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Natürlich behauptet niemand, dass es leicht sei, als Gerichtsreporter tätig zu sein. Manchmal jedoch kommen Umstände zusammen, mit denen nicht zu rechnen war. Wie am Dienstag, den 25. April 2023 am Amtsgericht Erfurt. Am Sitzungsaushang vor Saal 7 war die öffentliche Hauptverhandlung angeschlagen, ab 9 Uhr verhandelt das Schöffengericht unter Vorsitz von Richterin Martina Bucke gegen den Angeklagten Marcel P.. Verteidiger war Rechtsanwalt Frank Schnur.
Der im Saal hinten sitzende Bewährungshelfer bat, die Verhandlung verlassen zu dürfen, da er die Ladung erst am Morgen des gleichen Tages erhalten hatte und er andere Termine habe, aber im Haus bliebe und bei Bedarf angerufen werden konnte. Das wurde ihm gestattet.
Es fing einfach an. Der Sitzungsliste beim Oberlandesgericht war zu entnehmen, dass die Verbreitung, Erwerb und Besitz kinder- und jugendpornographischer Schriften (§ 184c StGB alt) angeklagt war. Auch deshalb hatte ich mir die Verhandlung ausgesucht. Ende 2020 hatte ich beim Landgericht Erfurt über eine Verhandlung berichtet und einiges kritisch bemerkt. Die einfache Frage war zu klären: Hat sich seitdem etwas verbessert?
Oberstaatsanwalt Stephan Willrich, noch ganz klassisch mit weißem Hemd und korrekt gebundener Krawatte unter der schwarzen Robe mit Samtkragen, vertrat die Anklagebehörde, die Staatsanwaltschaft Erfurt. Er verlas die Anklage und zählte neu selbstständige Handlungen auf, bei denen der unscheinbare Angeklagte mittleren Alters wie ein unreifes Bübchen sich neben seinen Verteidiger quasi verkroch.
In einem Zeitraum von März 2018 bis Februar 2019 hatte der Angeklagte über WhatsApp insgesamt 2.295 Fotos mit kinderpornografischem Inhalt und 439 Fotos mit jugendpornografischem Inhalt getauscht und damit besessen bzw. in Teilen verbreitet; gleiches mit 176 Videos mit kinderpornografischen Inhalt und 35 Videos mit jugendpornografischen Inhalt. In einem Fall war der Angeklagte Mitglied der WhatsApp-Gruppe „Pädo-Paradies“, in diesem Fall wird auch gegen einen gesondert Verfolgten ein Strafverfahren geführt.
Bei der Vernehmung des Angeklagten durch die Vorsitzende benahm er sich wie ein verschüchtertes Kind, vielleicht gemischt mit so etwas wie bockig sein, aber auf eine unaggressive, passive Art. Die Richterin musste ihm quasi jedes Wort aus der Nase ziehen. Bei seinen Antworten vermied er es, sie anzusehen, seine Äußerungen vermieden sprachlich konsequent den Tatvorwurf, er umschrieb seine Taten, wie zum Beispiel:
Richterin: „Sie sagten, Sie waren in Suhl-Goldlauter in U-Haft, warum?“
Angeklagter: „Wegen Einbruch.“
Richterin: „Nur wegen Einbruch?“
Angeklagter: „Nein, die gleiche Sache nochmal.“
Richterin: „Welche Sache?“
Angeklagter: „Besitz.“
Selbst sprachlich verdrängte der Angeklagte seine Taten! Oder sollte er Schuldgefühle haben, sich für seine Taten schämen?
Möglich. Jedoch fehlte in der ganzen Verhandlung die Perspektive der Opfer: Hinter den Fotos und Videos stehen u.a. Kindesmissbrauch, sexuelle Ausbeutung, Kinderhandel! Diese Perspektive zu eröffnen, wäre zumindest Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Die Anklage wäre ein guter Platz dafür. Warum wird dies nicht getan? – Unverständlich!
Aber weiter zur Verhandlung: Auf hartnäckigem Nachfragen der Vorsitzenden und des Staatsanwaltes schilderte der Angeklagte zögerlich, dass er im Internet gezielt nach Chats suchte, in denen es verklausuliert und in bestimmten Abkürzungen aus der Szene um Kinderpornografie ging. Er hat in Free-Chats gesucht, wo man keine Coins kaufen musste, und tauschte dann mit einzelnen Chatgruppenmitgliedern die Telefonnummern, die weitere Kontakte liefen dann über WhatsApp. Auch das ließ sich der Angeklagte Stück für Stück aus der Nase ziehen.
Ja, es wurde schwieriger. Um die Situation vor Gericht besser zu verstehen, wird hier ein Dialog fast Wort für Wort wiedergegeben:
Richterin: „Welche Leute chatteten miteinander?“
Angeklagter: „So allgemein. Man kennt die ja nicht, die haben ja Nick-Namen.“
Richterin: „Und thematisch, um was ging es da? Haben Sie sich über Blumenzwiebeln unterhalten?“
Der Angeklagte stammelte unverständlich vor sich her.
Richterin: „Wie haben Sie die Chats gefunden?“
Der Angeklagte schweigt.
Richterin: „Was gaben Sie ein?“
Der Angeklagte murmelt etwas vor sich hin.
Richterin: „Zu welchen Inhalten haben Sie gesucht?“
Der Verteidiger will vermutlich helfen und versucht, die doch einfache Frage für den Angeklagten zu übersetzen. Gefallen findet es bei der Richterin nicht. Unbeirrt fragt sie weiter: „Was war Ihr Ziel? Um was ging es Ihnen?“
Angeklagter: „Ziel war eigentlich, ja, das Problem war, wenn ich wieder Alkohol getrunken hatte…“ Er stammelte weiter und wurde immer unverständlicher.
Richterin: „Jetzt gibt es eine Anklage. Sie werden mit Kinder- und Jugendpornografie in Kontakt gebracht. Zu Recht?“
Angeklagter: „Weiß ich nicht.“
Richterin: „Haben Sie Interesse an weiblichen Kindern?“
Angeklagter: „Nein. Irgendwie geht da was aus.“
Richterin: „Es gab eine Durchsuchung bei Ihnen, da wurde eine große Anzahl von Fotos und Videos mit kinder- und jugendpornografischem Inhalt sichergestellt. Ist das richtig?“
Angeklagter: „Ja.“
Richterin: „Dann erklären Sie mal, wie die dahin gekommen sind und warum Sie das haben?“
Angeklagter: „Wie die da hinkommen – durch den Datentausch über die Chats und warum – wenn ich Alkohol getrunken habe zur sexuellen Befriedigung.“
Richterin: „Das würde zur sexuellen Befriedigung am PC auch mit Bildern und Videos von Frauen funktionieren?!“
Angeklagter: „Keine Ahnung, da muss man einen Psychiater fragen.“
Das lässt die Vorsitzende unkommentiert, fragt weiter: „Haben Sie sich das bewusst schicken lassen?“
Angeklagter: „Sonst hätte ich sie ja nicht gehabt.“
Richterin: „Ging es Ihnen darum, sich an den Bildern und Videos von Kindern und Jugendlichen sexuell zu befriedigen?“
Angeklagter: „Ja.“
Auf die gleiche intensive, aber mühselige Art befragte die Richterin den Angeklagten zu seinen Beziehungen zu Frauen. Warum? Vielleicht herrscht bei ihr die Vorstellung, dass bei einschlägigen Tätern von Kinderpornografie-Straftaten Beziehungsprobleme vorliegen müssen.
Sehr problematisch. Können es nicht aber auch brave Familienväter sein? Jedoch ist der Forschungsstand zu pädo-kriminelle Tätern mehr als dürftig. Tätertypen, die eher als Konsumenten bezeichnet werden müssen, erfüllen nur zur Hälfte die diagnostischen Kriterien für Pädophilie.
Der Angeklagte schilderte Beziehungen zu drei Frauen, welche mehr oder weniger zeitig scheiterten, teils, weil es Fernbeziehungen waren, teils, weil er inhaftiert wurde. Aktuell habe er wieder eine Beziehung. Die Richterin wurde hellhörig: „Hat die Freundin Kindern?“ Es entspann sich folgender Dialog:
Angeklagter: „Sie hat im Anschluss hier einen Termin.“
Hier wurde es schwierig, zu verstehen, um was es eigentlich ging. Unbefangene Zuhörer hätten wahrscheinlich gar nicht gewusst, um was es ging, drückte sich die Vorsitzende doch diffus aus, sicher auch, um Rechte Dritter zu schützen. Einfacher machte es das aber nicht.
Die Richterin, ungläubig: „Hier im Saal?“
Angeklagter: „Ja. Es steht ja auch draußen an der Tür.“
Die Richterin, immer noch um Fassung ringend: „Weiß die Freundin von der Sache?“
Angeklagter: „Das ich hier einen Termin habe – ja. Warum – nein.“
Sarkastisch ist die Vorsitzende wohl selten: „Da haben Sie ja ganz offen kommuniziert!“
Der Angeklagte, ganz verlegen: „Es ist nur von meiner Seite verschwiegen, von ihrer Sache weiß ich schon…“
Freundin und Freund am gleichen Tag in einer Hauptverhandlung vor einem Schöffengericht im gleichen Saal, mit gleicher Vorsitzenden, aber anderen Schöffen. Ausdenken kann man sich das nicht.
Laut der Übersicht über die Verhandlungstermine wird gegen die neue Freundin seit dem 4. April 2023 wegen „schwere Körperverletzung u.a.“ verhandelt. Der Vorsitzenden schwante nichts Gutes und empfahl den Angeklagten dringend, diesbezüglich reinen Tisch zu machen. Meine Vermutung: Sie kannte das Verfahren und die Angeklagte gut genug, um zu ahnen, dass sich hier eine Tragödie entwickeln könnte.
Nachdem Oberstaatsanwalt Willrich noch ein paar Fragen hatte, wurde der Kriminalbeamte Markus B. vom Landeskriminalamt Thüringen als Zeuge gehört. Er ist als Auswerter im Dezernat Cybercrime tätig und hatte 2021 drei Datenträger, zwei Handys und ein Notebook, zu begutachten.
Er erläuterte klar strukturiert seine Arbeitsweise und das methodische Vorgehen und wie es beim Bundeskriminalamt in einer Datenbank zum sogenannten qualitätsgesicherten Bestand kommt. Eine souveräne Zeugenaussage, an welcher aber überraschte, dass die betreffende Datenbank zum qualitätsgesicherten Bestand nur einmal im Jahr aktualisiert wird. Das erscheint ein wirklich langer Zeitraum.
Die Richterin fragte nun zu den Taten nach. Sie verlas Chatverläufe, die hier nicht wiedergegeben werden sollen. In einem Chat hatte er gesagt, Sex mit einer 11jährigen gehabt zu haben. Das, so der Angeklagte, stimmte nicht, er wollte sich nur interessant machen, „dass der Andere wisse, dass man auf der gleichen Wellenlänge liege.“
Richterin Bucke begann, die Fotos und Videos in die Verhandlung einführen zu wollen: „Da wollen wir mal sehen, wie wir uns durcharbeiten. Zum Anklagepunkt 1, da haben wir die von der KPI Ingolstadt übersandten Informationen.“
Währenddessen kümmerte sich der Schöffe um den Laptop auf dem Richtertisch und fuhr den Projektor hoch.
Der Verteidiger meldete sich besorgt zu Wort. Das Problem mit Blick zum einzigen nicht Prozessbeteiligten im Saal: Die Fotos und Videos über den Projektor anzuschauen, da würde sich das Gericht selbst wegen Verbreitung von kinderpornografischen Inhalten strafbar machen.
Nicht zum ersten Mal wurde der Beobachter zum Akteur – unverschuldet. Die Richterin ließ sofort die technischen Vorbereitungen ruhen und dachte nach. Ich bot ihr an, den Saal zu verlassen, solange die Inaugenscheinnahme dauerte.
Das gefiel ihr nicht: „Dann schreiben Sie, ich hätte Sie des Saales verwiesen.“ Natürlich nicht. Mein nächster Vorschlag, es so zu handhaben, wie schon oft erlebt: Die Prozessbeteiligten treten an den Richtertisch und schauen sich die Inhalte auf den Laptop an, behagte der Vorsitzende auch nicht: „Das ist ja wie der Ausschluss der Öffentlichkeit.“
Sie überlegte, was sie wohl machen solle. Der Staatsanwalt war keine Hilfe. So ihr Entschluss: Die Verhandlung wird vertagt und am Freitag, den 12. Mai ab 9 Uhr fortgesetzt. Und zu mir gewandt: „Rufen Sie bitte vorher die Geschäftsstelle an, ob es 9 Uhr beginnt, oder ob zuerst die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird.“
Da lag kein Segen drauf, das war sicher.
Pflichtgemäß rief ich am Donnerstag, den 11. Mai die Geschäftsstelle an. Die lapidare Antwort: „Die Verhandlung findet nicht statt, sie ist auf den heutigen Donnerstag vorverlegt wurden, hat aber auch nicht stattgefunden.“ Und wie erfährt man den neuen Termin? „Es ist noch nicht terminiert.“ Weitere Nachfragen waren zwecklos.
Na prima.
Falls es in Erfahrung zu bringen ist, wann die nächste Verhandlung stattfindet, wird nachberichtet.
A.S.
25.04.2023, Amtsgericht Erfurt, Schöffengericht, Saal 7