße, mit dem Kopf zur Fahrbahnmitte, die Füße in Richtung Bordstein. Meine Blickrichtung war stadteinwärts. Ich lag ungewollt in einer Art Schonposition auf der rechten Körperhälfte. Gefühlt Sekunden später hatte ich das nächste Problem: Ich sah das Fahrzeug des Herrn P., die Scheinwerfer auf mich gerichtet. Und dann ging’s volle Pulle vorwärts, auf mich zu. Ich dachte: Das geht jetzt doch nicht… Er fuhr schnurgeradeaus auf mich zu. Ich hab versucht, aus der Gefahrenzone zu kommen, hab mich etwas zur Seite gewälzt und laut geschrien. Später sagte mir ein Kollege, ich hätte geschrien: ‚Scheiße, der überfährt mich!‘ – Dabei musste er mich auf jeden Fall gesehen haben, ich habe geleuchtet wie ein Maikäfer.“ (Er trug seine Einsatzuniform und eine stark reflektierende Warnweste.)

Der Angeklagte setzte seine Fahrt unvermindert fort, hatte auf seiner Flucht noch einen kleineren Unfall mit einem geparkten PKW. Er ließ den Polo stehen, flüchtete zu Fuß weiter und wurde nach einer intensiven Fahndung am 27. Juni 2020 vorläufig festgenommen.

Benjamin H. ist notärztlich versorgt wurden, hat vor Schmerzen geschrien, wie er dem Gericht sagte. Das Wadenbein war gebrochen, er wurde früh um 4 Uhr notoperiert. Er hatte weiterhin eine Sprunggelenkfraktur und eine Mittelfußfraktur erlitten. Schon nach 2 ½ Tagen ist er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Da er noch große Schmerzen hatte, hat er ein anderes Krankenhaus aufgesucht, sich eine zweite Meinung eingeholt. Dort erfuhr er, dass der Wadenbeinbruch nicht versorgt wurde. Der Arzt sagte ihm: „Wir sind zwar nur ein kleines Provinzkrankenhaus, aber so hätten wir das nicht gemacht.“
Dem Gericht schilderte er seine aktuelle Situation: „Ich hatte insgesamt drei Operationen, zwei Rehas, zwei Operationen folgen noch. Meine Bewegungsmöglichkeiten sind immer noch eingeschränkt, habe immer noch starke Schmerzen. Und es wird wahrscheinlich nie wieder weggehen, es dauert schon zu lange. Ich bin immer noch dienstunfähig, es wird auch nicht wieder so, wie es war.“ (Dabei brach seine Frau, sonst tapfer neben ihm sitzend, in Tränen aus.) Es zehrt, es nagt. Alles, was man früher selber machen konnte, müssen nun andere machen. Mein Leben ist versaut!

Die vom Gericht bestellten Sachverständigen machten einen super Job. Gemeinschaftlich wiesen sie mit professionellen Sachverstand akribisch nach, dass der Rico P. die ihm zur Last gelegten Taten vorsätzlich begangen haben muss. Die am Tatort zahlreich gesicherten und vom Landeskriminalamt Thüringen ausgewerteten Spuren begründeten und ergänzten die Sachverständigenaussagen. Besonders die Expertise des technischen Sachverständigen Bismann war beeindruckend. Den Tatvorwürfen angemessen, führte er eine Vielzahl von Untersuchungen, Messungen und Experimenten durch, welche er durch Lichtbilder und Skizzen in seinem Gutachten vor Gericht überzeugend präsentierte. Das Nachstellen der Haupttat mit einer dem Polizeiobermeister H. in Größe und Bekleidung darstellenden Puppe brachte das eindeutige Ergebnis: Der Angeklagte Rico P. muss ihn auf der Straße liegend gesehen haben und fuhr direkt auf ihn zu. Nur durch die Ausweichbewegung konnte sich der Polizeiobermeister Benjamin H. retten.

Rico P. ist kein unbeschriebenes Blatt: Sein Bundeszentralregisterauszug weist acht Vorstrafen aus, überwiegend wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, darunter auch bereits eine sogenannte Polizeiflucht. Er hatte also einschlägige Vorstrafen, einschlägige Erfahrung mit Verfolgungsfahrten mit der Polizei, stand unter laufender Bewährung – war also Bewährungsversager. Das Gericht hatte auch die Bewährungshelferin Simone Wannags vernommen, aber sie konnte keine wesentlich neuen Erkenntnisse beisteuern, jedoch konnte sie seine Schutzbehauptung, alkohol- und drogenabhängig zu sein, nicht bestätigen. Immerhin.

Auch die anderen Zeugen konnte zur Sachverhaltsaufklärung wenig beitragen. Besonders deutlich wurde dies – man höre – bei seiner Beifahrerin. Ja, eine Freundin von ihm war mit im PKW, hatte sich aber im Fußraum versteckt, als es kritisch wurde und hat angeblich nichts gesehen. Als regelmäßige Drogenkonsumentin war nicht viel zu erwarten…
Einer der Zeugen bleib aber im Gedächtnis, Matthias W. aus Apolda. Zur Tat selbst konnte er eh nichts sagen, er war der „Fluchthelfer“. Obwohl sich Oberstaatsanwalt Kästner-Hengst alle Mühe gab, besonders über den Grund, den der Rico P. dem Zeugen über den Fluchtgrund angab – bei diesem professionellen und böswilligen Lügner prallte alles ab. Seine Lieblingsantwort: „Nicht das ich wüsste.

Basierend auf der Aussage des Benjamin H. und der Gutachter beantragte die Staatsanwaltschaft neun Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe.

Die mündliche Urteilsbegründung war ausführlich, penibel und wies auch die Versuche der Verteidigung zurück: „Ganz ohne Zweifel gab es eine Kollision. Das, was die Verteidigung anführte, dass es keine Kollision gab mit dem Nebenkläger im Zurückweichen und umknickte, ist durch die Spurenlage, die Gutachten und die Zeugenaussagen widerlegt.

Der Angeklagte Rico P. mit seinem Verteidiger (Bildrechte: www.gerichtsalltag.de)

Und der Angeklagte? Während der gesamten Verhandlung saß er mit gesenktem Kopf und nach vorn gebeugten Rücken an seinem Platz und schaute unmittelbar vor ihm auf die Tischplatte. Kein Blickkontakt, mit niemand. Er gab kurz nach seiner Festnahme an, am 26. Juni 2020 zweimal versucht zu haben, sich das Leben zu nehmen, indem er versuchte, sich mit einem Seil an einem Baum zu erhängen. Dies schien wenig glaubhaft und war wohl ebenso wie seine Darstellung von einer Alkohol- und Drogenabhängigkeit ein Versuch, eine mildere Strafe zu bekommen. Beides bislang. Die psychiatrische Sachverständige ist umfangreich auf seinen Alkohol- und Drogenkonsum eingegangen und kam zu dem Schluss, keine Abhängigkeit feststellen zu können.
Der Angeklagte machte einen egoistischen, sehr auf sich bezogenen Eindruck. Bedauern oder gar Reue waren nicht zu spüren.

Wie sagte der Vorsitzende in der Urteilsbegründung: „Die Triebfeder seines Handeln war, nicht erwischt zu werden!

Und Benjamin H.? Er ist immer noch dienstunfähig. Er wurde mehrfach operiert, mittlerweile sind die Schrauben und Platten aus dem linken Bein operativ entfernt wurden („Ein halbes Baumarktsortiment.“) Die Familie musste ihr Leben komplett ändern, besonders in den ersten drei Monaten, wo er sich überwiegend nur im Rollstuhl fortbewegen konnte. „Da war ich wie ein Pflegefall, konnte nichts selbst machen, wie die tägliche Hygiene usw...“ Er hat immer noch täglich Schmerzen und stärkere Einschränkungen in der Mobilität. „Mein kompletter Bauch war lange Zeit von blauen Flecken übersät, man hat kaum eine freie Stelle gefunden, wo man schmerzfrei die Thrombosespritze setzen konnte…

Die Gerichtsverhandlung schätzt er nüchtern ein, hat aber das Gefühl, zu wenig zu Wort gekommen zu sein. Es hat ihm unglaublich viel Kraft gekostet, in manchen Situationen nichts sagen zu dürfen. Besonders bei der Vernehmung der beiden Kollegen: „Die beiden Kollegen waren recht unerfahrene Polizisten, bei einem Schwurgerichtsverfahren können die Leute auch zugrunde gehen, wenn sie nicht richtig vorbereitet werden. Ich wollte immer das Seminar ‚Polizeibeamte als Zeuge vor Gericht‘ besuchen, hat nie geklappt – leider.

Benjamin H. beeindruckte im persönlichen Gespräch durch seine bodenständige Art. Er war eine Art Spätberufener im Polizeidienst, hat erst mit 28 Jahren seinen Traumberuf gefunden. Durch seine Lebens- und Berufserfahrung hatte er schon in der Polizeiausbildung eine andere Sicht auf die Dinge des Lebens, als die meist zehn Jahre jüngeren. Gegenüber manch jüngeren Vorgesetzten kam das später nicht immer gut an, er setzte sich aber durch.

Der qualifizierte Dienstunfall wurde schnell und unbürokratisch anerkannt. Seine Vorgesetzten bis hin zur Landespolizeidirektion kümmerten sich um ihn. Besonders dankbar ist er über die Unterstützung, welche seine Ehefrau von ihrem Arbeitgeber erfahren hat – vorbildlich! Wie es mit ihm dienstlich weitergeht, ist offen. Anfang nächsten Jahres beginnt die Wiedereingliederung. Schön wäre es, wenn er eine weitere dienstliche Perspektive im Polizeivollzugsdienst erhalten könnte. Ich persönlich könnte mir Benjamin H. sehr gut als Kontaktbereichsbeamten vorstellen.

Zu Rico P. hat er eine klare Position: „Das, was er sagte, habe ich gar nicht richtig verstanden, so leise und weinerlich war das. Am meisten tut er sich selbst leid. Ich kann das alles nicht glauben, dass er mich nicht wahrgenommen haben will.

Und er sagte zu mir abschließend zur Sache: „Seine Strafe ist zeitlich, meine lebenslang!

Das Urteil des Landgerichts Erfurt ist noch nicht rechtskräftig. Die Rechtsanwälte des Rico P. haben Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt. Das schriftliche Urteil ist vom Oktober 2021, es wird also noch eine Weile dauern, bis eine Entscheidung des BGH ansteht.

A.S.
29.03.2021, 09.04., 14.04., 03.05., 18.05., 01.06., 16.06., 01.07., 05.07.2021 und 08.07.2021, Landgericht Erfurt, 1. Strafkammer, Schwurgerichtssaal