„…hab ich erst gestern gelesen.“

Da sammeln sich viele Notizen an ….

In den letzten Wochen bin ich häufiger gefragt worden, warum ich eigentlich Gerichtsreportagen schreibe. Und wie ich das so mache. Zum Einen: Ich finde den fast vollständigen Rückzug des Journalismus aus den Gerichtssälen ein fatales Signal zur falschen Zeit. Es wird fast nur noch über besonders spektakuläre Fälle berichtet. Leider häufig oberflächlich und ohne ein wirkliches Schreibmotiv. Das versuche ich anders zu machen. Ich besuche die unterschiedlichen gerichtlichen Instanzen mit der Absicht, ein Bild der Strafgerichtsbarkeit zu vermitteln, welches dem Alltag entspricht.

Nicht immer ist der Besuch einer Gerichtsverhandlung lohnend, hin und wieder werden Termine verschoben, fallen aus oder sind nach kurzer Zeit ohne wirkliches Ergebnis beendet. Nach dem aufmerksamen Zuhören und sorgfältigen Mitschreiben folgen dann Recherchen, Hintergrundgespräche und das Bearbeiten der Notizen. Auch das Einstellen und Verlinken zu passenden  Websites braucht seine Zeit, denn www.gerichtsalltag.de betreue ich selbst.

Wichtig ist mir, die Arbeit der Strafverfolgung von der Anzeigenerstattung bis zum Abschluss des Strafverfahrens darzustellen. Dabei ist es auch bedeutsam, Relationen aufzuzeigen, die weniger bekannt sind: So wurden rund ein Fünftel (22%) der staatsanwaltschaftlichen Verfahren in Deutschland im Jahr 2013 durch Erhebung der öffentlichen Anklage bzw. durch einen Strafbefehl abgeschlossen. 2.574.574 Verfahren (57%) wurden wegen Geringfügigkeit der Strafe, wegen nicht hinreichenden Tatverdachts, wegen Schuldunfähigkeit oder unter Auflagen 2013 eingestellt. Rund ein Fünftel (21%) der bearbeiteten Strafverfahren wurde zur weiteren Bearbeitung an andere zuständige Staatsanwaltschaften oder als Ordnungswidrigkeit an zuständige Verwaltungsbehörden abgegeben oder „anderweitig“ erledigt. Obwohl die Daten nicht aktuell sind, das Bundesamt für Justiz findet die entsprechende Untersuchung so gut, dass darauf verwiesen wird.

Wie die Medien, kommt auch in der Politik nur ein Zerrbild der  Realität an. Denn auch kriminalpolitische Diskussionen gibt es meist nur nach besonders aufsehenerregenden Straftaten. Dann laufen sie immer nach dem gleichen Schema ab: Zuerst werden härtere Strafen gefordert! Der Irrglaube, dass härtere Strafandrohungen potentielle Straftäter abschrecken, ist weit verbreitet. Als Nächstes wird die rasche Einführung weiterer Straftatbestände verlangt. Gleichzeitig erfolgt der Ruf nach mehr rechtlichen Befugnissen für die Strafverfolgungsbehörde, insbesondere für die Polizei. Begleitet wird dies durch Forderungen nach besserer personeller und technischer Ausstattung, wieder meist von der und für die Polizei. Ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit geht dabei verloren: „Der letzte Zweck des Staates ist nicht, zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann.“ Dieses Zitat stammt nicht aus einem Programm für die Innere Sicherheit in Deutschland. Es sind die Gedanken des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632-1677) aus seinem theologisch-politischen Traktat (1650).

Jedoch zurück ins Hier und Heute.  Ohne Philosophie geht auch. Zahlen verraten viel. Ein bisschen Statistik schadet nicht. Ein Blick auf das sogenannte Trichtermodell der Strafverfolgung –  in der Öffentlichkeit wenig bekannt – würde zum Erkenntnisgewinn reichen: Von den 5,96 Millionen erfassten Straftaten des Jahres 2013 wurden 3,25 Millionen aufgeklärt. Von den 2,1 Millionen ermittelten Tatverdächtigen wurden 754.000 angeklagt und 596.000 verurteilt. Von diesen 596.000 Verurteilten wurden 38.000 zu Freiheits- und Jugendstrafe (ohne Bewährungsstrafen) abgeurteilt!

Hier müsste der Ruf laut werden nach einer effizienteren Strafverfolgung, nach einer personell gestärkten Staatsanwaltschaft, welche die tatsächliche Herrschaft der Strafverfahren wieder übernimmt. Dazu müsste gefordert werden, die Strafgerichte personell zu verstärken. Natürlich sollte auch bei der Strafverfolgung neben Effizienz an Qualität gedacht werden.

Apropos Qualität in der Justiz: Dieses Thema ist vollständig tabuisiert, wer Richter kritisiert, ist schnell ein Feind der Verfassung, greift er doch die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter an! Jedoch heißt wohl Unabhängigkeit und nicht Unfehlbarkeit! Der Absatz 1 des Artikel 97 Grundgesetz ist da klar: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Und das ist auch gut so.

Erst kürzlich hat mit Thorsten Schleif ein Richter mit „Urteil: Ungerecht“ ein bemerkenswertes Buch vorgelegt. Der etwas reißerische Untertitel: „Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt“ ist sicherlich eine Marketingidee des Verlages. Besonders im ersten Kapitel finden sich nachdenkenswerte Aussagen und die Texte „Richter, was kannst du eigentlich?“ und „Studium der Rechtswissenschaftlich – nicht praxistauglich“ habe ich mit Interesse gelesen. Soviel Selbstkritisches liest man sonst über den Richterberuf selten.

Vielleicht sollte auch das System der Strafverfolgung generell überdacht werden. Nur weil die Organisation der deutschen Strafverfolgung schon alt ist, muss sie nicht automatisch gut sein.

Aber hier soll nicht nur auf Fragen geantwortet werden. Ein Anlass für diesen Diskurs war auch die Verhandlung der 5. Strafkammer des Landgerichts Erfurt am 30. Oktober 2019 wegen Vergewaltigung, über die jetzt berichtet wird.

Der 49jährige Angeklagte Kanwaljit S. stammt aus Indien, ist deutscher Staatsangehöriger und wohnt in Mühlhausen. Er war vom Amtsgericht Gotha am 16. Juli 2019 wegen Vergewaltigung zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft Erfurt hatten Berufung eingelegt. Die Berufung der Staatsanwaltschaft Erfurt beschränkte sich nur auf die Höhe des Strafmaßes. Den Vorsitz der Berufungskammer hatte Richter Dirk Steinmaier, ihm standen zwei Schöffen zur Seite. Die Anklage wurde durch Staatsanwältin Dorothee Ohlendorf, der Angeklagte von Rechtsanwalt Kaiser vertreten.

Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, beim Stadtfest in Waltershausen am 16. Juni 2018 eine Frau sexuell missbraucht zu haben. Er soll sie abgedrängt, zuerst zum Oralverkehr gezwungen haben. Dann soll der Angeklagte ihre Leggins ausgezogen und teilweise Analverkehr bei ihr durchgeführt haben. Der Vorsitzende Richter nannte zu Verhandlungsbeginn die nüchternen Fakten aus der Erstinstanz und verwies darauf, dass zu seinen Gunsten sprach, dass er zuvor nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten und zum Zeitpunkt der Tat alkoholisiert war sowie ausnutzte, dass die Geschädigte unter dem Einfluss von Alkohol stand. Der letzte Punkt war schwer zu verstehen. Eigentlich müsste es strafverschärfend gewertet werden, wenn ein solcher Zustand ausgenutzt wurde (siehe Paragraf 177 Absatz 2 Ziffer 1). Nun ja.

Der Richter fuhr fort, indem er einen „Diskurs zur Sach- und Rechtslage“ begann. Sein erster Kernsatz: „Das Strafmaß lässt keine Bewährung zu.“ Dann zum Verteidiger gewandt: „Ihr Schreiben hab ich erst gestern gelesen.“ Dann ging er weiter auf den Inhalt dieses Schreibens ein, „…der nicht von der Hand zu weisen ist.“ Das wird den Verteidiger gefreut haben. Richter Steinmaier weiter: „Auch das noch weitere Zeugen zu hören wären, ist richtig. Nicht unbedingt den aus Weißrussland, aber die in unmittelbarer Nähe.“ Weiter über den Inhalt des Verteidigerschreibens: „Es ist ein Mangel des Gothaer Verfahrens, das bezüglich der Trunkenheit keine gerichtsmedizinische Expertise eingeholt wurde.“

Damit war der Monolog noch nicht beendet: „Das ist ein schmaler Grat bei der Schuldfeststellung. Die Mindeststrafe sind zwei Jahre. Durch das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist die Eröffnung nach oben bis vier Jahre möglich.“ Dann weiter der Richter zur Rechtslage: „Wenn man das Verfahren betreibt, ist es gute Sitte, dass es zu Gunsten des Angeklagten spricht, wenn das Opfer nicht vor Gericht aussagen muss.“ Und abschließend: „Das war die Ansprache zum Anfang, die ich halten wollte.

Nun stellte der Verteidiger seine Sicht der Dinge dar. Sein primäres Ziel der Berufungsverhandlung ist ein Freispruch. Die Geschädigte hätte in der ersten Instanz einen massiven Belastungseifer gezeigt, habe massiv gelogen. Der Rechtsanwalt weiter: „Die Tatvorwürfe sind aus der Luft gegriffen. Es gab sexuellen Kontakt, das hat der Angeklagte auch eingeräumt. Die Zeugin hat den sexuellen Kontakt dann bereut. Sie war im Streit mit ihren damaligen Freund, mit dem sie jetzt wieder zusammen ist.“ Der Verteidiger argumentiert weiter, dass es das Amtsgericht Gotha unterlassen habe, ein Gutachten zur verminderten Schuldfähigkeit einzuholen. Darüber hinaus sei sein Mandant alleinerziehender Vater. Rechtsanwalt Kaiser: „Es ist sonst nicht meine Art, vor Berufungsverhandlungen umfangreiche Schriftsätze vorzulegen, aber hier habe ich es tun müssen, da ich der Meinung bin, dass hier umfangreich gelogen wurde.“ Er signalisierte die Bereitschaft zu einem Rechtsgespräch, um zu einer pragmatischen Lösung zu kommen.

Darauf ging das Gericht nicht ein. Der Richter sinnierte: „Eine Möglichkeit wäre auch, dass es anfangs zu einvernehmlichen Sex gekommen war, dann aber die Frau nicht weiter wollte und ‚Nein‘ sagte, dann wären es auch zwei Jahre. Also selbst bei einen abgespeckten Sachverhalt kommt man nicht unter zwei Jahre.“ Und zu einem möglichen gerichtsmedizinischen Gutachten gab er zu bedenken: „Die Trinkmengenangaben werden durch die Gerichtsmediziner überprüft. Ich war da als Staatsanwalt und als Richter selbst überrascht, was für erstaunliche Ergebnisse da präsentiert werden. Das ist sogar sehr oft so, dass man eher selten zu einer einschränkenden Schuldfähigkeit kommt.“

Diese merkwürdige Berufungsverhandlung befand sich immer noch im Stadium des vom Richter Steinmaier begonnenen Diskurses zu Sach- und Rechtsfragen. Er fuhr fort: „Es gibt da ein hohes Risiko, dass man da nicht unter zwei Jahre und sechs Monate kommt.“ Nach kurzem Nachdenken: „Sowas ist früher nicht vom Amtsgericht verhandelt worden, sondern vom Landgericht. Vor dem Amtsgericht anzuklagen, dass sagt ja, dass die Staatsanwaltschaft mit vier Jahren Freiheitsstrafe zufrieden sein würde.“ Und ohne eigentlichen Zusammenhang erwähnte er, dass die Polizei den Täter in der Nacht in einem Asylbewerberheim gesucht hatte, „…nach dem Motto: Wenn es sich bei dem Täter um einen Ausländer handelte, dann muss es ein Asylbewerber sein.

Der Vorsitzende Richter lässt noch weiter seinen Gedanken freien Lauf: „Ich habe daran gedacht, ob nicht eine beiderseitige Rücknahme der Berufung in Frage kommt.“ Der Verteidiger: „Ich würde um ein Rechtsgespräch bitten!“ Zuvor jedoch der Richter: „Wenn wir jetzt mit der Verhandlung beginnen würden, würden wir mit der Beweisaufnahme beginnen und zuerst die Zeugin M. hören und sie den Sachverhalt schildern lassen.“ Und zum Verteidiger gewandt: „Und nicht einen Zeugen, der keine Verletzung bei Ihr gesehen haben will und auch sonst keine sekundären Zeugen. Zuerst die Geschädigte. Ich habe die Akte gelesen, die Schöffen zum Glück nicht. Und wir müssen uns dann in der Beweisaufnahme ein Bild machen. Das geht jetzt nicht, da hätte ich anders planen müssen.

Die Berufungsverhandlung wurde unterbrochen, Gericht, Verteidiger und Staatsanwältin verbleiben zu einem Rechtsgespräch ohne Öffentlichkeit im Saal. Nach einer halben Stunde Unterbrechung geht es weiter, jedoch geht der Richter erst wieder hinaus und unterhält sich im Flur fast zehn Minuten mit der geladenen Zeugin, der Geschädigten, die im Flur mit ihrem Lebensgefährten auf ihre Vernehmung wartete.

Richter Steinmaier: „Die Zeugin wurde entlassen. Das Gericht stellt fest, dass eine Verständigung nicht stattgefunden hat. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Ziel der Verteidigung war, eine Strafe auf Bewährung zu erreichen. Dem hat die Staatsanwaltschaft nicht zugestimmt. Das Gericht hat Bedenken geäußert. Die Staatsanwältin hätte sich vorstellen können, dass die Berufung beidseitig zurückgenommen würde, das wollte die Verteidigung nicht.“

Abschließend der Vorsitzende Richter: „Im Januar oder Februar wird die Sache nochmals angesetzt, mit allen Zeugen. Ich werde auch versuchen, den Zeugen aus Weißrussland zu laden. Auf jeden Fall auch einen Gerichtsmediziner. Die Hauptverhandlung wird ausgesetzt. Ein neuer Termin ergeht von Amts wegen.“

Hätte der Richter die Akte nicht erst am Vortag (sorgfältig) gelesen, hätte er den umfangreichen Schriftsatz des Verteidigers in seine Verhandlungsvorbereitung einfließen lassen können.

Das wäre eine ganz andere Hauptverhandlung geworden.

Das hätte eine ganz andere Hauptverhandlung sein müssen!

Ich hoffe, der Leser versteht jetzt den polemischen Einstieg.

(30.10.2019 – 09:00 Uhr, 5. Strafkammer des Landgerichts Erfurt, Saal E 24)

A.S.