„Die Unterlagen wurden in ‚loser Schüttung‘ übergeben.“

Eingang zum Sitzungssaal 7 im Justizzentrum Erfurt (Bildrechte www.gerichtsalltag.de)

Am 10. November 2020 versuchte das Schöffengericht beim Amtsgericht Erfurt ab 10:00 Uhr gegen Bülent Y. wegen Bankrott zu verhandeln. Jedoch war der Angeklagte nicht anwesend. Der Vorsitzende, Richter Thomas Hauzel, fragte beim zumindest anwesenden Verteidiger nach. Rechtsanwalt Thomas Faust war dies sichtlich peinlich. Er versicherte, dass sein Mandant auf dem Weg sei, er hatte keinen Parkplatz gefunden. Dass er kein Verständnis für das zu spät kommen hatte, war deutlich: „Man müsste doch annehmen, dass bei Angelegenheiten einer gewissen Bedeutung Pünktlichkeit besteht.“ Es konnte, als der Angeklagte in Begleitung seiner Ehefrau eine viertel Stunde zu spät im Gerichtssaal ankam, trotzdem noch nicht losgehen. Richter Hauzel: „Das Gericht ist noch nicht vollständig, eine Schöffin fehlt noch.“ Oberstaatsanwalt Dr. Joachim Becker vertrat die Anklage, stammte doch das Verfahren aus seinem fachlichen Zuständigkeitsbereich. Als Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft ist er mit den ihm zugeordneten Staatsanwältinnen und Staatsanwälten für Wirtschaftsstrafsachen zuständig, zugleich ist er Leiter der Schwerpunktabteilung Korruption für ganz Thüringen. Angeklagt war eine Straftat der Wirtschaftskriminalität. Dies umfasst sogenannte Wirtschaftssachen, aufgeführt im Paragraf 74 c Abs. 1 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG). Mit einem Klick auf den zuvor stehenden Link wird deutlich, dass es hierbei um Straftatbeständen geht, die nicht nur im Strafgesetzbuch verankert sind, sondern in über 25 strafrechtlichen Nebengesetzen.

Der Vorsitzende meinte am Rande der erneuten Wartezeit, dass es jetzt öfter vorkomme, dass Schöffen zu spät sind oder glaubten, dass die Sitzung coronabedingt ausfällt. Apropos Corona: Im Justizzentrum Erfurt waren die Bemühungen sichtbar, dass Hygienekonzept durchzusetzen. Für den Verhandlungssaal 7 bedeutete dies, dass vor der Sitzung, bei einer Pause und nach der Sitzung gelüftet wurde. Die Bestuhlung im Zuhörersaal war auf den notwendigen Mindestabstand aufgestellt. Sowohl am Richtertisch, als auch an den Tischen der Anklage und Verteidigung waren die Plätze durch Plexiglasscheiben getrennt.

Aber zurück zu den Wirtschaftsstrafsachen. Nach vierzig Minuten war auch das Gericht vollständig und der Staatsanwalt verlas die Anklage: Dem Beschuldigten wurde vorgeworfen, in einem Tatzeitraum vom 5. Oktober 2018 bis ins Jahr 2020 alle geschäftlichen Unterlagen seiner ehemaligen Firma verbrannt zu haben, obwohl er nach Handelsrecht zu deren Aufbewahrung verpflichtet war. Er hatte als Buchführungspflichtiger vor Ablauf der für ihn bestehenden Aufbewahrungsfrist diese Unterlagen zerstört und dadurch die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert. Ihm wurde weiterhin vorgeworfen, Bestandteile seines Vermögens, die im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zur Insolvenzmasse gehören, beiseite geschafft zu haben, indem er seinem PKW Audi A 6 (nachträglich) seiner Pflegemutter überschrieb.

Der in Weimar wohnende Angeklagte betrieb eine Firma für Beton- und Terrazzobau. Der Betrieb stand unmittelbar vor der Insolvenz, als er vom Amtsgericht Weimar am 16. Februar 2018 in 47 Fällen wegen der Veruntreuung von Arbeitsentgelt (§ 266a Strafgesetzbuch), verbunden mit tateinheitlicher Steuerhinterziehung (§ 370 Abgabenordnung), zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt wurde, die man zur Bewährung aussetzte.

Dem Angeklagten wurden aktuell von der Staatsanwaltschaft zwei tatmehrheitliche Fälle des vorsätzlichen Bankrotts vorgeworfen, weil er trotz einer hohen Verschuldung seines Betriebes Bestandteile seines Vermögens beiseite geschafft hatte. Nach einem ersten Insolvenzgutachten wurden so zumindest Privatentnahmen in Höhe von zirka 193.000 € verschleiert.

Da der Angeklagte türkischer Staatsangehöriger war und der Richter nach Aktenlage Zweifel hatte, ob er der Verhandlung vollständig folgen konnte, hatte er einen Dolmetscher geladen. Dolmetscher in Gerichtssälen sind nichts Außergewöhnliches. Jedoch hat bei dieser Gerichtsverhandlung die Lautstärke, mit der er übersetzte, die Verhandlung sehr gestört. Er sprach teilweise so laut zu den neben ihm sitzenden Angeklagten, dass die eigentlichen Akteure, der Richter, der Staatsanwalt und die Zeugen, nur schwer zu verstehen waren. Selbst der Verteidiger war mit seinem Stuhl hin und wieder weggerückt, näher an den Richtertisch heran, um besser hören zu können. Warum wurde eigentlich ein Verfahren aus Weimar vor dem Amtsgericht in Erfurt verhandelt? Da gibt das Thüringer Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes (ThürAGGVG) Auskunft: Gemäß Paragraf 14 werden Wirtschaftsstrafsachen, soweit das Amtsgericht als Gericht des ersten Rechtszuges zuständig ist, den Amtsgerichten am Sitz der Landgerichte zugewiesen. Also Amtsgericht Erfurt.

Der Verteidiger ergriff für seinen Mandanten das Wort und erklärte, dass ja im Jahr 2018 die Verurteilung wegen Sozialbetrug und Steuerhinterziehung erfolgte und dann das Finanzamt im September 2018 Insolvenzantrag stellt. Rechtsanwalt Stunz wurde als Insolvenzverwalter bestellt und hat mittels eines Schreibens vom Angeklagten Unterlagen angefordert. Der Rechtsanwalt ging daraufhin zum Richtertisch und legte ein diesbezügliches Schreiben vor. Es kamen noch drei weitere Schreiben vom Insolvenzverwalter, daraufhin habe sein Mandant alle geforderten Unterlagen übergeben. Weitere Unterlagen sind im Rahmen von Durchsuchungen in der Wohnung und im Keller des Angeklagten im damaligen Verfahren sichergestellt worden. Dann hat sein Mandant fälschlicherweise angenommen, dass die anderen Unterlagen vernichtet werden können, und hat dies auch getan. Der Angeklagte – so sein Verteidiger weiter – hätte nicht gewusst, dass eine Pflicht zur Aufbewahrung der Unterlagen besteht. Der Verteidiger weiter: „Normalerweise geht der Insolvenzverwalter in den Betrieb und nimmt alle Unterlagen mit. In diesem Fall war der Insolvenzverwalter kein einziges Mal bei meinen Mandanten.

In der Folge ging es um die dubiose Umschreibung, Überlassung und/oder Verkauf des Audi A 6 im Wert von 4.500 €. Dies soll hier nicht weiter dargestellt werden, weil es bei der vorherigen Insolvenz um einen Gesamtschaden von fast einer Million Euro ging, immerhin 419.000 € unterliegen der Einziehung, wovon kein einziger Euro tatsächlich gesichert werden konnte. Da machen 4.500 € nur wenig aus, sie zeigen höchstens die kriminelle Energie und den Willen sowie die Fähigkeit des Angeklagten, seinen Gläubigern nichts übrig zu lassen. Es wird hier gekürzt dargestellt, da dieser Anklagepunkt letztlich mit Einverständnis des Staatsanwalts gemäß Paragraf 154 II Strafprozessordnung eingestellt wurde. In der realen Verhandlung ging es um diesen PKW 45 Minuten lang.

Staatsanwalt Dr. Becker führte aus, dass es bereits ab 2015 mehrere Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse gegen den Angeklagten gab, er bereits 2017 eine eidesstattliche Versicherung abgegeben hatte. „Spätestens ab diesem Zeitpunkt ging es nicht mehr, etwas aus dem Vermögen zu Gunsten irgendeines Gläubigers zu entnehmen. Das hätte er unterlassen müssen.“ Der Staatsanwalt fragt den Angeklagten direkt: „Sie waren bei Herrn Stunz zum Gespräch. Was hat er Ihnen gesagt?“ – Der Angeklagte. „Er wollte die Unterlagen haben.“ Dr. Becker ließ nicht locker: „Erinnern Sie sich bitte genauer?“ – Vom Angeklagten kam nicht viel: „Alles, was er haben wollte, haben wir ihm gegeben.

Daraufhin schlägt der Staatsanwalt dem Gericht vor, zunächst den Insolvenzverwalter zu hören: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er gesagt hat, dass er nicht alle Unterlagen braucht!

Der 47jährige Rechtsanwalt Christian Stunz macht zur Sache klare und übersichtliche Angaben. Er habe im November 2018 vom Insolvenzgericht Erfurt den Auftrag erhalten, ein Insolvenzgutachten zu erstellen, dem lag ein Fremdantrag auf Insolvenz des Finanzamtes zugrunde. Er hatte mehrfach versucht, persönlichen Kontakt zum Angeklagten aufzunehmen, hat ihn aber nie erreicht. Der Kontakt lief letztlich über seine deutsche Ehefrau, die aber vom Geschäft wenig verstand. Sie sagte, sie würde in seinen Namen sprechen, er wär nicht erreichbar, wohl im Ausland. Schließlich gab es nach längerer Verzögerung doch einen Termin mit dem Angeklagten und seiner Ehefrau im Erfurter Büro des Insolvenzverwalters, weil die Ehefrau erklärte, dass es kein Firmenbüro gebe, das habe ihr Mann alles von zu Hause aus dem Wohnzimmer heraus gemacht. Er hat dann Unterlagen bekommen, die sehr unvollständig waren und nicht der gebotenen kaufmännischen Sorgfalt entsprachen. Er stellte aber fest, dass die Zahlungsunfähigkeit der Firma nicht an eventuellen Auftragsrückgängen liege, denn in den Jahren 2015, 2016 und 2017 hatte er einen Umsatz zwischen 222.000 und 284.000 € und einen Überschuss zwischen 52.000 und 91.000 €. Es gab aber Privatentnahmen jeweils im 6stelligen Bereich. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl von Verbindlichkeiten nicht gebucht. Im Insolvenzverfahren gibt es bereits über 40 Forderungsanmeldungen in einer Höhe von 980.000 €, wobei 863.000 € bereits geprüft sind. Der Kontostand des Unternehmens ist bei 29.000 €. Der Angeklagte hatte bis zu zehn Eisenflechter in seinem Unternehmen beschäftigt. Es ist unklar, wo die Fahrzeuge und die Werkzeuge geblieben sind.

Der Staatsanwalt fragt konkret nach: „Welche Unterlagen haben Sie angefordert?“ Der Zeuge: „Ich habe wie immer alle Unterlagen angefordert. Dazu gibt es einen konkreten Fragebogen, den alle insolventen Firmen ausfüllen und mir mit den Unterlagen zuschicken müssen. Die Unterlagen wurden in ‚loser Schüttung‘ übergeben. Damit meine ich: ungeordnet, unübersichtlich, in Kartons lose aufbewahrt.

Auf Nachfrage des Verteidigers gibt der Zeuge zu: „Ja, ich habe den Auftrag zuerst unterschätzt, da ging es um Verbindlichkeiten in Höhe von 274.000 €. Es hat sich erst nach und nach so entwickelt, das war am Anfang nicht abzusehen.

Nach einigen Hin und Her zwischen Verteidiger und Zeuge wurde er entlassen.

Der Verteidiger sprach den Vorsitzenden direkt an: „Ich weiß nicht, ob ein Rechtsgespräch zu Stande kommt…“ Staatsanwalt Dr. Becker spricht sofort dazwischen: „Wer unter Bewährung eine Bankrottstraftat begeht, der muss sich nicht wundern, dass die Bewährung widerrufen wird!“ Der Verteidiger weiter: „Ich will das gar nicht bagatellisieren…“ – Dr. Becker: „Hier geht es um richtig viel Geld“! Richter Hauzel: „Hier geht es um zwei Taten, und ein Jahr und zehn Monate sind noch offen!“ Entgegen den oben gesagten, versucht der Verteidiger, das Vernichten der Unterlagen doch zu bagatellisieren. Dr. Becker darauf: „Das liegt nicht im Ermessen des Angeklagten, welche Unterlagen der Buchhaltung für den Insolvenzverwalter wichtig sind, das bestimmt der Insolvenzverwalter.“ Der Vorsitzende liest aus einem früheren Beschlagnahmeprotokoll der Polizei die Aktenstück-Titel vor, welche sichergestellt wurden, und schon daraus ging eindeutig hervor, dass sie für das Insolvenzverfahren wichtig waren. Das sieht dann sehr schnell auch der Verteidiger ein: „Ziel ist es, dass er nicht in Haft geht!“ Staatsanwalt Dr. Becker: „Das ist nicht mein Problem.

Nach einer zehnminütigen Sitzungspause fragte Richter Hauzel den Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen: „Was machen Sie jetzt?“ Der Angeklagte ist als Arbeitnehmer im Bereich Betonbau tätig, verdient durchschnittlich 1.000 € netto, hat vier Kinder, drei davon in der Türkei. Mit seiner deutschen Ehefrau hat er einen 17jährigen Sohn, der mit im gemeinsamen Haushalt lebt. Der Verteidiger ergänzt, dass die Bewährungsauflagen der vorherigen Verurteilung vollständig beglichen sind. Der Vorsitzende Richter: „Ich könnte mir vorstellen, den ersten Fall nach 154 II einzustellen und für den zweiten Fall sechs Monate Freiheitsstrafe auszusprechen, welche zur Bewährung ausgesetzt würde.“ Staatsanwalt Dr. Becker signalisierte Einverständnis. Daraufhin ziehen sich der Angeklagte und sein Verteidiger zu einer Beratung zurück.

Zurückgekommen, wird die Verhandlung fortgesetzt, indem der Richter die Beweisaufnahme schließt. Das Plädoyer des Staatsanwaltes ist kurz: „Wir haben nur noch die Bankrotthandlung durch das Vernichten der Unterlagen. Ich persönlich halte eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten für tat- und schuldangemessen. Er hat sich in der Bewährung nicht bewährt. Es handelt sich um keine Bagatellstraftat. Ich plädiere auf sechs Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung.

Der Verteidiger fasst sich ebenfalls kurz: Sechs Monate Freiheitsstrafe mit einer 2jährigen Bewährungszeit und einer Arbeitsauflage seien angemessen.

Das Urteil: Sechs Monate Freiheitsstrafe, welche für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Als Bewährungsauflage hat der Angeklagte 100 Arbeitsstunden – vorzugsweise in einer Pflegeeinrichtung – innerhalb der nächsten fünf Monate abzuleisten.

Die Position vom Staatsanwalt war nicht wirklich zu verstehen: Zum einen war er im Rechtsgespräch mit dem Vorschlag des Vorsitzenden einverstanden, noch mal eine Bewährung auszusprechen. Zum anderen forderte er in seinem Plädoyer eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Noch im Verhandlungssaal darauf angesprochen, sagte er, dass er im Rechtsgespräch nicht einverstanden war. Trotz der schlechten Akustik: Hier hatte ich mich nicht verhört! Wie um Verständnis bittend, sagte er, dass es in solchen Sachen besser ist, dass es das Amtsgericht entscheidet, denn spätestens wenn es zur Berufung kommt, geht’s mit Bewährung ab. Erläuternd sagte er, dass die Berufungskammer des Landgerichts Mühlhausen seit Monaten nicht besetzt sei, weil der Vorsitzende „plötzlich“ in Vorruhestand gegangen war. Darüber sollte ich lieber berichten.

Das tue ich hiermit: Auf Nachfrage beim Thüringer Justizministerium erhielt ich die klare und eindeutige Antwort: „Die insbesondere für Berufungen in Wirtschaftsstrafsachen zuständige 7. Strafkammer (2. Wirtschaftsstrafkammer) des Landgerichts Mühlhausen ist besetzt und arbeitsfähig. Seit der Ruhestandsversetzung des vormaligen Vorsitzenden Richters im Mai 2020 obliegt die Vertretung einer Vorsitzenden Richterin am Landgericht.“

(10.11.2020 – 10:00 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Schöffengericht, Saal E 7)

A.S.