„Frag doch die richtigen Leute!“

Kann dieser Satz eine Gerichtsreportage tragen? Das müssen die LeserInnen selbst entscheiden, aber als Prozessbeobachter schien es der ausschlaggebende Satz. Der ausschlaggebende Satz für einen banalen Sachverhalt, welcher eskalierte und nun die Strafjustiz beschäftigte. Zu Recht? So sah es nicht aus. Richterin Melissa Scordo als Strafrichterin am Amtsgericht Erfurt hatte für diese öffentliche Hauptverhandlung 45 Minuten vorgesehen. Sie hatte sich für diesen Tag viel vorgenommen: Ab 09:00 Uhr waren insgesamt sechs öffentliche Hauptverhandlungen terminiert, die letzte begann um 14:45 Uhr – Gerichtsalltag.

Der 52jährige Angeklagte Bernd K. (Name geändert) wurde durch Rechtsanwalt Markus Motsch vertreten. Staatsanwalt Julian Röthgens, erst wenige Wochen zuvor vom Thüringer Justizminister zum Staatsanwalt auf Lebenszeit ernannt, vertrat die Anklage.

Die Verlesung der Anklage dauerte zwei Minuten: Der in einem Lebensmittelgroßhandel beschäftigte Angeklagte suchte am 9. Dezember 2021, also vor fast einem Jahr, während der Arbeitszeit einen Schlüssel für das von ihm bediente Flurförderfahrzeug – einen sogenannten Schnellläufer. Dieser Schlüssel war nicht wie gewohnt am Haken. Er hatte die in der Nähe aufhältigen Kollegen danach gefragt – keiner konnte ihm weiterhelfen. Dann fragte er den späteren Geschädigten, den 29jährigen Peter H., welcher antwortete: „Frag doch die richtigen Leute!“ Daraufhin soll der Angeklagte seinen Kollegen mit der Faust einmal ins Gesicht geschlagen haben. Strafbar als Körperverletzung gemäß Paragraf 223 in Verbindung mit Paragraf 230 Strafgesetzbuch.

Die noch sehr junge Richterin befragte den Angeklagten, welcher die Tat so einräumte. Er bestand aber darauf, nicht mit der Faust, sondern mit der Handflächen-Außenseite zugeschlagen zu haben. Nachdem er zusammen mit dem Verteidiger, mit dem er sich duzte, die Schlagsituation nachgestellt hatte, beließ das Gericht es dabei.

Auf Befragen erklärte der Angeklagte weiter, dass er den Geschädigten seit circa vier Jahre kenne, in dieser Zeit mit ihm zusammenarbeitete und ein ganz normales Verhältnis zu ihm hatte. Der Geschädigte hat über seinen Rechtsanwalt ein Schmerzensgeld von 300 € gefordert, welches er, zusammen mit den Anwaltskosten, bereits gezahlt hat. Von seinem Arbeitgeber hat er wegen dieser Sache eine Abmahnung erhalten.

Richterin Scordo wollte wissen, wie die Suche nach dem Schlüssel ausgegangen war. Der Angeklagte: „Der lag dann wieder in meinen Schrank, vorher war er dort nicht.“ Die Richterin: „Was hat Sie so verärgert?“ Der Angeklagte: „Seine Antwort: Der Satz ‚Frag doch die richtigen Leute!‘ hat mich geärgert. Die saßen alle gemeinsam am Tisch zum Frühstück.“

Richterin Scordo stellte eine Frage, die nicht aus dem Verlauf der Hauptverhandlung heraus erklärlich war; vermutlich aus ihrer Aktenkenntnis beruhte: „Warum hat Sie dieser Satz, der ja eigentlich harmlos klingt, so aggressiv gemacht?“

Der Angeklagte: „Herr H. ist bekannt dafür, dass er in gewissen Situationen, wenn jemand ‚geneckt‘ wurde, immer dabei ist, und wenn es Ärger gibt, streitet er immer alles ab.“ Der bis dahin ruhig und sachlich wirkende Angeklagte bekam rote Flecken im Gesicht, seine Stimme klang etwas schriller, man merkte, dass er sich Mühe gab, nicht die Kontrolle zu verlieren.

Sowohl die Frage als auch die Antwort schienen zueinander zu passen, wenn man versucht, sich in den Tatablauf „hineinzudenken“: Unter den Arbeitskollegen war es wohl üblich, sich zu „necken“, sich Streiche zu spielen, sich einen Kollegen auszugucken und ihn „auf die Rolle“ zu nehmen. Nichts, was nicht irgendwo zwischen Arbeitskollegen passieren kann. Nicht selten sind solche „Späße“, besonders wenn junge und unerfahrene Kollegen das Ziel sind, derb und grob, gehen über Grenzen hinaus. Ob das ihm vorliegenden Fall so war – gut möglich. Gut möglich, dass man sich auch Kollegen aussuchte, bei denen derbe Späße „richtig Spaß“ machen, weil die erwartbare Reaktion für „Unterhaltung“ sorgt. Kann man sich vorstellen. Die Richterin hätte es durch ein oder zwei Fragen schnell aufklären können – so bleiben es, wenn auch naheliegend – Spekulationen.

Nun wurde der Zeuge und Geschädigte gehört. Er schilderte, dass an diesen Tag sein Arbeitskollege – der Angeklagte – zu ihm gekommen war und fragte, wer seinen Schlüssel versteckt hat. „Wir haben normal gesprochen, ich sagte, ich weiß von nichts. Er sagte, ich soll mit der Kindergarten-Scheiße aufhören. Ich hab gesagt, ich war das nicht. Wir saßen dann draußen, dann kam er zu uns, hat mich noch mal angesprochen, ob ich weiß, wo sein Schlüssel ist. Er hat sich richtig hochgeschaukelt. Ich habe ihm gesagt, er soll doch die richtigen Leute fragen. Dann hat er mich mit der Rückseite seiner Faust ins Gesicht geschlagen. Ich hatte eine blutige Lippe, war im Krankenhaus, auch weil ich Kopfschmerzen hatte.“

Die Persönlichkeit des Angeklagten bekam langsam Konturen: Ganz offensichtlich hat er eine niedrige Erregungsschwelle. Im Volksmund sagt man wohl „kurze Zündschnur“. Das gerade solche Kollege Ziel von „kollegialen Späßen“ sind, ist nicht untypisch und würde auch die Wortkargheit des Zeugen erklären. Wobei auch der Angeklagte seltsamerweise nicht näher auf die begleitenden Umstände der Tathandlung einging…

Richterin Scordo: „Waren Sie krankgeschrieben?“ – „Ja. Ich war 2 bis 3 Wochen krankgeschrieben. Die Sache hat mich belastet. Wir haben uns dann privatrechtlich geeinigt. Wir arbeiten wieder zusammen, werden aber keine besten Freunde.“

Rechtsanwalt Motsch: „Wann haben Sie sich ausgesprochen?“

Angeklagter Bernd K.: „Vor 2 bis 3 Monaten. Meiner Meinung nach haben wir das ausgeräumt – privatrechtlich. Wir sind uns einig geworden.“ Das klang wieder halbwegs souverän.

Der Verteidiger zum Zeugen: „Haben Sie ein Interesse an der Strafverfolgung?“

Der Zeuge: „Nein. Ich bitte um ein mildes Urteil, eventuell Straferlass.“ Das Geschädigte als Zeugen vor einem Strafgericht um eine mildes Urteil bitten, ist auch nicht so häufig!

Der Verteidiger führt an, dass sein Mandant bereits Schadenswiedergutmachung geleistet hat und als Strafe maximal eine Geldstrafe in Frage kommen könnte, aber bei Gesamtschau das Verfahren am besten einzustellen wäre.

Ja, das lag nahe. War doch eine Tätlichkeit zwischen Arbeitskollegen, noch dazu nach einer Aussprache und gezahltem Schmerzensgeld und einer arbeitsrechtlichen Abmahnung genügend sanktioniert.

Der Staatsanwalt sah sehr interessiert erst den Verteidiger und dann die Richterin an. Diese reagierte sofort: „Das kommt gar nicht in Frage, der Angeklagte steht unter laufender Bewährung!“

Das war ein Hammer! Rechtsanwalt Motsch schaute überrascht, wurde rot im Gesicht und tat so, als ob er dies zum ersten Mal hörte. Für wen diese Schauspielerei war, blieb unklar.

Die Richterin führte aus, dass der Angeklagte am 23. Juli 2017 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Führerschein zu einer dreijährigen Bewährungszeit verurteilt wurde und verlas sodann seine Einträge im Bundeszentralregister:

2000 – Landgericht Erfurt: Betrug, mehrfaches vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, Körperverletzung – 3 Monate Freiheitsstrafe.

2016 – vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis.

2019 – vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis.

Jetzt war auch klar, warum der Staatsanwalt öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bekundet hatte.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt, erklärte der Angeklagte, 1.700 € netto zu verdienen und eine 3jährige Tochter zu haben.

Richterin Scordo erklärte, dass es zwischen den Parteien keine Verständigung gegeben hat.

Der Staatsanwalt plädierte kurz und knapp: Zugunsten des Angeklagten bewertete er seine Geständigkeit und die Schadenswiedergutmachung sowie die relative geringe Intensität der Tathandlung. Zu Ungunsten wertete er die Tatbegehung unter Bewährung und beantragte sechs Monate Freiheitsstrafe, letztmalig zu einer 3jährigen Bewährung auszusetzen sowie als Auflagen für ein Jahr die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer und die Zahlung einer Geldauflage von 500 €.

Rechtsanwalt Motsch plädierte – wie erwartet – nicht juristisch, sondern polemisch. Das ist ja auch viel einfacher: „Ich bin immer wieder erstaunt über die Strafanträge der Staatsanwaltschaft! Mein Mandant hat im Vorfeld Schmerzensgeld gezahlt und die gegnerischen Anwaltskosten übernommen. Der Geschädigte hat kein eignes Interesse an einer Strafverfolgung. Das hier geforderte ist weit überzogen! Die Vorstrafen sind alle Straßenverkehrsdelikte, dabei eine Körperverletzung. Eine Freiheitsstrafe ist nicht relevant. Eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen reicht völlig aus.“ Den begangenen Betrug vergaß er geflissentlich zu erwähnen…

Nach einer kurzen Pause verkündete Richterin Scordo das Urteil: 150 Tagessätze á 50 € sowie die Übernahme der Kosten des Verfahrens. Sie begründete, dass sie fünf Monate Freiheitsstrafe für tat- und schuldangemessen hält und hat diese in die 150 Tagessätze umgewandelt.

Fazit: Sowohl der Staatsanwalt als auch die Richterin hatte wohl das schwelende Aggressionspotential des Angeklagten und seine geringe Rechtstreue erkannt und angemessen sanktioniert. Gut wäre es gewesen, es während der Verhandlung nicht nur anzudeuten, sondern auch konkret anzusprechen. Dafür scheinen aber 45 Minuten zu knapp bemessen! So ist auch die Chance auf eine dem Motiv angepasste Bewährungsauflage vertan. Schade.

A.S.

22.11.2022, Amtsgericht Erfurt, Sitzungssaal 18