„…dann fresse ich den bekannten Besen.“ Erster Teil

Am 25. März 2019 tagte die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Erfurt als Jugendschutzkammer. Gemäß Paragraf 26 des Gerichtsverfassungsgesetzes ist diese zuständig, wenn „ein Kind oder ein Jugendlicher verletzt oder unmittelbar gefährdet wird“. Der Vorsitzende Richter Holger Pröbstel mit der beisitzenden Richterin Dr. Catrin Steinbrück und ihren Berufsrichterkollegen Dr. Ludger Ferneding wurden durch zwei Schöffen unterstützt. Die Anklage vertrat Frau Staatsanwältin Petra Jarisch, die Nebenklage wurde durch Frau Rechtsanwältin Rosemarie Bormann wahrgenommen. Neben diesen beiden Juristinnen hatte die Diplom-Psychologin Simone Gallwitz als Gutachterin Platz genommen.

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Den 33jährigen Angeklagten Sebastian L., mittelgroß, schlank, unscheinbar, aus Untersuchungshaft vorgeführt,  vertrat Rechtsanwalt Frank Großstück.

Nachdem die Staatsanwältin die Anklage verlesen hatte, tauschte der Vorsitzende sich mit den Prozessbeteiligten zuerst über den zum Termin geladenen Gutachter Wolf Ingo Leichsenring aus. Er hatte kurzfristig mitgeteilt, anderweitig verhindert zu sein. Dies, so Richter Pröbstel, sei problematisch, da er ein Gutachten insbesondere zur Frage einer möglichen Unterbringung des Angeklagten in der Sicherheitsverwahrung gemäß Paragraf 66 Strafgesetzbuch erstatten sollte. Seine Anwesenheit bei der Beweisaufnahme, besonders den Zeugenvernehmungen, wäre notwendig. Es stellte sich heraus, dass die anderweitige Verhinderung eine zeitgleiche Verhandlung vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Erfurt war.

Zum konkreten Tatvorwurf wird – aus Respekt vor dem Opfer – auf eine nähere Schilderung verzichtet. Jedoch so viel: Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, seine zum Tatzeitpunkt 9jährige leibliche Tochter in drei Fällen erheblich sexuell missbraucht zu haben. Strafverschärfend kommt hinzu, dass der Angeklagte einschlägig vorbestraft war. Vom Amtsgericht Weimar war er bereits zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Die Handlungen an seiner Tochter soll er kurz nach der Haftentlassung Anfang 2018 begangen haben.

Der Vorsitzende konzentrierte sich zuerst auf den Angeklagten und fragte nach, ob er überhaupt aussagen wolle: „Sie sollten sich gut überlegen, ob Sie nicht ein Geständnis ablegen wollen!“ Pröbstel weiter: „Das Kind hängt an Ihnen. Das Kind hat am meisten darunter gelitten, dass es das ‚Geheimnis‘ mit dem Vater verraten hat.“ Der Vorsitzende Richter weiter: „Die Kammer leidet nicht unter Verfolgungseifer. Wir verhandeln hier parallel fünf Missbrauchssachen. Wir können gut damit leben, dass die Angeklagten sich nicht einlassen.“ Nach einer kleinen Pause: „Wissen sie eigentlich, was Sie den Kind angetan haben – erst mal losgelöst von dem Missbrauch?“ Dann Pröbstel nochmal eindringlich zu dem Angeklagten: „Sind sind schon einmal einschlägig vorbestraft. Wenn wir mit der Beweisaufnahme beginnen und Sie bei Ihrer Geschichte bleiben, dann geht das nicht glimpflich für Sie ab.“

Der Angeklagte hörte zu, gab aber einen halsstarrig wirkenden Eindruck ab. Rein körpersprachlich wirkte er verstockt und trotzig. Die Geduld des Vorsitzenden war bewundernswert, rein äußerlich ruhig, verfärbte sich sein Gesicht jedoch gefährlich ins rötliche. Sprachlich beherrscht, versuchte er es erneut: „Ich lese ja auch Ihre Post. Wenn ich richtig verstanden habe, halten Sie ja immer noch an der Geschichte fest, dass Ihre Ex-Lebensgefährtin sich damit an Ihnen rächen will?!“ Der Angeklagte nickte kurz mit dem Kopf, dies sollte womöglich Zustimmung bedeuten. Der Vorsitzende weiter: „Unabhängig, was das für einen Sinn machen soll: Die Angaben Ihrer Tochter sind glaubhaft. Wenn Sie in Ihrer ersten Aussage aussagte: ‚Und dann durfte ich ihn anfassen‘, also, wenn das gelogen ist, dann fresse ich den bekannten Besen.“ Zur Gutachterin gerichtet: „Sie hatten ja ausgeführt, dass das Kind nicht in der Lage gewesen war, diese Geschichte zu erfinden!“

Sowohl der Vorsitzende Richter Pröbstel, als auch die beisitzende Richterin Dr. Steinbrück erläuterten dem Angeklagten juristisch und faktisch die Vorteile eines Geständnisses: Bei der Strafzumessung müsse es deutlich berücksichtigt werden, er könne also mit einer milderen Strafe rechnen. Das Opfer – seine leibliche Tochter – müsse nicht als Zeugin vor dem Gericht aussagen, ein Umstand, der schwer wiegen würde. Die Verhandlung würde erheblich abkürzt, nur wenige Zeugen müssten aussagen. Sie redeten mit Engelszungen, der Angeklagte blieb halsstarrig und uneinsichtig.

Richter Pröbstel fragte beim Angeklagten nach: „Sie sind ja vorzeitig aus der Haft entlassen. Haben Sie ein Therapie gemacht?“ Darauf Sebastian L.: „Nein.“ Pröbstel weiter: „Das verstehe ich nicht, ist aber auch nicht meine Sache. Wenn Sie das hier durchziehen und wir uns gegen Paragraf 66 entscheiden, dann müssen Sie dringend eine Therapie machen!

Die Kammer empfahl dringend, dass sich der Verteidiger mit seinem Mandanten berät, bei dieser Beweislage wäre es das Beste, wenn der Angeklagte ein Geständnis ablegen würde. Richter Pröbstel gab mit auf dem Weg: „Die Akten waren jetzt zwei Mal zur Haftprüfung beim OLG, dort hat man nicht im mindesten Zweifel an einer Verurteilung.“ Unter Beachtung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit war die Kammer an der Grenze des statthaften angelangt.

Die Verhandlung wurde für 30 Minuten unterbrochen. Der Angeklagte beriet sich separat mit seinem Anwalt. Danach erklärte der Angeklagte: „Ich mache von meinem Recht Gebrauch, nichts zu sagen.“ Sein Verteidiger litt sichtlich, er hatte wohl alles versucht, seinen Mandanten zu einem Geständnis zu führen.

Der Vorsitzende, mittlerweile hochrot im Gesicht, beherrschte sich nur mühsam: „Wissen Sie eigentlich, was sie Ihren Kind antun? Das muss nun hier aussagen!“ Der Angeklagte flüsterte etwas zu seinem Anwalt, dem hatte das Gehörte offenkundig nicht gefallen, gleichwohl sagte der Angeklagte mit gesenkten Kopf in Richtung Richterbank: „Um zu vermeiden, dass sie aussagen muss, sage ich eben, dass ich es war.“ Nun platze der Staatsanwältin der Kragen: „Ein Zweckgeständnis nützt hier gar nichts. Wenn Sie strafmildernde Umstände haben wollen, müssen Sie ein echtes Geständnis ablegen.

Der Angeklagte blieb bei seinem Verhalten, wollte es sich aber nochmals überlegen und bat, dass sein Verteidiger ihn erneut in der Justizvollzugsanstalt besuchen solle, um sich weiter zu beraten. Daraufhin gab Richter Pröbstel seine Versuche auf – das Gericht vertagte sich.

Am Montag, den 01. April wurde die Verhandlung fortgesetzt. Nunmehr saß neben der Staatsanwältin, die Nebenkläger-Vertreterin und Frau Gallwitz zusätzlich Herr Leichsenring als Gutachter. Er erhielt insbesondere den Auftrag der Kammer, die Frage der Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung des Angeklagten einzuschätzen. Der Angeklagte wurde durch zwei Justizbeamte in Hand- und Fußfesseln in den Gerichtssaal geführt. Richter Pröbstel teilte ohne Emotionen als erstes mit, dass er im Vorfeld von Rechtsanwalt Großstück telefonisch informiert wurde, dass sein Mandant sich nicht geständig einlassen würde, der diesbezügliche erneute Besuch in der Haftanstalt soweit ohne Ergebnis blieb. Er gab jedoch einen Hinweis: „Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!“ Das hatte die Kammer tatsächlich ausgiebig getan.

Der Vorsitzende vernahm zu Beginn des zweiten Verhandlungstages den Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen. Er war bis zu seiner Inhaftierung als Kraftfahrer tätig und bundesweit im Einsatz. Er ist verlobt und sein Hobby ist Kraftsport. Pröbstel, wohl doch etwas verschnupft wegen der Halsstarrigkeit des Angeklagten: „Das können Sie ja in Haft ausgiebig machen.

Richter Pröbstel fragte zum wiederholten Mal den Angeklagten zur Tat und ob er immer noch „an der große-Käse-Verschwörung, wie ich immer so sage“, festhalte. Er fragte nach, warum seine Ex-Freundinnen und sein Tochter sich gegen ihn verschworen haben sollten. Darauf wusste er immer noch keine Antwort. Das veranlasste den Richter zu einem kleinen Resümee seiner Richterkarriere: „Heute auf den Tag genau mache ich diese Kammer … zwanzig Jahre. Ich habe schon alles gesehen.“ Eher zwischen den Zeilen deutete er an, dass er in all den Jahren noch nicht erlebt hat, dass sich eine solche „Verschwörung“ als tatsächliche Wahrheit herausstellte.

Nichtsdestotrotz begann die Beweisaufnahme. Der Vorsitzende unterbreitete drei konkrete Vorschläge über das weitere Verfahren bezüglich der Anhörung des Kindes. Erstens: Der Angeklagte legt ein Geständnis ab. Zweitens: Der Angeklagte und sein Verteidiger sind damit einverstanden, nur die polizeilichen Vernehmungen anzuhören. Drittens: Beim Vorliegen  des Einverständnisses des Angeklagten und seines Verteidigers, könnte der Angeklagte die Vernehmung des Opfers, seiner Tochter, im Zuschauerraum anhören. Hintergrund dieser Vorschläge ist die Intention der Kammer, dass dem Kind die Konfrontation mit dem Vater auf der Anklagebank erspart bliebe.

Herr Rechtsanwalt Großstück: „Es wäre besser, wenn das Kind nicht aussagen würde.“ Staatsanwältin Jarisch unterbreitet den Vorschlag, sich zuerst das polizeiliche Video der Anhörung des Kindes durch die Kriminalpolizei anzusehen. Dem stimmten die Kammer und die Verteidigung zu. Nun galt es, das Video vorzuführen.

Bereits aus anderen Verhandlungen war bekannt, dass es zu Problemen kommen könne. Richter Pröbstel deutete an, dass entweder nur der Ton oder nur das Bild zu sehen wäre. Die technische Ausstattung im Verhandlungssaal war äußerlich auf den neuesten Stand: Eine große Leinwand und ein an der Decke fest eingebauter Beamer waren ebenso vorhanden, wie der Computerarbeitsplatz der Gerichtsprotokollantin und ein Laptop auf dem Richtertisch. In einer kleinen parlamentarischen Anfrage im Thüringer Landtag wurde über Missstände am Landgericht Erfurt nachgefragt.

Wie sich hier herausstellte, waren es keine Ausstattungsprobleme, sondern Bedienungs-probleme – wie so oft. Keiner in der Kammer fühlte sich für das Bedienen der Technik verantwortlich, die beiden Beisitzer standen auf und setzten sich vor den Richtertisch, reduzierten sich auf die Rolle als Konsument. Den beiden ehrenamtlichen Richtern war dies ja nicht übel zu nehmen, aber bei Berufsrichtern, naja. Auch die Protokollantin half nicht aus. Der Vorsitzende, langjähriger Vorsitzender des Thüringer Richterbundes, kämpfte sichtlich unwillig mit der Technik. Richter Pröbstel versuchte es weiter selbst, dann gab er erfolglos an den jüngeren der beiden Justizwachtmeister ab, welche den Angeklagten vorführten und während der Verhandlung bewachten. Nach rund zehn Minuten herum probieren gab auch er auf. Das Aussenden eines Wachtmeisters nach technischer Hilfe scheiterte ebenfalls.

Der Vorsitzende bat die Verfahrensbeteiligten an den Richtertisch, drehte den Laptop in Richtung Saal und spielte das Video ab. Das war suboptimal, zumal mit dem zusätzlichen Handicap, das auf dem Desktop das Videobild der Kindesanhörung doppelt neben-einander zu sehen war, also nochmal um das halbe Format reduziert.

Was nützt alle Technik dieser Welt, wenn sie nicht sachkundig bedient werden kann. Das ist, mit Verlaub, kein Ruhmesblatt für die Justiz. Es ist wahrlich kein Hexenwerk, eine DVD in einen Laptop einzulegen und so abzuspielen, das Bild und Ton gut über die Saaltechnik wahrzunehmen sind. Das müsste eine Standardaufgabe sein. Die wenigen notwendigen Handgriffe muss jeder in einem Verhandlungssaal Tätige aus der Justiz sicher beherrschen!

Trotz der erschwerten Bedingungen konnte das Video durch „Inaugenscheinnahme“ als Beweismittel eingeführt werden. Es stützt vollumfänglich die Anklage. Sowohl inhaltlich als auch juristisch und emotional konnten keine vernünftigen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kindes aufkommen.

Als erste Zeugin wurde die Kindsmutter gehört. Die 33jährige Franziska K. war mit dem Angeklagten nur knapp ein Jahr zusammen, hat nie mit ihm zusammengewohnt; zirka vier Wochen nach der Geburt der Tochter haben sie sich getrennt. Sie schilderte zusammen-hängend und logisch die Situation am Abendbrottisch, in welcher ihre Tochter von den Missbräuchen erzählte. Die Geschichte war authentisch und glaubhaft. Sie holte sich Rat bei ihrer besten Freundin und ihren Eltern und ging dann zu einem Kinderarzt, später zur Polizei und erstattete Anzeige. Sie schilderte auch, dass sie anschließend den Umgang des Vaters mit ihrer Tochter vorerst durch Ausreden verhinderte, auch weil sie nicht wusste, was die Polizei unternehmen würde. Ihre Tochter, so sagte sie weiter, hatte Sehnsucht nach dem Vater. Richter Pröbstel fragte nach, ob sie die Ex-Lebensgefährtin von Sebastian L. kenne. Die Antwort war deutlich: „Nein!

Nach dieser Vernehmung resümierte der Vorsitzende Richter den seiner Meinung nach bestehenden Erkenntnisgewinn im offenen rhetorischen Dreisatz: „Es gibt keine Anhaltspunkte, dass die Kindesmutter das Kind beeinflusst hat. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass das Kind von Jemand instruiert wurde. Es gibt keine Anhaltspunkte für einen irgendwie unbekannten Dritten, der das Kind beeinflusst hat.“ Er fragte nach ausführlicher Belehrung den Verteidiger und den Angeklagten, ob das Opfer noch persönlich vor dem Gericht aussagen müsse. Beide verzichten ausdrücklich auf die Vernehmung des Kindes. Da es schon den zweiten Verhandlungstag draußen wartete, ging Richter Pröbstel für ein paar Minuten hinaus. Das Kind war in Begleitung seiner Großmutter und Richter Pröbstel kam mit einer Botschaft von ihr in den Verhandlungssaal zurück: Sie wollte von ihren Vater wissen, warum er das getan hatte.

Als nächste Zeugin wurde die 30jährige Nicole W. aus Berlin gehört. Sie ist die aktuelle Lebensgefährtin des Angeklagten, seit Anfang März 2018 sind sie verlobt. Sie wurde zusätzlich über ihr Zeugnisverweigerungsrecht als Verlobte belehrt, wollte aber aussagen. Sie schilderte, dass sie den Sebastian seit 2013 über das Internet kannte. Persönlich getroffen hatten sie sich erstmals, bevor er das erste Mal in Haft ging. Nach seiner Entlassung haben sie sich wieder getroffen. Die Fragen des Gerichts machten deutlich, dass über die Beziehung der beiden viel in den Akten stand. Dem war wohl zu entnehmen, dass der Angeklagte in der Zeit des Verhältnisses mit Nicole W. in einer anderen festen Beziehung war und er die Nicole über die meisten seiner Lebensumstände angelogen hatte. Nach zähem Fragen durch Gericht und Staatsanwaltschaft kam heraus: Die Beziehung von Sebastian L. zu Nicole W. bestand aus Mitfahrten an ihren freien Tagen mit seinem LKW, dort haben sie auch geschlafen. Wo er genau wohnte, wusste sie nicht, sie war auch nie bei ihm zu Hause.

Durch Zufall hat sie dann seine Lügen mitbekommen und wollte aus Verärgerung darüber, dass er wieder in den Knast geht. Dazu hat sie sich ausgedacht, dass sie sich zusammen mit der anderen Ex eine Geschichte ausdenkt, dass er seine Tochter sexuell missbraucht hatte. Den Plan hat sie dann aufgegeben, ihm verziehen und sich wieder vertragen, aktuell, wie gesagt, sind sie verlobt.

Frau Dr. Steinbrück fragte nach: „Wie sollte das funktionieren, wie sollte die (Name des Kindes) instrumentalisiert werden?“ Darauf hatte sie keine Antwort. Der Verteidiger Großstück fragte die Zeugin: „Wer hatte den Plan, ihn ins Gefängnis zu bringen?“ Die Zeugin: „Das waren Kristin und ich gemeinsam.“ Mit Kristin war die Ex-Verlobte von Sebastian L. gemeint, quasi das parallele Verhältnis. Nun wird es Zeit, etwas Klarheit in die verschiedenen Verhältnisse des Sebastian L. zu bringen: Zuerst war er mit der Kindesmutter, Frau Franziska K. liiert. Nach der Trennung war er mit Frau Kristin Sch. zusammen, sie haben auch ein gemeinsames Kind, waren auch verlobt, insgesamt lebten sie neun Jahre miteinander. Als Dritte kam dann – parallel zu Kristin Sch. – die Nicole W. aus Berlin, die Internet-Bekanntschaft und jetzige Verlobte. Diese Nicole W. spielt eine merkwürdige Rolle. Rein äußerlich: Immer in schwarz gekleidet, leicht untersetzt, mit blondiertem Haar, auffällig lackierten Fingernägeln, immer mit verweinten Augen. Im Ganzen wirkte sie sehr larmoyant, wollte wohl auch bewusst so wirken. Sie versuchte dem Angeklagten auf eine merkwürdige Art helfen, ist ganz offensichtlich zusammen mit ihm die „Erfinderin“ der „Komplott-Hypothese“ – mit einer wichtigen Einschränkung: Die Anderen sind nicht eingeweiht, wollen nicht mitspielen. Und damit wird diese „Verteidigungsidee“ ad Absurdem geführt.

Als Nächstes wurde der Kriminalhauptkommissar Uwe B. von der Kriminalpolizei-inspektion Jena vernommen. Er bekam während der Haftvorführung am 31. Mai 2018 im Amtsgericht Weimar vom Verteidiger des Sebastian L. das Handy des damals Beschuldigten übergeben, mit dem Hinweis, darauf sei ein wichtiger entlastender Chat. Es sollte auf einer Audio-Datei ein Gespräch zu hören sein, dass die Verschwörungsthese erhärtet. Der Zeuge hatte die Aufgabe, die Daten des Handys auszulesen und auszuwerten. Er schilderte die von ihm ermittelten Ergebnisse und überlies den Zuhörern die Wertung. Richter Pröbstel war, wie so oft in dieser Verhandlung, sehr deutlich: „Das hat nichts mit der vorgeworfenen Tat zu tun, das ist eine Räuberpistole.

Die Zeugenvernehmung der 27jährigen Kristin Sch. war schon interessanter. Sie kennt den Angeklagten seit fünfzehn Jahren, sie haben sich kennengelernt, da war sie dreizehn. Sie waren bis Februar 2018 zusammen, also auch während seiner ersten Haft. Ihr gemeinsames Kind ist sechs Jahre alt. Grund der Trennung war das „Auffliegen“ seiner Beziehung zu Nicole W. Sein Lügengespinst ist durch (unbewusstes) Mitwirken der Nicole aufgeflogen. Auf Details dazu, welche im Anschluss noch von zwei Zeugen erklärt wurden, soll hier verzichtet werden. Worauf es aber ankam, war die im Raum stehende Behauptung der Nicole W., dass sie beide gemeinsam den Sebastian L. in den Knast bringen wollten. „Was wissen Sie von dem Ränkespiel?“ fragte der Vorsitzende. Frau Sch., die einen aufgeschlossenen, selbstsicheren und authentischen Eindruck hinterließ, war deutlich: „Das stimmt nicht!“ Und weiter: „Als es rauskam, dass er mich über fünf Jahre mit einer Anderen betrogen hat, habe ich Schluss gemacht und ihn rausgeschmissen!

Als nächste Zeugin wurde die 34jährige Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Madlen Lehmann vernommen. Sie schilderte die erste Begegnung mit Mutter und Tochter und trug Teile ihrer trauma-therapeutischen Arbeit vor. Frau Gallwitz hatte mehrere kritische Nachfragen und schien fachlich an der Arbeit der Traumatherapeutin Zweifel zu haben. In der Verhandlung kam bereits zum wiederholten Male eine spätere Videovernehmung des Kindes zur Sprache. Dort hat sie ihren Vater belastet, dass er sie vergewaltigt habe. Diese Vernehmung stufte die Glaubwürdigkeitsgutachterin als unglaubwürdig ein, es fiel der Begriff „therapiekontaminiert“. Jetzt wurde es auch klar, warum dieser Punkt nicht Bestandteil der Anklage war.

Als letzter Zeuge an diesem Verhandlungstag wurde ein 43jähriger Sozialarbeiter der kindertherapeutischen Ambulanz vernommen. Er hatte die Aufgabe, die ärztliche Vorstellung des Kindes zu begleiten und zu beobachten und ihre Angaben zu protokollieren. Dieses frühe Zeugnis ihrer Angaben zum Tatgeschehen bestätigte die Anklagepunkte voll inhaltlich. Der Zeuge hatte während der Untersuchung des Kindes Notizen ihrer wörtlichen Rede gefertigt, die er ruhig und sachlich dem Gericht vortrug.  Richter Pröbstel hatte nur eine Frage: „Haben Sie beim Kind oder bei der Mutter nachgefragt?“ Die Antwort bestätigte den professionellen Eindruck: „Nein, das war nicht meine Aufgabe!

Nach diesem interessanten zweiten Verhandlungstag vertagte sich das Gericht.

(25.03.2019, 01.04.2019, 3. Große Strafkammer am Landgericht Erfurt, Saal E 48)

A.S.