„Das waren keine Pillepalle-Straftaten.“

Auch das gehört zum Gerichtsalltag: Angeklagte und ihre Strafverteidiger nehmen das Recht wahr, Rechtsmittel gegen ein Urteil einzulegen. Rechtsmittel, also Revision, Berufung und Beschwerde werden nicht immer trennscharf unterschieden. Die 7. Strafkammer des Landgerichts Erfurt verhandelte am 6. März 2019 unter der Vorsitzenden Richterin am Landgericht Mechthild von Schmettau ein Verfahren, welches zur erneuten Verhandlung und Entscheidung vom Bundesgerichtshof (BGH 2 StR 368/18 vom 25. September 2018) zurückverwiesen wurde. Klar war: Das wird keine leichte Kost!

Der BGH beschloss: „Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 17. April 2018 im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafen mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.“ Das ist natürlich Juristendeutsch und bedarf Erläuterungen: Mit der Revision rügte der Angeklagte (bzw. dessen Anwältin) die Verletzung materiellen Rechts. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass das Urteil unbegründet war, soweit es sich gegen den Schuldspruch, die Einzelstrafen und die Einziehungsentscheidung richtete. Jedoch hat die Vorinstanz, also die 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt, bei der Bildung von den zwei Gesamtstrafen – es ging um insgesamt zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe – einen „technischen Fehler“ gemacht (von Schmettau), den es nun zu beheben bzw. richtigzustellen galt.

Nunmehr wurde „neu“ verhandelt, die Vorsitzende stellt aber zu Verhandlungsbeginn klar, dass es nur um die Bildung der Gesamtfreiheitsstrafen gehe. Das Urteil der 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt vom 17. April 2018 bliebe ansonsten unberührt.

Die Anklage wurde von Staatsanwältin Steffi Herb vertreten. Sie konnte sich aber die ersten eineinhalb Stunden zurücklehnen. Ebenso die Verteidigerin, Frau Susann Müller. Die Vorsitzende schilderte zuerst den Gang des für Außenstehende etwas unübersichtlichen Verfahrens. Sie und ihr Richterkollege Tietjen hatten sich in die Akten eingelesen, für die beiden ehrenamtlichen Richter war das Verfahren neu. Im Mittelpunkt standen die Taten und die kriminelle Karriere des Angeklagten, den 50jährigen Mario L. aus Sömmerda.

Komplizierte und komplexe juristische Sachverhalte lesbar und verständlich darzustellen, das ist auch ein Anspruch des Autors. Es ist aber auch Gerichtsalltag, dass Außenstehende, obwohl anwesend, tatsächlich außen stehen. Schuld daran ist nicht nur das oft geschmähte Juristendeutsch – jede Disziplin hat ihre Fachsprache. Es sind die immer wieder anders und speziell gelagerten Lebenssachverhalte und die verschiedenen handelnden Akteure mit ihren unterschiedlichen Interessen.

Im vorliegenden Fall – bei Mehrfachtätern mit beachtlicher krimineller Karriere – nimmt das Thema „Gesamtstrafenbildung“ am Ende der Hauptverhandlung immer wieder breiteren Raum ein. Verknüpft sind diese Fälle durch die fortgesetzte Begehung von Straftaten, deren zeitverzögerte Entdeckung, die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden bis zur Anklage: Hier ist eine koordinierte Strafverfolgung – sagen wir mal: anspruchsvoll.

So wie beim Angeklagten Mario L. in den letzten Jahren mehrfach geschehen: Während mehrere Strafverfahren gegen den in Freiheit befindlichen Angeklagten in verschiedenen Gerichtsbezirken liefen, er auf Bewährung „draußen war“, wurde er erneut straffällig. Die Verfahren waren jeweils in unterschiedlichen Stadien, zum Teil haben die Ermittlungen gerade erst begonnen, zum Teil waren die Verfahren bereits „ausermittelt“, andere waren gerade angeklagt. Zwischenzeitlich war er wieder inhaftiert. Was tun, sprach der Staatsanwalt? Verfahren werden „zusammengeführt“, „beigezogen“, „verbunden“, Bewährungsstrafen werden widerrufen, es werden Gesamtstrafen gebildet, teils unter „Auflösen des Urteils“ einer vorherigen Hauptverhandlung.

Um dieses Kuddelmuddel besser zu verstehen: Der Angeklagte, Jahrgang 1969, war seit 1988 insgesamt neunzehn Mal (!) rechtskräftig verurteilt, die aktuell verhandelten Fälle nicht mit gerechnet. Er hatte bereits drei Freiheitsstrafen abzusitzen: 1993 bis 1997, 2001 bis 2005, 2008 bis 2012. Zur Verhandlung wurde er aus der Justizvollzugsanstalt Tonna vorgeführt. In anderer Sache saß und sitzt er dort seit dem 22. April 2017 in Strafhaft, dass Strafende ist nach dem Vollzugsplan am 30. September 2024.

Die 2. Strafkammer hat rechtskräftig festgestellt, dass er vom 5. Dezember 2016 bis zum 12. Februar 2017 neun Betrugsstraftaten gewerbsmäßig begangen hatte. Seine Taten sind wenig einfallsreich: Er gab im Internet, vorzugsweise bei ebay-Kleinanzeigen, vor, etwas verkaufen zu wollen, obwohl er weder in Besitz dieser Waren war, noch vorhatte, etwas zu verkaufen. Er betrog seine Opfer um Beträge zwischen 300 und 850 Euro. Er gab vor, Quadrocopter, Konzertkarten sowie eine Drohne verkaufen zu wollen. Per Vorkasse überwiesen die vermeintlichen Käufer das Geld auf sein Konto, er lieferte nicht. Die Opfer zeigten die Tat an, er wurde als Täter leicht ermittelt.

Unter „Auflösung“ eines Urteils des Amtsgerichts Sömmerda – es wurde also teilweise bei der Bildung des Strafmaßes mit eingerechnet – wurde er dafür zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Juristisch ging es um das Anerkennen der sogenannten Zäsurwirkung einer zwischenzeitlichen Verurteilung während der Anhängigkeit eines oder mehrerer neuer Verfahren. Gegen dieses Urteil wurde Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.

Die 7. Strafkammer hatte nun die Aufgabe, erneut zu entscheiden. Dazu verlas die Vorsitzende Auszüge aus den entsprechenden Urteilen und erläuterte das Zustandekommen der Strafen durch die jeweiligen Gerichte.

Die Verteidigerin kannte den Angeklagten offensichtlich schon länger, hatte ihn bereits mehrfach vor Gericht vertreten. Sie war entschlossen, das Gericht von einer geringeren Strafe für ihren Mandanten zu überzeugen. Da hatte sie schlecht zugehört, denn darum ging es nicht, durfte es nicht gehen.

Sie erklärte dem Gericht umfassend und emotional, warum ein niedrigeres Strafmaß nötig sei. So führte sie aus, dass er sich ab 2012 geändert hatte. „Es gab nach 2012 nach der letzten Haftentlassung einen Cut. Er hat sich entschlossen, ins betreute Wohnen zu gehen. Er wusste, dass er allein nicht mehr klar komme.“ Das er danach wieder straffällig wurde, schob sie auf die negativen Umstände: „In Haft saß er in Tonna mit Bandidos zusammen, die haben ihn erpresst. Auch nach der Haftentlassung ist er von Bandidos erpresst worden, er hat aus der Erpressung heraus die Straftaten begangen. Das soll keine Entschuldigung sein, nur als Hintergrund.“ Dann wurde sie generell: „Wir haben hier einen Gesamtschaden von 11.000 Euro, dafür sitzt er sieben Jahre. Das sitzt kein Gewaltverbrecher ab. Steuerbetrüger verursachen Millionenschäden und sitzen kürzer. Man hat die Relation von Straftaten zu Strafen verloren. Sieben Jahre und jetzt noch mal zweieinhalb Jahre, dass ist keine Relation.

Wegen welcher Delikte war der Angeklagte – seit über 30 Jahren – immer wieder straffällig geworden? Betrug, Fahren ohne Führerschein, vorsätzliche Körperverletzung, schwerer Bandendiebstahl, Sachbeschädigung, Nötigung, Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz, Urkundenfälschung, immer wieder vorsätzliches Fahren ohne Führerschein, immer wieder Betrug.

Unverdrossen wiederholte jedoch die Verteidigerin mehrfach ihre wenig juristische Argumentation und führte als Entlastung seine schwere Kindheit (tatsächlich!), die Gewalterfahrung durch seinen Vater und den frühen Tod seiner Mutter an.

Sie wechselte dann ihre Strategie und griff die Staatsanwaltschaft frontal an: „Der Sachbearbeiter hat den jeweiligen Sitzungsvertreter angewiesen, nicht nachzugeben.“ An anderer Stelle – sie wiederholte den Vorwurf mehrfach, sagte sie: „Es war klar, dass der Abteilungsleiter den Sitzungsvertretern gesagt hat, es gibt kein Entgegenkommen.“ Zur Staatsanwältin gerichtet: „Das haben mir mindestens zwei Kollegen gesagt.“ In ihrem „Plädoyer“ steigerte sie sich in Richtung Staatsanwaltschaft weiter hinein und sprach von „Verurteilungswahn“, einer „uneinsichtigen Staatsanwaltschaft“, „welche die positive Entwicklung nicht berücksichtigte“ und „nicht verhältnismäßig“ agiere.

Gericht und Staatsanwältin hörten geduldig zu. Auf Nachfrage der Vorsitzenden, ob die Staatsanwaltschaft Anträge stellen wollte, verneinte Frau Herb. Das Gericht unterbrach für zehn Minuten und stellte anschließend fest: „Das Gericht sieht keine Veranlassung, nach dem jetzt Gehörten zu reagieren.“ Darauf Staatsanwältin Herb: „Auch ich stelle keine Anträge.“ Damit wurde die Beweisaufnahme geschlossen.

Die Staatsanwältin plädierte daraufhin und machte deutlich, dass es in der Verhandlung nur darum ging, ob die Gesamtfreiheitsstrafen richtig gebildet wurden. Für sie steht außer Zweifel, dass dies so sei. Sie ging trotzdem auf Argumente der Verteidigung ein: „Der Angeklagte hat mehrfach Bewährungsstrafen bekommen. Da kann die Verteidigerin nicht sagen, er hat keine Chancen bekommen.“ Weiter führte sie aus: „Der Angeklagte hat bei der Begehung dieser Taten mehrfach unter Bewährung gestanden. Kann man denn da eine positive Sozialprognose stellen? Das waren keine Pillepalle-Straftaten. Er hat jeweils über einen Wert von 800 Euro betrogen und ist nicht mal nur so schwarz Straßenbahn gefahren!“ Und weiter: „Ich halte die Bildung dieser beiden Gesamtfreiheitsstrafen für richtig!

Die Verteidigerin reagierte, indem sie emotional die Staatsanwältin angriff „Sie haben leider nicht zugehört.“ Dann wiederholte sie ihre Argumente: „Es geht nicht darum, dass er diese Scheiße gemacht hat. Keine einzige Tat ist ein Verbrechen. Er wird aber wie ein Schwerverbrecher behandelt. Ich beantrage, dass Verfahren gegen ihn einzustellen, wenn dies nicht geht, beantrage ich vielleicht neun Monate Freiheitsstrafe.

Nach Beratung verkündete Frau von Schmettau das Urteil: Die Gesamtstrafenbildung der 2. Strafkammer wird bestätigt. Er wird zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen von einem Jahr und vier Monaten sowie zu einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Sie begründete, indem sie ausführte, dass Urteil führt zu keinen Gesamtstrafübel, eine weitere Reduzierung des Strafmaßes sein nicht angezeigt gewesen. Neben eher rechtstheoretischen Erklärungen wurde sie auch ganz praktisch: „Am 19.1.2018 stand der Angeklagte vor dem Amtsgericht Sömmerda wegen Betrugs vor Gericht und wurde verurteilt. Neun Tage später hat er erneut eine Betrugshandlung begangen.“ Zusammenfassend und abschließend begründete sie weiter: „Die Erhöhung der Mindeststrafe bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe(n) war schon sehr moderat und angemessen ausgefallen.

Es bleibt also bei den zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe, der Weg zum Bundesgerichtshof hat sich für den Angeklagten nicht gelohnt. Ein kleiner „technischer“ Fehler wurde behoben. Die ruhige Art der Verhandlungsführung von Frau von Schmettau bleibt in angenehmer Erinnerung. Richter Udo Tietjen, nach außen wenig beteiligt, war immer auf „Ballhöhe“. Hin und wieder haben beide Berufsrichter die Köpfe zusammengesteckt und sich kurz beraten. Die erste kurze Beratungspause des Gerichts hat auch gezeigt, wie nach einer „Attacke“ der Verteidigung ein Gericht beratend und souverän reagieren kann.

(06.03.2019 – 08:45 Uhr, 7. Strafkammer am Landgericht Erfurt, Sitzungssaal E.43)

A.S.