Gerichtsalltag in Sömmerda

Amtsgericht Sömmerda. Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Das erste Mal beim Amtsgericht Sömmerda – ein Amtsgericht ohne Schöffengericht – die Schöffensachen werden in Erfurt verhandelt. Die Anfahrt aus Erfurt zur Weißenseer Straße ist beeindruckend, entlang an der historischen Stadtmauer aus dem 16. Jahrhundert, vorbei am ältesten Gebäude der Stadt, dem Erfurter Tor aus dem Jahr 1395, thront das Amtsgericht.

Die 54jährige Richterin Zohred Nouraie-Menzel hatte als Einzelrichterin fünf Sachen angesetzt, um 9 Uhr sollte zu Julia Sch. verhandelt werden. Jedoch, die Angeklagte erschien nicht. Wie der Vertreter der Staatsanwaltschaft Erfurt, Oberamtsanwalt Mayk Reimann mitteilte, ist die Angeklagte nicht erreichbar gewesen, die Zustellung der Ladung war erfolglos geblieben. Auch das ist Gerichtsalltag – warten. Warten auf Angeklagte, die verspätet erscheinen, warten auf Zeugen, warten in Verhandlungspausen – Geduld gehört schon dazu.

Um 9:30 Uhr wurde die nächste Sache aufgerufen. Die Angeklagte Loritta K. erschien pünktlich. Die 51jährige Gebäudereinigerin trug ein kurzes, buntes ärmelloses Sommerkleid, passend für einen der heißesten Tage des Jahres, passend für Gericht – naja. Aber ein schöner Kontrast zur Amtstracht der anderen Drei in ihren schwarzen Roben. Es wurde ein Einspruch gegen einen Strafbefehl verhandelt. Oberamtsanwalt Reimann verlas den Strafbefehl, der Angeklagten wurde vorgeworfen, Ende März 2019 eine fahrlässige Körperverletzung begangen zu haben: Sie hatte schuldhaft einen Verkehrsunfall verursacht, der Unfallgegner hatte sich eine Fraktur der Hand zugezogen. Die Angeklagte hatte gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt, weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht wussten genau, wogegen sich der Einspruch richtete. Die Angeklagte hatte geschrieben, dass sie sich gegen die Höhe der Tagessätze wendete, aber auch in der Sache. Aus diesem Grund hatte das Gericht vier Zeugen geladen. Auch auf mehrfache Nachfrage gab sie keine eindeutige Erklärung ab, ob sich der Einspruch nur gegen die Tagessatzhöhe richtete oder ob der Sachverhalt unklar war. Letztlich entschied sich die Richterin, mit der Beweisaufnahme zu beginnen.

Als Zeuge wurde der 17jährige Auszubildende Denis St. gehört. Er war der Unfallgegner und schilderte den Unfallhergang aus seiner Sicht: Er fuhr gegen 5:30 Uhr auf seinem Moped in Kölleda in Richtung seiner Arbeitsstätte als plötzlich der PKW der Angeklagten von rechts auf ihn zufuhr. Er versuchte auszuweichen, das gelang jedoch nicht. Er wurde vom Kotflügel erfasst und flog mit dem Moped die Straße entlang. Dabei verletzte er sich an der Hand, hatte auch Schürfwunden. Das Moped hatte Totalschaden. Der Zeuge war knapp vier Wochen krankgeschrieben, bleibende Schäden sind nicht entstanden. Die Versicherung hat den Schaden des Mopeds bereits reguliert.  Richterin Nouraie-Menzel zur Angeklagten: „War das so, wie es der Zeuge schilderte?

Die Angeklagte sprach sehr leise, ganz offensichtlich war sie von der gesamten Gerichtssituation beeindruckt, wirkte eingeschüchtert: „Ja, so war es.“ Die Richterin weiter: „Wenn der Sachverhalt sich so zugetragen hat, und so ist er ja auch im Strafbefehl beschrieben, brauchen wir die anderen Zeugen nicht mehr anzuhören.“ Der Vertreter der Anklage schloss sich dieser Meinung an, jedoch war er wohl auch der Auffassung, dass die Angeklagte nicht genau wusste, wie sie sich ausdrücken sollte, juristisch war sie eh überfordert. Daher fragte er sie: „Ihnen sind die 750 Euro zu hoch und Sie wollen eine niedrigere Strafe?“ Die Angeklagte war dankbar – sie war doch verstanden worden. Da sie nur knapp über 1.000 Euro netto verdiene, erschien es ihr wirklich zu hoch. Zudem – sie ist alleinerziehend, hat ein 12jähriges Kind.

Dann ging es ganz zügig. „Ich schlage vor“ so der Amtsanwalt, „dass das Verfahren gegen die Angeklagte wegen geringer Schuld gegen Zahlung einer Geldbuße von 500 Euro eingestellt wird.“ Damit war die Angeklagte einverstanden. Die Richterin verlas den entsprechenden Beschluss. Das Verfahren wurde vorläufig eingestellt, wenn die Zahlung erfolgt, wird das Verfahren endgültig eingestellt. Sie gibt den Hinweis, dass die Zahlung auch in Raten erfolgen kann. Die anderen Zeugen wurden nicht mehr gebraucht und entlassen. Durch beidseitigen Rechtsmittelverzicht ist das Urteil rechtskräftig.

Um 11 Uhr war die nächste Verhandlung angesetzt. Der 29jährige Angeklagte Markus M. hatte auch Einspruch gegen einen Strafbefehl eingelegt. Hier stand aber fest, er richtete sich gegen die Höhe des Tagessatzes. Der Tatvorwurf blieb unbestritten, er wurde mit zwei Methamphetamintabletten festgestellt, laut Strafbefehl sollte er 50 Tagessätze zu je 70 Euro zahlen. Der Angeklagte gab an, über kein Einkommen zu verfügen. Er sei arbeitssuchend, bekomme zurzeit weder ALG I noch ALG II. Der Anklagevertreter wollte wissen: „Wovon leben Sie, wenn Sie kein Einkommen haben?“ Er darauf: „Ich wohne bei meiner Freundin, einkaufen gehe ich mit meiner Mutter und mit meiner Freundin…“ Der Angeklagte verfügt über keine Berufsausbildung, war zuletzt bei der Bundeswehr. Den ALG-I-Antrag hatte man erst kürzlich abgelehnt. ALG II muss er noch beantragen: „Da hab ich jetzt drei Wochen Zeit, die ganzen Unterlagen zusammenzusuchen.

Der Angeklagte, mittelgroß, schlank, schwarzes Haar, kurzgehaltener schwarzer Vollbart, beide Unterarme aufwendig tätowiert, ist wohl bisher noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Warum er keine Arbeit hat, blieb im Dunkeln, wie ein Faulenzer sah er nicht aus. Die Verhandlung war zu kurz, um sich Einblicke in sein Leben und ein Urteil darüber zu erlauben.

Das Gericht und die Staatsanwaltschaft stellten übereinstimmend fest, dass der Tagessatz nach unten korrigiert werden müsse. Dann erging das Urteil. Der Strafbefehl des Amtsgerichts Sömmerda wird aufgehoben. Der Angeklagte wird zu 50 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt. Diese Verhandlung hat eine knappe Viertelstunde gedauert.

Jetzt kann diskutiert werden, ob nicht die Strafjustiz von solchen kleineren Delikten entlastet werden könne. Ich möchte diese Diskussion nicht führen. Meine Meinung: Der Rechtsstaat erweist sich gerade bei solch „kleinen“ Sachen als stabil und unverzichtbar. Markus M. hatte ein Betäubungsmitteldelikt begangen. Methamphetamin ist keine „weiche“ Droge. Die Folgen von Drogenmissbrauch sind vielfältig und immens. Mit geringem Aufwand eine strafrechtliche Sanktion herbeizuführen, das erscheint ein richtiger Weg zu sein. Das Einlegen eines Rechtsmittels ist natürlich im Rechtsstaat legitim, dass dem stattgegeben wurde, zeigt, dass die Justiz angemessen auf Veränderungen der persönlichen Lebensumstände reagieren kann. Und die Zeit, die dafür „geopfert“ wird – geschenkt.

Das hat auch der Fall von Loritta K. gezeigt. Obwohl sie nur vage Vorstellungen hatte, was sie erwartete, hatte sie die Hoffnung, eine für sie zu hoch empfundene Strafe könne korrigiert werden. Und diese Hoffnung ist in Erfüllung gegangen. Wie ich finde, sind beide Fälle schöne Beispiele für den Alltag in Strafgerichten und schöne Beispiele, wie der Rechtsstaat funktioniert.

Für mich war nicht nur Sömmerda eine Premiere, auch das Auftreten eines Amtsanwaltes als Anklagevertreter war neu. Diese Beamten des gehobenen Justizdienstes sind bei Thüringer Staatsanwaltschaften eher selten. Herr Oberamtsanwalt Mayk Reimann hat einen sehr guten Job gemacht. Ruhig und gelassen, hat er seine klare Linie vertreten. Das fällt besonders leicht, wenn die Richterin auf der gleichen Linie liegt.

Für sie ging der Arbeitstag weiter, zwei Polizeibeamte warteten bereits vor der Tür, ein Haftbefehl musste verkündet werden.

(25.07.2019 – 09:00 Uhr, Amtsgericht Sömmerda, Saal 1)

A.S.