„Das werd ich schon gewesen sein.“

Das Erfurter Justizzentrum, im Hintergrund das Bundesarbeitsgericht. Bilderechte bei www.gerichtsalltag.de

Das Justizzentrum Erfurt ist ein beeindruckender Bau. 2001 wurde das Gebäude eingeweiht und beherbergt neben dem Amtsgericht Erfurt das  Arbeitsgericht Erfurt, das Landesarbeitsgericht, das Landessozialgericht, sowie die Staatsanwaltschaft Erfurt. Basis dieses Gebäudekomplexes ist ein ehemaliges Gebäude der „Optima-Büromaschinenwerke“ am Erfurter Brühl. Mit dem ein Jahr zuvor fertiggestellten Bundesarbeitsgericht entstand oberhalb des Domplatzes ein städtebauliches Ensemble, welches in den letzten Jahren durch weitere Wohn- und Geschäftshäuser sowie die fast vollständige Fertigstellung des neuen Innenstadtquartiers „Am Brühl“ ergänzt wurde. So wurde ein ehemals geschlossenes Industriegelände der Stadt und seinen Bürger zurückgeben.

Das Schöffengericht beim Amtsgericht Erfurt unter Vorsitz von Herrn Richter Thomas Hauzel verhandelte am 3. Dezember 2019 wegen Diebstahls. Der Verhandlungsbeginn verzögerte sich um mehr als eine halbe Stunde – das Schöffengericht hatte bereits ab 9 Uhr eine Verhandlung angesetzt, die sich doch in die Länge zog. Dem Gericht reichten fünf Minuten Pause, dann ging es weiter. Vor dem Verhandlungssaal wartete ein Duzend Zeugen. Für 14:30 Uhr hatte der Vorsitzende bereits die nächste Verhandlung anberaumt. Staatsanwaltlichen Sitzungsdienst hatte Frau Staatsanwältin Claudia Unger.

Rechtsanwalt Volkmar Kölzsch vertrat den Angeklagten, der auch von seiner Mutter begleitet wurde. Richter Hauzel hatte auch den rechtlichen Betreuer des Angeklagten geladen und fragte gleich munter drauf los, zuerst zum Angeklagten. Der 1983 in Erfurt geborene Silvio H. stand seit mehreren Jahren unter rechtlicher Betreuung, so zur Gesundheitsfürsorge, zur Vermögenssorge, zu Entscheidungen in Wohnungsangelegenheiten sowie in der Vertretung gegenüber Behörden. Richter Hauzel: „Also so gut wie alles!“ Der rechtlichen Betreuer – er machte von Anfang an einen sehr guten Eindruck – kompetent, auskunftsfähig, engagiert – bejahte dies.

Der Angeklagte hält sich Juli 2019 in einer sozialtherapeutischen Einrichtung in Mecklenburg-Vorpommern auf. Er hat dort eine Chance bekommen, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen, arbeitet dort in seinem alten Beruf als Koch. „Ich bin dort Souschef!“ sagte der Angeklagte voller Stolz. Das bestätigt sowohl sein rechtlicher Betreuer als auch der daneben sitzende Leiter der Arbeitstherapie der Einrichtung. Diese Beiden waren während der gesamten Verhandlung im Zuschauerraum. Hin und wieder wurden sie vom Richter etwas gefragt, sie antworteten stets kurz, sachlich und überzeugend.

Die Staatsanwältin verlas insgesamt drei Anklagen. Es waren insgesamt 25 Ladendiebstähle aufgeführt, die der Silvio H. ab Februar 2019 verübt haben sollte. Dabei ging es nicht um Kleinigkeiten. Nein. Hier ging es um hochwertiges Parfüm, um T-Shirts teurer Marken, um zwei Laptops, um teure Besteckkästen. Insgesamt ein Schaden von über 6.000 Euro. Dabei hatte er an manchen Tagen zweimal „zugeschlagen“, noch dazu im selben Geschäft. Einige Male wurde er erwischt, meist gelangen aber diese Diebstähle, teils dreist ausgeführt.

Nach der Anklageverlesung fragte der Vorsitzende, ob er sich zu den Taten äußern wolle. – Er wollte. Rechtsanwalt Kölzsch erklärte, dass sein Mandant grundsätzlich die Taten einräume, das Nähere wolle er selbst sagen. Der sehr beleibte Angeklagte, kurz geschnittene blonde Haare, begann: „Ich hab keinen Überblick mehr, hab nur noch im Rausch gelebt, hab das Zeug geklaut, kann mich im Detail nicht daran erinnern.“ So leicht wollte und konnte es das Gericht ihm nicht machen: „Haben Sie noch eine Erinnerung an die WMF-Besteckkästen?“ – „Nein. Ich werd das schon gewesen sein.“ Richter Thomas Hauzel fragt weiter nach: „Was haben Sie mit den Sachen gemacht?“ Der Angeklagte: „Am Bahnhof verkauft, an Ausländern, dann hab ich mir davon Drogen gekauft.“ – Was kriegt man dafür?“ wollte der Richter wissen. – „Ein Drittel des Neupreises. Ich habe mir davon Crystal gekauft, auch Cannabis, und dann habe ich noch gespielt.“

Richter Hauzel zum Angeklagten: „In der Anklage mit den 20 Taten steht nur Paragraf 242, nicht 243. Das, was Sie gemacht haben, ist gewerbsmäßig, den rechtlichen Hinweis muss ich geben, da gibt es für jede einzelne Handlung mindestens drei Monate Freiheitsstrafe!“ Rechtsanwalt Kölzsch erwidert: „Darüber haben wir schon gesprochen.“ Der Richter fährt mit der Beweisaufnahme fort: „In der Akte gibt es Fotos, die Sie zeigen, so sind sie ja auch ermittelt worden. Sie haben ja eine markante Figur, dann immer ein kariertes Hemd und ein Basecap.“ Dann schiebt er nach: „Sind Sie eigentlich mal erwischt worden?“ – „Ja, die T-Shirts, den Wodka und die Laptops sind zurückgeblieben. Aber das bei ‚real‘, das stimmt nicht.

Der Richter bittet nach vorn zum Richtertisch, blättert in der Akte und zeigt auf entsprechende Fotos, offensichtlich aus Überwachungsvideos herausgeschnitten. Der Angeklagte sieht sich, zusammen mit seinem Verteidiger und der Staatsanwältin, die Bilder an: „Das werd ich schon gewesen sein.

Das reicht dem Vorsitzenden nicht. Er vernahm zwei Zeuginnen, beide Verkäuferinnen aus dem Einzelhandel. Sie konnten zwar den Diebstahl nicht schildern, hatten den Angeklagten aber gesehen, wie er mit den Besteckkästen aus dem Geschäft rannte, nachdem das Warensicherungssystem Alarm geschlagen hatte.

Rechtsanwalt Volkmar Kölzsch bat um das Wort: „Das Ziel der Verteidigung besteht darin, dass er zwei Jahre auf Bewährung kriegt. Ich nehme jetzt mal ein Stück das Plädoyer vorweg: Der Angeklagte hat in den letzten zehn Jahren Nichts hingekriegt, wie er selbst sagt. Jetzt läuft es seit einem knappen halben Jahr gut. Jetzt hat er eine echte Chance, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen.“ Mehr brauchte er nicht zu sagen.

Richter und Staatsanwältin puzzeln gemeinsam mit dem Angeklagten seinen aktuellen „Straf-Saldo“ zusammen. Seine letzte Freiheitsstrafe war drei Jahre und acht Monate, davon hat er zwei Jahre und sieben Monate abgesessen. Die noch offene Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Dann kamen die neuen – jetzt angeklagten – Straftaten. Er kam wieder in Untersuchungshaft, welche zum 11. Juli 2019 außer Vollzug gesetzt wurde. Er kam in eine sozialtherapeutische Einrichtung in Erfurt, wurde wieder straffällig. Dazu der Angeklagte: „Das war ich zu nah an meinem alten Milieu.

Leitsatz “Blaukreuz-Zentrum Schloss Zahren”

Sein rechtlicher Betreuer vermittelte ihn zum „Blaukreuz-Zentrum Schloss Zahren“, eine Einrichtung der Diakonie Mecklenburg. Seit dem, so Rechtsanwalt Kölzsch, lief es seit langem wieder richtig gut mit ihm. Auch der rechtliche Betreuer und der Leiter der dortigen Arbeitstherapie gaben ein positives Bild vom Angeklagten in der Einrichtung. Dem Gericht wurden die Ziele und Wege dieser Einrichtung vorgestellt, der Verteidiger gab ein Schriftstück zum Vorsitzenden, dass dieser verlas. Eine positive, aber insgesamt kritisch-nüchterne Einschätzung zur Person des Angeklagten. Ein Detail des Berichts: Seitdem er Verantwortung für die Küche trägt, ist das Essen viel besser geworden. Der Richter: „Gelernt ist gelernt!“ Am Rande erzählte der Angeklagte, bei Claus Alboth im Erfurter Kaisersaal gekocht zu haben, dann nach St.Moritz gegangen war. So rundete sich das Bild ab.

Silvio H. selbst schilderte seine dortigen Erfahrungen: „Mir gefällt es dort sehr gut, dass ist eine kirchliche Einrichtung. Dort werde ich gut betreut. Dort komme ich von den Drogen los. Da bin ich auf den richtigen weg. In Zahren gibt es keine Drogen. Dort bin ich neu, dort gefällt es mir: Ich stehe um 6 Uhr auf, gehe runter, machen das Frühstück für vierzig Leute…“

Der Mitarbeiter von Zahren ergänzt: „Die Bewohner sollen für sich selbst sorgen. Wer es warm haben will, muss Holz machen. Wer essen will, muss kochen. Es ist alles gut strukturiert. Er müsste neun Monate bleiben, um in die nächste Stufe zu kommen, das wäre eine Einzelwohngruppe, aber alles unter Kontrolle.“ Und der Mitarbeiter, etwas schelmisch, weiter: „Unser Vorteil ist, dass die nächste Einkaufsmöglichkeit neun Kilometer entfernt ist.“ Er schildert ausführlich das dortige Konzept und die aktuelle Situation des Angeklagten in dieser Einrichtung.

Richter Hauzel fragt nach Alkohol und Drogen: „Die machen unangemeldet Kontrollen, Blut, auch Alkoholkontrollen.“ Der Mitarbeiter aus Zahren: „Auch nachts.“ Die Beweisaufnahme ist in dieser Phase ein offenes Gespräch, ungewöhnlich, aber sehr erfreulich. Hier war das Ziel klar: Der Angeklagte braucht Hilfe!

Der Vorsitzende verlas einen Bericht der Sozialen Dienste der Justiz Erfurt, sie hatte in Amtshilfe eine Zuarbeit aus Mecklenburg angefordert. Es wurde deutlich – in Zahren wird mit den Bewohner so gearbeitet, wie sich die Anwesenden es sich wohl vorstellten, aber zu selten erlebten. Süchtige, die kriminell werden, insbesondere mit Beschaffungskriminalität anfallen, im Strafvollzug einzusperren – das ist ein Irrweg. Er belastet das Justizsystem und reproduziert sich selbst.

Staatsanwältin Unger plädierte für eine Freiheitsstrafe von zwei Jahre, welche zu Bewährung ausgesetzt werden müsse – „…alles andere wäre kontraproduktiv!“. Die 25 Taten räumte der Angeklagte voll umfänglich ein. Strafmildern würdigte sie seine Drogen- und Spielsucht, strafverschärfend kam aber auch seine zum Teil skrupellose Begehungsweise zur Sprache – er hatte kurz hintereinander und mehrfach Taten in gleichen Geschäften verübt. Die Bewährungszeit soll lang sein, mindestens vier Jahre. Auch soll ihm ein Bewährungshelfer zur Seite gestellt werden. Als Auflage soll im aufgegeben werden, die Therapie fortzusetzen. Zudem soll er 100 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten, das ist in Zahren in der Einrichtung möglich, aber an anderer Stelle, nicht in der Küche.

Rechtsanwalt Kölzsch machte es kurz: „Ich glaube, keiner freut sich mehr über den Antrag der Staatsanwältin, als mein Mandant. Er hat schon Tränen in den Augen. Ich schließe mich den Antrag an.

Nach der Mittagspause verkündet der sichtlich aufgeräumte Richter Hauzel das Urteil: Zwei Jahre Freiheitsstrafe, ausgesetzt zu einer fünfjährigen Bewährungszeit. Er muss 5.254 Euro Wertersatz leisten. Ihm wurden 200 Stunden gemeinnützige Arbeit aufgegeben. Das Resümee des Vorsitzenden: „Eigentlich hätte ich Ihnen drei Jahre und acht Monate geben müssen!“

Zwischen dem „Eigentlich“ aus der Aktenlage und dem Urteil liegt der Paragraf 261 Strafprozessordnung:

„Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“

So war es.

(03.12.2019 – 10:30 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Saal E 17)

A.S.