„…das ich mit so einer unsinnigen Sache den Justizapparat belaste.“

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Die Anordnung und Aufhebung der Untersuchungshaft sowie ihre Ausgestaltung im Vollzug sind einem Richter vorbehalten. Geregelt in Paragraf 125 Strafprozessordnung, spielt dies bei Gerichtsreportagen meist keine Rolle. Entweder ist der Angeklagte bereits in Untersuchungshaft, oder er wird zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt und muss sich später zum Haftantritt melden. In manchen Fällen ist der Angeklagte bereits wegen einer anderen Sache rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und wird aus der Justizvollzugsanstalt vorgeführt.

Bei der hier zu beschreibenden Verhandlung spielte das keine Rolle. Die Haftrichteraufgaben werden erwähnt, weil als Strafrichter am 12. November 2020 beim Amtsgericht Erfurt Richter Ralf Wildenauer tätig war. Er ist nicht nur im Nebenamt der Datenschutzbeauftragte des Erfurter Amtsgerichts, sondern auch der zuständige Haftrichter. Gemäß richterlichem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2020 werden u.a. „Ermittlungsrichterangelegenheiten, Vorführungen und Haftsachen“ in den geraden Kalenderwochen von Richter Wildenauer und in den ungeraden Kalenderwochen von Richter Müller-Hilgert bearbeitet. Der Verhandlungstag fiel in eine gerade Kalenderwoche, und so wunderte es nicht, dass vor dem Saal 9 uniformierte Polizeibeamte in Begleitung eines Festgenommenen bereits auf ihn warteten.

Verhandelt wurde gegen den 35jährigen Axel W. wegen sogenannten Sozialleistungsbetrugs. Dabei handelt es sich nicht um eine spezielle Strafrechtsnorm, rechtlich ist der Sozialleistungsbetrug ein einfacher Betrug nach Paragraf 263 StGB. Sozialleistungsbetrug liegt in der Regel immer dann vor, wenn gegenüber den Sozialbehörden, insbesondere gegenüber dem Jobcenter, falsche Angaben gemacht werden oder pflichtwidrig Angaben verschwiegen werden, so dass es zu einer unberechtigten Auszahlung von Sozialleistungen kommt.

Bevor es losgehen konnte, vereidigte Richter Wildenauer einen neuen Kollegen. Ganz in Zivil saß ein junger Mann im Saal und nach dem kurzen und feierlichen Akt, welcher laut Paragraf 38 des Deutschen Richtergesetzes in einer öffentlichen Sitzung eines Gerichts geleistete werden muss, verfolgte er die Verhandlung weiter, weil er sich die Plädoyers anhören wollte.

Ob das die Staatsanwältin, Frau Silke Kronas, anspornte, war nicht festzustellen. Sie verlas die kurze Anklage, in welcher dem gelernten Koch vorgeworfen wurde, für sechs Wochen unberechtigt ALG I (Arbeitslosengeld I) bezogen zu haben. Der entstandene Schaden betrug 1.241,23 €. Er hatte es unterlassen, der Arbeitsagentur anzuzeigen, dass er wieder in Beschäftigung war. Das ist eine von mehreren Begehungsweisen des Sozialleistungsbetrugs. Andere Arten sind zum Beispiel, wenn neben den Bezügen vom Jobcenter ein Einkommen durch Schwarzarbeit besteht, sonstige Einkommen – wie Kindergeld, Unterhaltszahlungen oder Zinserträge dem Jobcenter nicht angezeigt sowie Falschangaben zur Bedarfsgemeinschaft gemacht werden.

Der Angeklagte, groß gewachsen, stattliche Gestalt, kurz gehaltener Vollbart, nahm seinen weißen Mund-Nasen-Schutz ab und erklärte sich, zur Staatsanwältin gewandt, zur Sache: „Sie haben vollkommen recht, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mit so einer unsinnigen Sache den Justizapparat belaste. Ich war zu dieser Zeit gerade in Trennung von meiner Freundin, hatte gleichzeitig einen neuen Job und wurde für ein halbes Jahr in Berlin angelernt. Ich war froh, erst mal weg zu sein und habe mich nicht so um die Erfurter Belange gekümmert.

Der Angeklagte sprach offen, es klang nicht nur glaubhaft, sondern auch plausibel. Was vielleicht wie ein Anbiedern wirken könnte – hier war es tatsächlich so gemeint. Er gab zu, zwei Briefe von der Arbeitsagentur bekommen zu haben, hatte auch mitbekommen, dass er „überzahlt“ wurde. Er wollte den dritten Brief abwarten und dann das Geld zurückzahlen. Er hatte dann aber zwischen zweiten und dritten Schreiben einen Brief vom Zoll bekommen. Darauf hat er das Geld dann sofort an das Jobcenter zurück überwiesen.

Staatsanwältin Kronas ergänzte, dass keine Einziehung erfolgte, der Schaden ist beglichen.

Der 57jährige Richter Wildenauer, der auch als Fußballfan und Jugendtrainer bei Empor Erfurt bekannt ist, rief die einzige Zeugin auf. Die Mitarbeiterin der Arbeitsagentur Erfurt bestätigte, dass der Schaden am 16.12.2019 beglichen wurde. Der Richter fragte nach, ob aus freien Stücken bezahlt wurde. Das bestätigte die Zeugin und der Richter ergänzte, dass es für ihn schon ein Unterschied sein, ob erst gezahlt würde, wenn die Anklageschrift ins Haus flattert, oder bereits vorher und aus freien Stücken.

Richter Wildenauer zum Angeklagten: „Leider ist Ihr BZR nicht leer, da gibt es vier Einträge, 2009 Diebstahl, 2010 BtM, 2014 Leistungserschleichung, 2016 BTM. Wie sieht es jetzt mit Drogen aus?“ Der Angeklagte: „Ich nehme nichts mehr.“ Auch das klang nicht nur so daher gesagt, sondern war authentisch.

Dem Richter gefielen diese Aussagen offensichtlich auch, ebenso die Art und Weise, wie sich der Angeklagte vor Gericht verhielt. Er dachte laut über die Einstellung des Verfahrens nach: „Wenn ich ihn jetzt verurteile, sind seine Spät-Jugendsünden auf fünf Jahre festgeschrieben.“ Er dachte an den zwangsläufig neuen Eintrag ins BZR. „Wenn ich ein 153 a mache…

Die Anklagevertreterin reagierte sofort: „Dem stimmt die Staatsanwaltschaft nicht zu!“ – „Warum?“ wollte der Richter wissen. Die Antwort der Staatsanwältin überzeugte wenig: „Wegen der Vorstrafen, und weil durch die Tat die Allgemeinheit, der Steuerzahler, geschädigt wurde.

Bei ihrem Plädoyer hatte der hinten sitzende junge Richter nichts zu lernen: Sie forderte eine Geldstrafe von 40 Tagessätze zu je 40 €, zu seinen Ungunsten legte sie seine vier Vorstrafen aus, und das die Allgemeinheit geschädigt wurde. Zu seinen Gunsten, dass er den Schaden bereits vor Anklageerhebung wiedergutgemacht und das er sich geständig eingelassen hatte.

Bevor der Angeklagte das letzte Wort erhielt, sprach der Richter ihn direkt an: „Ich wollte es einstellen, aber die Staatsanwaltschaft geht nicht mit…“ Der Angeklagte: „Ich möchte mich noch mal entschuldigen, die Justiz hat eigentlich Wichtigeres zu tun, tut mir leid, dass ich der Justiz Zeit gestohlen habe.“ Auch wenn es schwer zu glauben ist – das war wirklich ehrlich!

Kurz darauf verkündete Richter Wildenauer das Urteil: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird verwarnt und zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen unter Vorbehalt einer einjährigen Bewährungszeit verurteilt.

Darüber hinaus hat er als Bewährungsauflage eine Geldbuße von 1.000 € an einen gemeinnützigen Verein in vier Monatsraten zu je 250 € zu zahlen.

Zur Begründung führte er aus: „Die Einlassungen des Angeklagten waren sehr authentisch – ich habe es ihm geglaubt. Ich glaube, dass wir ihm die Chance geben, dass er relativ schnell aus dem Register herauskommt. Der Richter weiter: „Paragraf 59 sieht das vor, er hat einen guten Eindruck gemacht, gegenüber den anderen Typen, die hier sitzen. Der Schaden ist komplett beglichen. Diese Maßnahme verhänge ich sehr selten. In den zwanzig Jahren als Strafrichter habe ich das vielleicht zehn Mal ausgesprochen.“

Sowohl der Angeklagte, als auch die Anklage verzichten auf Rechtsmittel, somit ist das Urteil rechtskräftig. Und das ist auch gut so.

(12.11.2020 – 10:00 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Schöffengericht, Saal 9)

A.S.