„Das ist sowas von saublöde,…“

…dass muss Einen erstmal einfallen!“ Wer glaubt, dieses Zitat stammt von einem Opfer oder anders Beteiligten an einer Straftat, irrt. Aber der Reihe nach: Das Jugendschöffengericht am Amtsgericht Gotha verhandelte am 13. März 2019 über einen zwei Jahre alten Fall. Zwei junge Männer standen wegen der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion vor Gericht. Das ist schon harter Tobak. Gleichzeitig gewährte diese eintägige Verhandlung auch Einblicke in das merkwürdige Freizeitverhalten einer jungen Clique am Nordhang des Thüringer Waldes. Ohrdruf und Wölfis sind konkrete Orte der kriminellen Taten. Gräfenhain, Luisenthal und Crawinkel spielen eine Nebenrolle.

Oberstaatsanwalt Hannes Grünseisen vertrat die Anklage, kurzfristig war er für eine erkrankte Kollegin eingesprungen. Er warf den beiden Angeklagten zwei gemeinschaftliche Taten vor. Der Jüngere der beiden, der zur Tatzeit 18jährige Nico H., soll zusätzlich eine weitere – eigenständige – Tat begangen haben. Am 28. Januar 2017 soll er gegen 22:05 Uhr als Beifahrer aus einem PKW vor einem Wohnhaus in Wölfis ausgestiegen sein. Die Anklage wirft ihm vor, dann einen Sprengknallkörper angezündet und in den Briefkasten am Eingangstor gesteckt zu haben. Anschließend ist der PKW mit ihm weitergefahren. Der Knallkörper zerstörte den Briefkasten mit enormer Kraft, nach innen wurde der im Hof geparkte PKW erheblich beschädigt: Die Frontscheibe und beide Spiegel wurden zerstört, am Auto entstand eine Delle. Das Holztor war kaputt, nach außen flogen die Einzelteile bis auf die gegenüber liegende Straßenseite. Der Sachstand betrug rund 3000 Euro.

Im PKW saßen neben dem Angeklagten Nico H. der jetzt 23jährige Forstmaschinenführer Erik R., der zweite Angeklagte, sowie dessen jetzt 17jährige Freundin Chantal R., Fahrer war der arbeitslose Koch Markus S. – 27 Jahre alt.

Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Angeklagten vor, anschließend nach Ohrdruf gefahren zu sein, um gegen 23 Uhr an der ARAL-Tankstelle den Staubsauger-Automaten in die Luft gesprengt zu haben. Nach der Explosion sind sie zuerst abgehauen, dann aber zurückgekommen und sollen cirka 35 Euro in 50-Cent-Münzen aus dem beschädigten Staubsauger entwendet haben.

Kurz vor der ersten Tat sollen sie – ebenfalls in Wölfis – einen dieser Feuerwerksknaller über den Zaun der Familie W. geworfen haben. Dies spielte aber nur am Rande eine Rolle. Da kein Schaden festgestellt wurde, war diese Tat nicht angeklagt.

Die Angeklagten wurden durch Verteidiger vertreten, Nico H. durch Rechtsanwalt Wolfgang Biedermann und Erik R. durch Rechtsanwältin Silke Gruhner. Beide gaben an, dass ihre Mandanten aussagen wollten.

Richterin Viola Steigerwald als Vorsitzende des Jugendschöffengerichts fragte beide Angeklagten zur Tat. Zuerst sprach sie Nico H. an, wie er denn dazu stehe, den „Briefkasten atomisiert zu haben“. Der Angeklagte, kurz gehaltener Vollbart und kurzes dunkelblondes Haar, gab überraschend an: „Ich war das nicht, wir waren bei den W.`s, dort habe ich den Böller übern Zaun geworfen, das andere war ich nicht.“ Die Richterin, die wohl ein Geständnis erwartet hatte, warf ihm vor: „Das ist ja ein Zufall, dass in einer Nacht in Wölfis zwei Gruppen unabhängig voneinander mit baugleichen Böller rumknallen, und nicht zu Silvester, sondern Ende Januar.

Nico H. blieb bei seiner Aussage, es nicht gewesen zu sein, machte dabei aber keinen glaubwürdigen Eindruck. Ganz im Gegenteil. Auch sein Verteidiger schaute recht skeptisch. Dem Staatsanwalt erschien die gesamte Aussage auch unglaubwürdig, trotz mehrerer Nachfragen blieb er jedoch dabei. Oberstaatsanwalt Grünseisen: „Wir haben ja noch Zeugenaussagen!“ Das berührte den Angeklagten nicht. Er wirkte jedoch wie ein trotziges Kind, welches hartnäckig bei einer Lüge bleibt, obwohl alle ihn durchschauten.

Nico H. gab dann aber die zweite Sache zu. Er sei mit zur ARAL-Tankstelle gefahren, dort hat er sich zusammen mit Erik R. zum Automaten-Staubsauger begeben, 50 Cent eingeworfen und den Schlauch aus der Halterung genommen. Dann hat er den Böller angezündet und mit dem Schlauch des Staubsaugers eingesaugt. Dann sind beide weggerannt. Es hat einen großen Schlag gegeben. Später sind sie nochmals hingegangen „und haben geguckt, wie hoch die Zerstörung war.“

Die Richterin ungläubig: „Sie wollten sehen, wie hoch die Zerstörung war? Das hätte man schon vor der Tat wissen können“! Nico H. wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte: „Naja, wir wollten sehen, was passiert.
Münzen hätten sie nicht weggenommen, so Nico H. weiter, nur die 50 Cent, die sie reingesteckt habe: „Die gehörte ja uns!“ Sein Rechtsverständnis war schon fast lustig, der Staatsanwalt darauf: „Nein, dafür haben Sie ja eine Leistung erhalten.

Die Vorsitzende wandte sich an Erik H., dem ja nur die beiden Sachen an der ARAL-Tankstelle vorgeworfen wurden. Das mit dem Böller gab er zu, er stand neben Nico H., als er den Böller anzündete und „aufsaugte“. Die Böller hatte er ihm ein paar Tage zuvor verkauft, er hatte sie früher aus Tschechien mitgebracht, „sie sollten so richtig Krach machen“.

Auf Nachfrage schilderte er den Verlauf des Abends. Er wurde gegen 21 Uhr abgeholt, seine Freundin Chantal war auch dabei, beide kamen von der Geburtstagsfeier seiner Mutter. Er war leicht angetrunken. Sie sind dann zu Herrn S. ins Auto gestiegen und ziellose rumgefahren, waren auf „Ortskontrollfahrt“. Die Richterin kannte den Begriff nicht, er wiederholte und füge hinzu: „Auf dem Dorf ist der Begrif geläufig.“ Weiter Nico H.: „OKF – Man fährt halt rum und guckt, was los ist. Wir waren in Ohrdruf, Crawinkel, was so halt in der Nähe liegt, dann wieder nach Wölfis.

Von der Richterin nach Kenntnis der Straße (Wohnanschrift) und Namen des Geschädigten der Briefkastenexplosion gefragt: „Kenne ich nicht.“ So leicht gab die Vorsitzende nicht auf: „Haben sie irgendwo angehalten und hat Einer aus dem Auto einen Böller in einen Briefkasten geworfen?“ Erik R.: „Nein!

Erik R. war zur Tankstelle voll geständig, sagte, dass er sich bei der Tankstellenpächterin entschuldigt hatte und auch den Schaden wiedergutgemacht habe. Die Richterin erinnerte sich, dass ein diesbezügliches Schreiben von Erik R. in der Akte sei. Ein gleichlautendes Schreiben liege auch von Nico H. vor, sie fragte ihn: „Haben Sie sich auch bei der Tankstellenpächterin entschuldigt?“ – „Ja.“ – „Und da haben Sie den Gericht jeweils die wortgleichen Schreiben geschickt?“. Nico H.: „Nein!

Das wurde der Richterin doch zu bunt: „Haben Sie das selbst geschrieben?“ Nico H.: „Ja.“ Nachfrage: „Haben sie es gemeinsam mit Erik R. geschrieben?“ Antwort: „Nein.“ Hier schien sich ein notorischer Lügner zu entpuppen, es gab keinerlei ersichtlichen Grund, nicht die Wahrheit zu sagen. Der Staatsanwalt hakte nach: „Es ist ja nicht schlimm, sowas gemeinsam zu machen, nur stimmen muss es!“ Erik R. druckste ein bisschen herum: „Ja, ich habe es geschrieben und den Nico gegeben.“ – Vielsagende Blicke im Gerichtssaal.

Die Richterin, an Nico H. gewandt, wollte wissen, wie viele Böller er an diesen Abend mit hatte. Nico H.: „Fünf, einen habe ich über den Gartenzaun geworfen…“ Der Verteidiger ergänzt: „Und dann sind zwei bei der Durchsuchung gefunden wurden.“ Richterin Steigerwald: „Und dann der an der Tankstelle. Und dann bleibt genau noch einer übrig für den Briefkasten!“ Nico H.: „Das stimmt nicht, in den Staubsauger habe ich zwei reingesteckt!“ Die Richterin zum Mitangeklagten: „Stimmt das?“ Erik R. war diese Frage sehr unangenehm, er wurde rot im Gesicht, sehr zögerlich und zweifeln schaute er Nico H. an, sagte aber letztlich: „Ja, das stimmt.

Oberstaatsanwalt Grünseisen ermahnend: „Ich habe schon gesagt, was ich von den Aussagen des Herrn H. halte.“ An die Verteidiger: „Wir sollten mal versuchen, es anders zu machen. Reden Sie noch mal mit ihren Mandanten, Sie wissen, was ich meine. Ansonsten hören wir alle Zeugen.“ Richterin Steigerwald: „Die sind ja alle geladen!“ Der Staatsanwalt ergänzte: „Meine Intention war, dass die Verteidiger mit ihren Mandanten sprechen. Wir können aber auch alle Zeugen hören. Dann muss sich das Gericht eine Meinung bilden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass in Wölfis zur gleichen Zeit zwei verschiedene Personen Böller werfen. Das braucht dann nur ganz wenige Indizien.

Nach einer Unterbrechung berichtete Verteidiger Biedermann, dass sein Mandant bei seiner Aussage bleibe. Nico H.: „Mit den zerstörten Briefkasten habe ich nichts zu tun.“ Glaubhaft wirkte er auch mit dieser Aussage nicht. Mimik und Gestik widersprachen seinen Worten, dessen war es sich aber nicht bewusst. Daraufhin las die Richterin eine Zeugenaussage vor, indem konkret die Tathandlung beschrieben wurde: „Vor uns hielt das Auto, wir mussten unmittelbar dahinter stoppen. Nico stieg auf der Beifahrerseite aus und steckte einen Böller in die Briefkasten.“

Der Eigentümer des Wohnhauses konnte als Zeuge zur Tat „Briefkasten“ nicht Neues beitragen, er war zur Tatzeit nicht zu Hause. Seinen Schaden hatten Versicherung beglichen.

Die Briefkastensache ruhte erst mal. Gericht und Staatsanwaltschaft konzentrierten sich auf die Tankstelle. Es wurde eine Angestellte der Tankstelle und die Tankstellenpächterin als Zeugen gehört.

Die 33jährige Annika H., damals Mitarbeiterin an der Tankstelle, konnte nichts zum Erhellen des Tathergangs beitragen. Jedoch wurde klar, dass sich der Tatvorwurf mit den entwendeten 35 Euro nicht halten lies. Die 61jährige Tankstellenpächterin Katrin N. konnte zwar zur Tat selbst wenig aussagen. Ihre übrigen Angaben waren aber sehr aufschlussreich: Sie kennt beide Angeklagte vom Sehen, Erik R. kennt sie besser, er war bei ihr und hat sich entschuldigt und auch einen Teil des Schadens bezahlt. Den Rest hat ihr Mann selbst repariert. Nico H. war hingegen nicht bei ihr. Nico H. gab nicht nach: „Naja, aber am Telefon…“. Die Tankstellenpächterin erinnerte sich: „Ja, da war was, er hatte sich bei mir für einen Nebenjob beworben und bei mir angerufen, ich erinnerte mich an seinen Namen und sagte nur ‚da haben wir noch was offen‘ und hab ihn aussortiert.“ Diese Dreistigkeit erstaunte nicht nur die Richterin: „Frechheit siegt!“ Nico H., unbeeindruckt von den Reaktionen im Saal, erinnerte sich, dass sein Vater sich entschuldigt habe. Die Pächterin: „Sicherlich habe ich mich mit Deinem Vater über diesen Blödsinn unterhalten.“ Richterin Steigerwald wollte wissen: „Was sagen Sie dazu, außer zu grinsen?“ Er darauf: „Na, dumm gelaufen.“ Oberstaatsanwalt Grünseisen: „Das ist ja noch schlimmer! Da sind sie in der Hauptverhandlung schon der Lüge überführt.

Nach der Mittagspause sahen sich alle gemeinsam das Video vom Tathergang von der Überwachungskamera an. Ohne Personen genau zu erkennen, bestätigte sich das Ermittlungsergebnis. Die Entnahme der 35 Euro in Münzen lies sich nicht feststellen. Da die Angeklagten dies auch bestritten, beantragte die Staatsanwaltschaft, diesen Anklagepunkt fallen zu lassen. Deutlich war aber zu sehen, dass nur ein Böller in den Staubsaugerschlauch gesteckt wurde – Nico H. wurde zum zweiten Mal der Lüge überführt.

Als Nächstes wurde die 19jährige Sophie U. als Zeugin gehört. Sie war nach den polizeilichen Ermittlungen die „Hauptbelastungszeugin“. Sie konnte sich aber an wirklich nichts mehr erinnern. Angeblich hat sie eine allgemeine Gedächtnisschwäche, sie kann sich nichts merken. Alle Versuche vom Gericht und der Staatsanwaltschaft blieben erfolglos. Weder das Verlesen ihrer Aussage vor der Polizei, noch drastische Worte: „Selbst einfach gestrickte Menschen können sich an das Erinnern!“ halfen nicht. Das dahinter liegende Problem war wohl: Sie wollte sich nicht erinnern. Nach einer zähen halben Stunde gaben Beide entnervt auf. Für den Beobachter wurde klar, dass es innerhalb der Clique Absprachen gab. Warum diese Zeugin bei der Polizei umfangreich und detailliert ausgesagt hatte, blieb unklar. Hätte die Verhandlung nicht zwei Jahre nach der Tat stattgefunden, sondern zwei Monate, wäre bestimmt ein anderes Ergebnis erzielt worden. Sie konnte sich aber daran erinnern, dass die Polizei da war. Die Richterin fragte nach: „So schnell?“ – Erik H. reagierte als Erster: „Nein, das war eine allgemeine Verkehrskontrolle.“ Die Richterin: „Also eine AVK – die dürfen das aber!

Die vermutlichen Absprachen zeigten sich auch bei den anderen drei Zeugen aus dieser Clique. Sie hatten sich wohl auf eine Variante geeinigt, egal wie unglaubhaft, sie blieben dabei.

Nach Abschluss der Beweisaufnahme stellte die Staatsanwaltschaft zwei Anträge: Die Briefkastenexplosion und der Diebstahl der Münzen werden gemäß § 154 Absatz 2 StPO eingestellt.

Zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten noch einige Bemerkungen: Nico H. hat einen Hauptschulabschluss, die anschließende Lehrstelle wurde ihm gekündigt, weil er oft zu spät kam. Dann war er als Leiharbeiter tätig. Seit wenigen Tagen macht er einen freiwilligen 15monatigen Dienst bei der Bundeswehr. Möge man dort seine Schwächen erkennen ….

Erik H. hat seinen Traumberuf, wie er glaubhaft versicherte. Obwohl der Ältere von beiden, hat es aber den Anschein, dass er sich von Nico H. negativ beeinflussen lässt.

Der Staatsanwalt plädierte überzeugend und voller Sachkenntnis, besonders zum Jugendstrafrecht, dessen Sinn und Zweck, angewandt auch auf den Einzelfall. Das Paradoxon, dass der schwerer belastete Nico H. nach Jugendstrafrecht quasi automatisch eine geringere Strafe zu erwarten hatte, als Erik R., für den das Erwachsenstrafrecht gelten musste, wurde sehr gut erklärt. Er forderte wegen gegen Erik H. eine Freiheitsstrafe von acht Monaten, welche zur Bewährung ausgesetzt werden könne, sowie eine Geldbuße in Höhe von 500 Euro. Gegen Nico H. forderte er die eine Verwarnung und eine Geldbuße in Höhe von 2.000 Euro.

Rechtsanwalt Biedermann plädierte sehr kurz: „Wie immer, wenn Herr Oberstaatsanwalt die Anklage vertritt, gibt es wenig hinzuzufügen. Sowohl in der juristischen Einschätzung, als auch im Strafmaß schließe ich mich an.

Die Verteidigerin von Erik R. wollte die Umwandlung der Freiheitsstrafe zu einer Geldstrafe erreichen, führte auch dazu ein BGH-Urteil an.

Das Gericht verurteilte Erik R. zu sechs Monate Freiheitsstrafe, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zusätzlich muss er eine Geldbuße von 500 Euro zahlen.

Nico H. wurde wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, verurteilt.

Die Vorsitzende Richterin wurde in der Urteilsbegründung deutlich: „Wir haben hier nur die Spitze des Eisberges aufgeklärt. Der Angeklagte H. war nicht sehr glaubwürdig, wir haben das eine Verfahren aber eingestellt. Die schwerere Tat fand an der Tankstelle statt. Was denken sich die Leute eigentlich? An der Tankstelle lagern Tausende Liter Benzin und Diesel und die sprengen was in die Luft. Wissen die denn, was da alles passieren konnte. Da hätte auch kein Weglaufen mehr genutzt.“ Sie fand noch weitere drastische Worte und griff auch auf das eine oder andere derbe Wort zurück, welches der Staatsanwalt gebraucht hatte. Darauf sei hier verzichtet.

Sie schloss die Urteilsbegründung mit den Worten: „Das ist sowas von saublöde, das muss Einen erst mal einfallen.

Beide Angeklagten und die Staatsanwaltschaft verzichteten auf Rechtsmittel. Damit ist das Urteil rechtskräftig.

(13.03.2019 – 10:00 Uhr, Jugendschöffengericht am Amtsgericht Gotha, Saal 2.19)

A.S.