Der Einbrecher, der nicht ausbrechen konnte…


Richter Thomas Hauzel. Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Zuerst hieß es wieder mal warten. Diesmal kam der Angeklagte zu spät. Ihn trifft dabei keine Schuld. Er wurde aus der Strafhaft aus Untermaßfeld vorgeführt, er sitzt dort eine Freiheitsstrafe ab, welche erst vor wenigen Wochen vom gleichen Gericht wegen ähnlicher Delikte verhängt worden war. Der Verteidiger, Rechtsanwalt Tobias Goldmann und der Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt Dr. Joachim Becker, kamen derweil locker ins Gespräch. So groß ist Erfurt nun auch nicht – man kennt sich. Und wenn man gerade so schön beisammen ist, kann man auch über das anstehende Verfahren reden. Dr. Becker: „Also, wenn er sich geständig einlässt, kann ich mir vorstellen, dass wir hier zwischen zwei Jahren sechs Monaten und zwei Jahren und zehn Monaten rausgehen.“ Rechtsanwalt Goldmann: „Das halte ich für ein bisschen zu hoch, es waren ja überwiegend Versuche…“ Dr. Becker: „Das Gericht muss überzeugt sein, und dann mache ich alles mit, was das Gericht vorschlägt.“ Der Vorsitzende Richter des Erfurter Schöffengerichts, Thomas Hauzel, kam nach geraumer Zeit hinzu. Stück für Stück wurde aus dem lockeren Gespräch ein Rechtsgespräch mit Verständigung. „Er bringt ja ein Jahr und fünf Monate von mir mit, das haben wir erst am 27. Mai verhandelt!“, so der Richter. Letztlich gab es eine Verständigung. Sollte sich der Angeklagte geständig zu den ihm vorgeworfenen Taten äußern, könnte sich das Gericht einen Strafrahmen von zwei Jahren drei Monaten bis zu zwei Jahren und zehn Monaten vorstellen. Rechtsanwalt Goldmann verwies aber darauf, dass es bei einer der vorgeworfenen Taten eine Besonderheit gab, das solle der Angeklagte aber selber sagen. Es ging wohl um eine Art Fassadenkletterei, so richtig schlau wurde man als Zuschauer nicht. Der Richter und seine beiden Schöffen, Staatsanwalt und Verteidiger schauten sich am Richtertisch Fotos von diesen einen Tatort an, der Angeklagte hat sich wohl an einer Dachrinne entlang gehangelt und wollte durch ein Fenster in eine Wohnung eindringen. Dr. Becker zum Richter: „Er wollte wohl nicht einsteigen, sondern sich festhalten.“ Der Verteidiger: „Das soll er Ihnen selber erzählen.

Vorgeführt wurde der 54jährige Otto Alois K., die Anklage lautete auf versuchten Diebstahl in sechs Fällen und versuchten Wohnungseinbruchsdiebstahl. Verteidiger und Angeklagter besprechen sich im Nebenzimmer.

Mit einer Stunde Verspätung geht’s richtig los. Richter Hauzel unterbreitete den Vorschlag, eine weitere Anklage gleich mit zu verhandeln, sie wurde zwar noch nicht eröffnet, wenn aber der Angeklagte und sein Verteidiger sowie der Staatsanwalt einverstanden wären, könne man das Verfahren gleich mit verhandeln. „Das macht aber nur Sinn, wenn er sich dazu äußert. Er soll nur das gestehen, was er wirklich war, aber ohne Geständnis macht es wenig Sinn.“ Der Angeklagte stimmte nach kurzer Zwiesprache mit seinem Anwalt zu.

Oberstaatsanwalt Dr. Becker verlas nun zwei Anklagen, zuerst die sechs versuchten Einbruchsdiebstähle und den versuchten Wohnungseinbruch: Zugetragen haben sich all diese Taten in einer Nacht im März 2019 in der Erfurter Bahnhofstraße. Die Presse hatte bereits am folgenden Tag berichtet. Der Angeklagte soll sich durch Lösen der Bolzen an einer Eingangstür eines Wohn- und Geschäftshauses Zutritt zum Treppenhaus verschafft und dort versucht haben, durch Aufhebeln der Türen mittels eines Schraubenziehers ins Innere zu gelangen, um dort Wertgegenstände zu stehlen. Das Eindringen ist ihm nur in einem Fall, in einen Lagerraum gelungen, entwendet wurde dort von ihm nichts. Das vierte Obergeschoß verließ er über ein Flachdach und versuchte, über ein Fenster in eine Wohnung einzusteigen. Daran wurde er durch den Wohnungseigentümer gehindert, der ihn durch das geschlossene Fenster bemerkte. Anschließend soll er versucht haben, über das Fenster in eine Anwaltskanzlei einzudringen. Auch dies gelang nicht.

Die zweite Anklage warf ihm vor, im November 2018 in einem Geschäftsraum die Ersatzschlüssel entwendet zu haben sowie kurze Zeit später im Erfurter Cafe Nerly eingebrochen zu sein, dabei wurde er von einer Angestellten gestellt.

Der Angeklagte äußerte sich zu den Vorwürfen: „Ich stimme zu, die Taten stimmen im Großen und Ganzen, ich räume die Taten ein.“ Richter Hauzel: „Und die anderen Taten?“ Der Angeklagte: „Ich möchte mal erklären, wie es zustande gekommen ist. Ich war in der Suchtberatung, und hatte dann einen dramatischen Rückfall, durch einen Trauerfall. Da hatte ich Drogen geholt. Zuerst hatte ich Heroin besorgt, um abzuschalten, dann hab ich Crystal genommen, weil mir der Dealer das mitgegeben hat. Mit Tränen erstickender Stimme: „Der emotionale Rückfall war, weil mein bester und einziger Freund gestorben ist.“  Nachdem er sich wieder gefasst hatte, schilderte er den Verlauf der Tat aus seiner Sicht: „Zwischen halb zehn und halb elf abends hab ich die Drogen besorgt.“ Der Richter fragt dazwischen: „Den Namen des Dealers wollen Sie nicht sagen?“ Der Angeklagte: „Nein, das spielt aber auch keine Rolle, er sitzt jetzt in Haft.“ Wieder Richter Hauzel: „Was haben Sie für die Drogen bezahlt?“ – „Für fünf Gramm Heroin und ein bisschen Crystal – 90 Euro. Ich hab die Drogen dann gleich konsumiert, nicht alles, sonst wäre ich nicht mehr hier. Ich wusste dass in dem Gebäude eine Apotheke ist, ich bin rein und wollte zu dem  Italiener im Erdgeschoss, da war aber noch Betrieb, da bin ich hoch und habe gewartet. Weil ich auf Heroin war, bin ich dort eingeschlafen.“ Sein Verteidiger ergänzt: „Das war in dem Lagerraum.“ Der Angeklagte weiter: „Als ich wach wurde, war es dunkel, da bin ich wieder runter und habe geguckt, wo ich was holen konnte. Ich wusste, dass dort unten der Vorratsraum der Pizzeria war. Ich hab es mit dem Schraubenzieher versucht, bin aber nicht rein gekommen. Ich wollte dann raus, bin aber nicht rausgekommen. Da habe ich versucht, die Eingangstür aufzumachen, das hat aber nicht geklappt.“

Rechtsanwalt Goldmann ergänzt: „Er hat also nicht die Bolzen der Eingangstür von außen aufgeschraubt, wie es die Staatsanwaltschaft vorwirft, um rein zu kommen, sondern von innen, um raus zu kommen! Anders geht es auch nicht.“ Der Angeklagte weiter: „Ich bin dann wieder das Treppenhaus hoch aus dem Notausgang raus. Das war ganz oben im vierten Obergeschoss, da ging dann der Alarm wir blöde los.“ Der Staatsanwalt fügt an: „Da steht ja auch groß der Hinweis Alarm!“ Der Angeklagte: „Ich wollte bloß raus. Dann hab ich mich auf dem Dach umgeschaut, da ging’s nur bergab. Da war ein Dachfenster, das versuchte ich aufzumachen, es aufzuhebeln, da war ein Gesicht im Spiegelbild des Fensters. Ich habe geklopft, gefragte, ob er mich rein lässt.“

Der Angeklagte weiter: „Ich hab geschrien, er soll aufmachen, ich wollte Hilfe,  hatte Angst, abzustürzen. Dann bin ich am Dach weiter, da war eine Feuerleiter, so eine Wendeltreppe, da bin ich runter.“ Der Richter: „Was war mit der Tür in der Anwaltskanzlei?“ Der Angeklagte: „Da wollte ich raus!“ Der Vorsitzende Richter, der sich immer wieder mit seinen beiden Schöffen verständigt hatte, zum Angeklagten: „Das ist ja eine abenteuerliche Geschichte!

Aber so, wie er diese Geschichte erzählte, war sie tatsächlich glaubhaft.

Der Angeklagte, mittelgroß, ins grau gehendes kurzes Haar, sieht kränklich aus, schlank, fast mager, sitzt er in seinem weißen T-Shirt neben seinen Anwalt wie ein Häufchen Unglück. Er schildert aus seinen Leben: Er hat 28 Jahre Heroin genommen, dann eine Therapie gemacht und es geschafft. Er war zehn Jahre clean, hat sogar eine Drogenhilfe als Verein mit aufgebaut, hat für Drogenabhängige Schlafplätze angeboten. Dann hatte er den Rückfall, seit April 2017 geht er jeden zweiten Tag zum Dealer, kauft Crystal, ein Gramm kostet 100 Euro. Rechtsanwalt Goldmann, der sich ein wenig darüber ärgert, dass er vom Richter mehrfach mit „Herr Goldstein“ angeredet wird („Wir sind uns noch nicht mal ähnlich!“), findet, dass bei seinem Mandanten die Voraussetzung des Paragrafen 35 Betäubungsmittelgesetz vorliegen, das heißt, eine Zurückstellung der Strafvollstreckung zur stationären Drogentherapie möglich sind.

Richter Hauzel will wissen, wo der Angeklagte die letzte Suchttherapie absolviert hat. Der Angeklagte: „In Erfurt, sechs Monate stationär, ich hab noch drei Monate dran gehängt.“ Der Richter weiter: „Wie geht es Ihnen jetzt?“ Der Angeklagte bricht in Tränen aus, berichtet von bevorstehenden Operationen und einer Krebserkrankung sowie seinen sehr schlechten Zähnen. Sein Anwalt ergänzt: „Er hat Hodenkrebs.“ Dem Richter sind solche Krankheitsbilder nicht unbekannt: „Ich sehe und höre das hier oft, dass sind auch Folgen des Crystal-Konsums.

Nach den Schilderungen des Angeklagten beantragt Staatsanwalt Dr. Becker den versuchten Wohnungseinbruch nach Paragraf 154 Absatz 2 Strafprozessordnung einzustellen, dem kommt das Gericht nach.

Breiten Raum nimmt das Verlesen des Bundeszentralregisterauszuges ein. Der 1965 in Rotenburg/Fulda geborene Otto K. war seit 1988 – meist einschlägig – vorbestraft. Der BZR-Auszug weist 23 Eintragungen aus, überwiegend wegen Diebstählen und Drogendelikte, aber auch Fahren ohne Fahrerlaubnis, Körperverletzung, Betrug und Vortäuschen einer Straftat. Von 2007 bis 2017 gab es gegen ihn keine Verurteilungen. Das war die Zeit, in der er clean war.

Richter Hauzel verliest aus seinem Urteil vom 27. Mai 2019: Der Angeklagte war am 11. Juni 2018 mit einem unbekannten Mittäter in eine Erfurter Berufsschule eingebrochen, hatte dort einen Kaffeeautomaten und einen Getränkeautomaten aufgebrochen und das Bargeld entnommen. Er wurde vom Hausmeister gestellt, sein Mittäter konnte mit dem Geld fliehen.

Da es zuvor eine Verständigung gab, fielen die Plädoyers kurz aus: Der Staatsanwalt beantragte unter Auflösung des früheren Urteils eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Verteidiger beantragte zwei Jahre und drei Monate. Als strafmildern gab er an, dass sich der Angeklagte mit dem Aufbau des Vereins für Drogenhilfe persönlich völlig überforderte und es so zu dem Rückfall nach zehn Jahren gekommen war.

Nach kurzer Unterbrechung das nicht unerwartete Urteil: Zwei Jahre und vier Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Der Vorsitzende Richter: „Das Gericht wird mit der Zurückstellung der Freiheitsstrafe gemäß Paragraf 35 Betäubungsmittelgesetz einverstanden sein, wenn Sie den Antrag stellen.

In wenigen Fällen erübrigt sich ein weitergehender Kommentar. Diese Geschichte spricht für sich.

(01.07.2019 – 13:00 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Saal 16)

A.S.