„…einen Abschluß als Erzieher aus dem Internet gezogen“ – Teil 2

Screenshot online-Ausgabe DER STANDARD (Wien)

Die Verhandlung vor der 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt gegen Peer B. wurde am 10.12.2020 ab neun Uhr fortgesetzt. Bereits am Ende des ersten Verhandlungstages hatte sich bei einem Gespräch zwischen dem Gutachter und dem Vorsitzenden ergeben, dass es ein eher kurzer Verhandlungstag sein würde. Da sich der Angeklagte bereit erklärte, sich explorieren zu lassen, ging es beim Gespräch um einen passenden Termin. Der grundsätzliche Terminplan des Gerichts stand ja bereits fest: Der Vorsitzende hatte drei Verhandlungstage eingeplant: 04.12.; 10.12. und 18.12.2020! Man einigte sich auf den zweiten Verhandlungstag. Professor Volz machte darauf aufmerksam, dass er an diesem Tag, nur bis 12:30 Uhr Zeit hatte. Der Vorsitzende darauf: „Dann machen wir einiges im Selbstleseverfahren.“ So kam es auch – leider.

Nachdem Richter Hampel die gleiche Besetzung wie am ersten Verhandlungstag bei Gericht feststellte, gab er seine Absichten für diese Verhandlung bekannt: Zuerst wolle er den Zeugen Dr. John hören, zudem hat er ein Lesepaket zusammenstellen lassen und die Beteiligten würden anschließend Zeit bekommen, um im Selbstleseverfahren diese Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen. In dieser Zeit könne die Exploration des Angeklagten stattfinden.

Das Selbstleseverfahren ist in Paragraf 249 Absatz 2 der Strafprozessordnung (StPO) geregelt und wurde 1979 eingeführt. Es sollte der Verfahrensvereinfachung dienen, indem die Berufsrichter und Schöffen die Urkunden, für die das Selbstleseverfahren durch den Vorsitzenden angeordnet wurde, außerhalb der Hauptverhandlung lesen und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit erhalten. Ursprünglich gedacht war das Selbstleseverfahren insbesondere dann, wenn zahlreiche und umfangreiche Urkunden einzuführen waren. Sinn und Zweck diese Regelung war das Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung und eine Entlastung der Justiz.

Problematisch bei dieser prozessualen Regelung sind die Einschränkungen des Öffentlichkeitsprinzips und des Unmittelbarkeitsprinzips. Der Gesetzgeber hat dies mit der Einführung des Paragrafen 249 Absatz 2 StPO wohl bedacht und damals zur Verfahrensvereinfachung bewusst in Kauf genommen (vgl. Bundestagsdrucksache 10/1313, S. 28). Jedoch nicht nur der Öffentlichkeit entstehen durch das Selbstleseverfahren Nachteile, da für das Strafverfahren bedeutsame Informationen im Verborgenen bleiben. Das Öffentlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip sind kein Selbstzweck, sie dienen einer transparenten Verfahrensführung, nur so ist eine Kontrolle des Verfahrens durch die Öffentlichkeit möglich. Und auch diese Funktion kann nur eingeschränkt wahrgenommen werden, wenn Informationen – und hier handelt es sich ja um Beweismittel – der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Und nicht zuletzt: Dadurch wird ein wichtiger Grundpfeiler zur Durchführung von Gerichtsverfahren geschwächt und damit die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens – insbesondere in Strafverfahren – nur reduziert gewährleistet. Zudem kann das Vertrauen der Allgemeinheit und des Einzelnen in die Unabhängigkeit der Gerichte und die Rechtsstaatlichkeit der Strafverfahren erschüttert werden, wenn aus vermeintlichen Effizienzgründen Beweismittel nur „im stillen Kämmerlein“ den unmittelbaren Prozessbeteiligten bekannt gegeben werden.    Und wenn die Öffentlichkeit so von Teilen der Beweiserhebung ausgeschlossen wird, ist auch die Berichterstattung durch die Medien eingeschränkt!

Aber wieder zurück in den Verhandlungssaal 1.09 des Erfurter Landgerichts. Der 60jährige Psychologe Dr. Matthias John, tätig bei der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern profamilia Erfurt, wurde als Zeuge gehört. Um es vorweg zu nehmen: Die Entbindung von der Schweigepflicht ist dem Angeklagten sicherlich leicht gefallen, denn die Vernehmung brachte nichts Neues. Am ersten Verhandlungstag hatte der Angeklagte seinen Therapeuten Dr. John als Zeuge gerade zu angeboten, er erhoffte sich wohl die Bestätigung seiner Variante, von seinen pädophilen Neigungen zunehmend abgekommen zu sein und sich mehr zu Frauen und männlichen Erwachsenen hingezogen zu fühlen. Dr. John sagte aus, dass der Kontakt zum Angeklagten bereits aus der Haft heraus 2016 erfolgte, im Jahr 2017 gab es 24 Gespräche, im Jahr 2018 wurden es weniger, Anfang 2019 gab es noch zwei Treffen, dann verlor sich der Kontakt. Am Anfang, aus der Haft heraus, war der Angeklagte sehr bemüht, es wurden Ziele vereinbart und über seine sexuellen Phantasien gesprochen. Der Angeklagte wollte wieder Fuß fassen. Ende 2018 ließ die Frequenz der Sitzungen nach. Über die Bewährungshilfe erhielt er dann Meldungen über Bewährungsverstöße. Der Behandlungsverlauf hat sich nicht vertieft, er flachte ab. Von Rechts wegen hätte man zwei Jahre weiter arbeiten müssen.

Der Vorsitzende fragte nach: „Was hat Herr B. zu seinen sexuellen Phantasien erzählt?“ Dr. John: „Er hat erzählt, dass er es sich auch vorstellen könnte, auch mit Erwachsenen und auch mit Frauen sexuellen Kontakt zu haben.“ Richter Hampel: „Wurde es in den Therapiesitzungen von Ihnen erwähnt, dass er Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zu meiden hatte?“

– „Das habe ich regelmäßig angesprochen, in Zahlen kann ich das nicht ausdrücken. Es wurde stärker thematisiert, als er in Gotha mit dem Kind eines Kollegen näheren Kontakt hatte. Da wurde ich von der Bewährungshilfe informiert.“

Der Vorsitzende fragte weiter nach: „Wie glaubhaft waren die Versuche des Herrn B., sich zu ändern?“

Dr. John: „Dagegen sprach seine lange Vorgeschichte, dafür sprachen die nach der Haft gefestigten Sozialkontakte, die er zuvor nicht hatte.“  

Es entspann sich ein Frage-Antwort-Gespräch:

– „Wie schätzen Sie den Therapieverlauf ein?“

– „Es fing gut an, dann stagnierte es und dann gab es einen abrupten Abbruch.“

– „Der Angeklagte schilderte die Gespräche mit Ihnen als stabilisierend. Wie sehen Sie das?“

– „Ein Konzept ist ja, ihn sozial zu integrieren, das hatte ganz gut geklappt. Das Sexuelle trat auf der Stelle und dann gab es ja Verstöße, die ich von der Bewährungshilfe erfahren habe. Das hatte er ganz anders dargestellt oder verschwiegen.“

– „Haben Sie mit ihm über das Thema Kinderpornographie gesprochen?“

– „Ja, aus der Vergangenheit. Er sagte, dass er eine Sammelleidenschaft hat.“

– „Hat er von einer Durchsuchung erzählt?“

– „Daran erinnere ich mich nicht.“

– „Hat er thematisiert, dass er Angst hatte, wieder in Haft zu gehen? Das hatte ein Polizeibeamter gesagt…“

– „Nur allgemein.“

– „Hat er den Wunsch geäußert, ein Kind zu adoptieren?“

– „Aus den Gesprächen nicht. Ich habe es dann in der Akte gelesen, es hat mich gewundert.“

– „Ein Polizeibeamter sagte aus, dass er den Angeklagten als „manipulativ“ einschätzt?“

– „Das würde ich so nicht sagen. Ich kenne den Zusammenhang nicht. Es ist aber so, dass er Täuschungsfassaden aufbauen kann, dass sieht man ja auch an den anderen Verfahren.“

Nun fragt der Gutachter, Professor Volz, nach: „Was für eine diagnostische Einschätzung hatten Sie von Herrn B.?“

Dr. John: „Wir haben so ein Ampelsystem, im grünen Bereich war er nie.“

Professor Volz: „Zu Ihrer Erläuterung: Er hat geäußert, das er sich in der Tendenz mehr zu Männern und Frau hingezogen fühlt. Das steht im Gegensatz zu dem Gutachten, welches im österreichischen Verfahren erstellt wurde. Da war eindeutig von homosexueller Pädophilie die Rede.“ Dazu konnte Dr. John nicht wirklich etwas sagen.

Die letzte Frage des Gutachters an den Psychologen: „Wie bewerten Sie den Therapieabbruch?“

– „Als Misserfolg!“

Richterin Clemens hatte noch Fragen: „Wie schätzen Sie den Besitz von über zweitausend Kinder- und Jugendpornos im Frühjahr 2018 ein?“ So direkt und auch ein wenig aggressiv gefragt, kam Dr. John sichtlich in Schwierigkeiten: „Das da was im Geheimen ablief…“

Die nächste Frage kam von der Verteidigerin: „Wie schätzen Sie Herrn B. charakterlich ein, als Mensch?“ Der Zeuge: „Da kann man nur etwas Oberflächliches sagen. Er war freundlich, war bemüht um Anerkennung, aber charakterlich…“

Es gab noch ein paar unwesentliche Fragen mit nichtssagenden Antworten, dann fragte Staatsanwalt Thon abschließend: „Hat er zu Ihnen über seine eigene Entwicklung als Kind und Jugendlicher etwas erzählt?“

Dr. John: „Ja, er sagte, dass es nicht immer glücklich war.“

Richterin Clemens fragte rundheraus: „Hat er gesagt, dass er selbst mal als Kind missbraucht wurde, Stichwort: Onkel?

– „Ja“ so der Psychologe „das hat er erzählt, wir haben es aber nicht weiter besprochen.“

Danach hatte niemand mehr Fragen. Obwohl – die Fragen nach dem Auftrag, dem Auftraggeber und nach der Finanzierung dieser Therapiesitzungen haben sich gestellt – bei mir.

Ein Hinweis an die geschätzte Leserschaft: Die therapeutischen Hauptziele bei Sexualtätern sind bezüglich der Gefahr für die Allgemeinheit identisch. Erstens: Die Verhinderung weiterer Sexual- und Gewaltdelinquenz. Zweitens: Die Behandlung der Grundstörung. Bei Peer B. dürfte diese Grundstörung eine fixierte sexuelle Deviation sein, wie es wohl die Gutachter im Verfahren in Österreich feststellten – homosexuelle Pädophile. 

Der Vorsitzende verlas dann den Umfang des „Lesepaketes“, aber so schnell, dass es unmöglich war, den kompletten Inhalt mitzubekommen. Es handelte sich um 4 Urkunden, ein Urteil des Amtsgerichts Erfurt von 2005, ein Beschluss des Landgerichts Erfurt von 2012, das Urteil des Landgerichts Wiener Neustadt und vom Landgericht Erfurt etwas zur Führungsaufsicht.

Bevor die Exploration parallel zum Lesen begann, wandte sich Professor Volz an den Vorsitzenden: „Ich habe die Akte des Angeklagten aus dem Strafvollzug  erhalten und durchgearbeitet. Therapeutische Unterlagen sind nicht dabei.“

Sodann entspann sich ein Gespräch über den Ort der Exploration. Die beiden Justizvollzugsbeamten, welche den Angeklagten aus der Haft vorführten und die ganze Zeit im Verhandlungssaal saßen, waren der Meinung, dies sollte in der Vorführzelle des Landgerichts geschehen. Der Vorsitzende nahm an, dass diese Begutachtung im Verhandlungssaal stattfinden würde. Die Justizbeamten beharrten auf ihrer Ansicht. Professor Volz: „Sie müssen es ja nicht machen!“ Wie dieser Konflikt ausging, blieb dem Beobachter verborgen.

Da es ein sehr kurzer Verhandlungstag war, ist eine Rückbetrachtung möglich und nötig: Im ersten Teil ging es bei den Vernehmungen der beiden Kriminalbeamten auch um den Tatbestand, den Besitz von kinder- und jugendpornographischer „Schriften“ gemäß Paragrafen § 184b Absatz 3 und 184 c Absatz 3 Strafgesetzbuch (StGB). Die Straferwartung ist vergleichsweise niedrig: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Schon der einfache Diebstahl gemäß Paragraf 242 StGB werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft! Das muss uns jetzt nicht mehr aufregen, denn der Gesetzgeber wird dies demnächst ändern und die Straferwartung auf bis zu fünf Jahre erhöhen – lange genug hat es gedauert.

Beim Besitz von kinder- und jugendpornographischen Fotos und Videos handelt es sich um keine opferlose Straftat. Der Herstellung solcher Darstellungen liegen jeweils reale, oft schwere sexuelle Missbräuche, zugrunde.

Die „Verbreitung“ im umfassenden Sinn wird zumindest mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Zurück zum Fall: Peer B. wurde wegen Besitzes von kinder- und jugendpornographischen Fotos und Videos angeklagt. Die betreffende Durchsuchung liegt 2 ½ Jahre zurück. Leider wurden die damals sichergestellten Speichermedien noch nicht umfassend ausgewertet. Außer der Datenauswertung des Landeskriminalamtes, welche den Tatbestand des „Besitzes“ begründete, hatte es noch keine tiefgreifenden weiteren Auswertungen gegeben. Der Sachbearbeiter der Kriminalpolizeiinspektion Erfurt hat sogar in seiner Vernehmung angegeben, der PC des Angeklagten sei noch verschlüsselt und stellte fragend im Raum, ob der Angeklagte vielleicht jetzt beim entschlüsseln helfen wolle, natürlich ohne jede Reaktion.

Natürlich stellt sich die Frage, ob der Angeklagte das Potential zu weiteren Straftaten hatte, die durch Datenauswertungen bewiesen werden könnten. Da offensichtlich eine Verurteilung zu einer Sicherungsverwahrung angestrebt wird, man den Angeklagten zumindest seitens der Staatsanwaltschaft und dem Schöffengericht des Amtsgerichts Erfurt (und wohl auch seinem Bewährungshelfer) zukünftig für gefährlich hält, bleibt unverständlich, warum nicht alles getan wurde, um in 2 ½ Jahren alle vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen, einen umfassenden Tatnachweis zu führen.

Aus Polizeikreisen ist zu hören, dass die mit der Datenauswertung befassten Organisationseinheiten hoffnungslos unterbesetzt sind. Seit der Einrichtung der Regionalen Beweissicherungs-Einheiten (RBE) in jeder der sieben Thüringer Kriminalpolizeiinspektionen hat sich die personelle und sachliche Ausstattung nicht geändert. Das heißt, dass dort jeweils zwischen zwei und vier Kriminalbeamte tätig und für alle Datenauswertungen zuständig sind. Wenn man bedenkt, dass außer den sogenannten „eigenhändigen Delikten“ quasi alle anderen Straftaten mit und durch Informations- und Kommunikationstechnik durchgeführt werden können und tatsächlich durchgeführt werden, versteht man schlechtweg nicht, was da in der Thüringer Polizei los ist.

Das Zauberwort Computerkriminalität, auch Cybercrime, ist auch in Thüringen nicht unbekannt. Zumindest benutzen es leitende Herren der Polizei gern und oft. Einige halten oberkluge Vorträge, andere pirschen sich hofschranzenartig mit Worthülsen an die Ministeriumsspitze heran. Über Partywissen scheinen deren Kenntnisse aber nicht hinauszugehen, denn sonst hätte sich die Zustände längst ändern müssen!

Warum dauern Datenauswertungen immer noch mehrere Jahre? Im Landeskriminalamt Thüringen sind laut einer parlamentarischen Anfrage vom Mai 2020 im Dezernat Cybercrime nach langer Besetzungsodyssee insgesamt 14 Mitarbeiter tätig. Aus einer anderen parlamentarischen Anfrage aus dem Jahr 2016 geht hervor, dass „die regionalen Beweissicherungs-Einheiten der Kriminalpolizeiinspektionen (RBE) für alle Belange der Sicherung und Auswertung von EDV-Spuren und -Beweismitteln im Strafverfahren zuständig sind. In qualifizierten Fällen unterstützt oder übernimmt das Dezernat 43/forensische IuK diese Aufgaben.“ In dem letztgenannten Dezernat “Forensische Informations- und Kommunikationstechnik” sollen auch etwa 10 Beamte tätig sein. So liegt also die gesamte Datenauswertung aller sichergestellten oder beschlagnahmten Daten in staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren bei zusammen- und hochgerechnet ca. 45 Beamtinnen und -beamten.

Fachleute fordern seit vielen Jahren eine der Realität angepasste sachliche und insbesondere personelle Aufstockung. Bisher ohne jeglichen Erfolg.

Dazu aber mehr im dritten Teil dieser Gerichtsreportage.

Nun aber zum möglichen Potential des Angeklagten. Hier ist ein Blick zurück in den Herbst 2011 am Landesgericht Wiener Neustadt nötig. Leider wurde das betreffende Urteil nicht während der öffentlichen Hauptverhandlung verlesen.

Nach entsprechenden Recherchen steht fest: Staatsanwältin Karin Rohrböck klagte den damals 40jährigen Peer B. wegen schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses, Herstellen und Verbreiten von pornografische Darstellungen von Minderjährigen sowie Urkundenfälschung an.

Wiener Neustadt, die zweitgrößte Stadt Niederösterreichs, ist mit knapp 50.000 Einwohner übersichtlich. Nur fünfzig Kilometer südlich von Wien ist es Sitz eines Landesgerichts, an welchen vor neun Jahren ein Kriminalfall verhandelt wurde, welcher in Österreich für beträchtliches Aufsehen sorgte. Über die Gerichtsverhandlung wurde in Österreich umfassend berichtet. Peer B. wurde als „der studierte Webdesigner und Pädagoge“ bezeichnet, dem es gelang, sich mit falschen Papieren in Niederösterreich in einem Kinder- und Jugendheim als Erzieher anstellen zu lassen. Der gelernte Ofen- und Heizungsbauer hatte über mehrere Monate einen 12jährigen Jungen, der seiner Obhut anvertraut war, sexuell missbraucht. In der Gerichtsberichterstattung heißt es: „Im Nachtdienst kam es immer wieder zu Anal- und Oralverkehr zwischen B. und seinem minderjährigen Zögling.“ Darüber hinaus hat er pornographische Darstellungen von diesem Opfer angefertigt und in Internet-Tauschbörsen verbreitet. Als Peer B. mitbekam, dass sich das Opfer den Behörden anvertraut hatte, floh er. Mit wiederum gefälschten Abschlüssen von deutschen Universitäten soll er an zwei steirischen Einrichtungen angestellt gewesen sein. Letztlich wurde er bei einer Verkehrskontrolle festgenommen. Das Landgericht Wiener Neustadt verurteilte ihn zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.

Die Leiterin der betreffenden Kinder- und Jugendeinrichtung in Niederösterreich stellte den Sachverhalt aktuell in einem Gespräch etwas anders dar: 2011 war sie bereits Leiterin dieser Einrichtung, sie hatte Peer B. eingestellt. Er hatte einen deutschen Studienabschluss vorgelegt, den er nach eigenen Angaben auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hatte. Dass er keinen Studienabschluss hatte, war bisher in Österreich ihrer Meinung nicht bekannt. Sie hatte seine deutschen Dokumente bei der Bezirkshauptmannschaft eingereicht und sie sind von der Regierung Niederösterreichs anerkannt worden. Da er zumindest drei Monate vor seiner Anstellung bei ihr in Österreich wohnhaft war, legte er entsprechend der dort gängigen Praxis ein Leumundszeugnis von der Bezirkshauptmannschaft vor.

Peer B. hatte drei Monate in der Einrichtung gearbeitet. In dieser Zeit hat er den allerbesten Eindruck gemacht, er war sehr höflich und zuvorkommend, hatte mit den Kindern einen guten Kontakt, hatte mit ihnen gut gearbeitet. Peer B. hat alle Mitarbeiter für sich eingenommen. Sie haben ihn bei der Wohnungssuche unterstützt, auch beim einrichten geholfen.

Nach ihren Worten war es „ein Schock für alle“, als sie die Information bekam, dass er in Deutschland wegen Kinderpornographie vorbestraft war. Daraufhin wurde er sofort fristlos gekündigt. Man hat dann in der Einrichtung nachgeforscht, ob er dort eventuell Straftaten begangen hatte. Dabei ist herausgekommen, dass er den 12jährigen Daniel sexuell missbraucht hatte. Daraufhin erstatte die Einrichtung Strafanzeige. Der Junge sagte auch aus, dass von ihm Fotos und Videos gemacht wurden. Es bestand auch der Verdacht, dass mindestens noch ein zweiter Junge missbraucht wurde. Da er aber psychisch instabil war, musste er vor Gericht nicht aussagen. Der Daniel sagte aus. Die Leiterin selbst war nicht zur Gerichtsverhandlung geladen. Die betreffenden Kinder waren zu diesem Zeitpunkt in einer anderen Einrichtung. Zu dem Daniel hat sie keinen Kontakt mehr, er hat sich nach Ablauf der Freiheitsstrafe von Peer B. aber bei ihr gemeldet, weil er Angst hatte, ihn gesehen zu haben. Dies erwies sich jedoch als Irrtum.

Zur Prognose über die Gefährlichkeit hätte auch der ehemalige LKA-Mitarbeiter Matthias Deffner aussagen können. Staatsanwalt Thon war aber der Meinung, dass keine neuen Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären. Der über die Landesgrenzen bekannte und geachtete Wissenschaftler war beim Landeskriminalamt Thürin­gen für die HEADS­-Zentralstelle verantwortlich und koordinierte die polizeiliche Umsetzung des HEADS­- Programms, also die Maßnahmen von Justiz und Polizei rund um die Haft-Entlassenen-Auskunfts-Datei-Sexualstraftäter (HEADS). Am ersten Verhandlungstag sagte der Angeklagte, wir erinnern uns: „Da war die permanente Gängelung von Herrn Deffner vom LKA, der immer versuchte, etwas zu finden…“

Deffner, von Fachleuten und Partnern in Justiz und Verwaltung hoch geschätzt, hatte diese völlig unterschätzte Aufgabe mehrere Jahre erfolgreich wahrgenommen, oft am Rande der Belastungsgrenze. Ging es doch in diesem Bereich nicht um gesichtslose Verwaltungsvorgänge, sondern um reale Gefährdungseinschätzungen von Haftentlassenen Hochrisikotätern. Jedoch ohne ein Mindestmaß an Unterstützung seiner Vorgesetzten gibt auch der hochmotivierteste Mitarbeiter irgendwann auf. Matthias Deffner ist jetzt im Thüringer Strafvollzug tätig. Die Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Forensischer Psychologe/Forensische Psychologin) im Landeskriminalamt Thüringer ist wieder in der Entgeltgruppe 13 ausgeschrieben

Am Freitag, den 18. Dezember 2020 ist der nächste Verhandlungstag geplant, dann soll Professor Volz sein Gutachter erstatten, auch die Plädoyers hat der Vorsitzende für diesen Tag eingeplant.

In der nächsten Woche wird hier der dritten Teil dieser Gerichtsreportage veröffentlicht.

A.S.

(10.12.2020, 09:00 Uhr, 2. Strafkammer am Landgericht Erfurt, Saal )