„…da sank die Temperatur im Saal um zehn Grad.“

Rechtsanwalt Tobias Goldmann begrüßt seinen Mandanten. Bildrecht bei www.gerichtsalltag.de

Die 3. Strafkammer des Landgerichts Erfurt verhandelte an sechs Tagen ab dem 2. Oktober 2019 wegen Vergewaltigung gegen den 57jährigen Arne W. und verkündete am 30. Oktober 2019 das Urteil: Der Angeklagte wurde wegen fünf Fällen schweren sexuellen Missbrauchs zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Die Urteilsverkündigung wurde durch starkes Interesse der Medien begleitet. Ursächlich war dafür war nicht nur der schwere Tatvorwurf, sondern auch die Umstände der Aufklärung der länger zurückliegenden Taten: Arne W., ein mehrfach verurteilter Sexualtäter, dem in den letzten Jahrzehnten schwere Sexual- und Missbrauchstaten nachgewiesen wurden, befand sich im September 2019 wegen Drogen- und Sexualstraftaten im offenen Vollzug. Er wurden durch Beamten der Sonderkommission  „Altfälle“ der Kriminalpolizei Jena wegen des dringenden Verdachts, im Sommer 1996 die damals 10jährige Ramona Kraus ermordet zu haben, in Erfurt festgenommen. Nach der Festnahme sprach die Polizei von einem „Durchbruch“ in den Ermittlungen.

Die Soko „Altfälle“ hatte bereits den Mord an Stephanie D. aus dem Jahr 1991 aufgeklärt, der Mörder ist mittlerweile rechtskräftig zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Nun wäre es der zweite Cold-Case-Erfolg dieser erst in Jena und aktuell in Weimar tätigen Truppe. Das Dementi kam aber überraschend und schnell: Arne W. ist nicht der Mörder von Ramona Kraus!

In Auswertung von Durchsuchungen wurden ihm aber andere Taten vorgeworfen – über diese schweren Straftaten zwischen 2001 und 2013 hatte nun die 3. Strafkammer geurteilt. Der Vorsitzende Richter Holger Pröbstel sprach die Medienvertreter in der Urteilsbegründung direkt an: „Und es ist hier nochmals festzustellen, dass der Angeklagte in dieser Sache nicht mehr verdächtig ist. Da ist er unschuldig. Die Polizei hat einen Anderen, aber da haben sie andere Probleme.“

Gemeint war die Festnahme eines 76Jährigen Ende Januar 2019. Das Amtsgericht Gera hatte einen Haftbefehl wegen Mordes erlassen. Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Jena hatte diesen Haftbefehl mit Beschluss vom 31. Juli 2019 aufgehoben, weil „nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ein dringender Tatverdacht des Mordes oder des Totschlags zum Nachteil des Kindes gegen den Beschuldigten nicht festgestellt werden könne.“ In einer Medieninformation teilte das Thüringer Oberlandesgericht umfangreich die rechtlichen Gründe der Aufhebung des Haftbefehls mit und informierte die Öffentlichkeit auch detailliert über den Einsatz von Verdeckten Ermittlern. Dabei wurde die polizeiliche Taktik, um einen Beschuldigten den Mord an einem 10jährigen Mädchen nachzuweisen, fast minutiöse beschrieben. Nach Auffassung des OLG Jena hatten die Verdeckten Ermittler dem Beschuldigten eine ihre Befugnisse überschreitende „Falle“ gestellt. Das OLG stellte fest: „Sämtliche im Rahmen dieser Vorgehensweise gewonnen Erkenntnisse unterlägen einem Beweisverwertungsverbot und seien daher auch nicht geeignet, einen dringenden Tatverdacht zu begründen.“

Der Beschuldigte wurde aus der Haft entlassen, jedoch erfreute es sich nur kurz der Freiheit. Da er sich – ebenfalls mehrfach vorbestraft als Sexual- und Gewaltstraftäter – zum Zeitpunkt seiner Festnahme in Sicherungsverwahrung befand, die unter Vorbehalt ausgesetzt war, er also auf freien Fuß war, wurde dieser Vorbehalt durch richterlichen Beschluss aufgehoben. Er hatte in Freiheit erheblich und einschlägig gegen Auflagen verstoßen. Die Ermittlungen gegen ihn wegen Mordes an Ramona Kraus laufen weiter bei der Soko „Altfälle“.

Nun aber zurück zu Arne W.: Er wurde aus der Justizvollzugsanstalt Suhl-Goldlauter kommend in den üblichen Hand- und Fußfesseln durch Justizbeamte in den Verhandlungssaal geführt. Sein Verteidiger Tobias Goldmann sprach zur Begrüßung mit ihm im Gerichtssaal in einer skurrilen Position: Der Angeklagte hatte sich seine schwarze Lederjacke komplett über den Kopf gezogen und penibel darauf geachtet, dass die Medien ja kein Portraitfoto von ihm machen konnten. Der Anwalt, der noch seine schwarze Robe anziehen musste, wirkte freundlich-entspannt.

Die 3. Strafkammer hatte als Jugendschutzkammer getagt, da von den drei Opfern das Jüngste, Laura U., zum Tatzeitpunkt siebzehn Jahre alt, noch Jugendliche war. Sie war die Freundin des Sohnes des Angeklagten. Die anderen beiden Opfer, Mandy V. und Eileen P., waren die Ex-Freundinnen des Angeklagten. Er wurde verurteilt, weil er die drei Frauen durch einen Mix aus Alkohol und betäubenden Mitteln widerstandsunfähig machte, um sie dann zu vergewaltigen.

Die Kammer, so Richter Pröbstel in seiner Urteilsbegründung, musste sich die Videos der Taten anschauen. Auf seine 20jährige Erfahrung als Vorsitzender Richter verweisend, sagte er: „Es gibt immer noch Konstellationen, dass auch ein erfahrener Richter, der glaubt, schon alles erlebt zu haben, eines Besseren belehrt wird.“

Staatsanwältin Madelaine May hatte am Tag der Urteilsverkündigung, wie auch der Verteidiger, einen passiven Tag. Richter Pröbstel verwies einige Male auf ihre Ausführungen im Plädoyer, besonders, warum die Kammer unter ihren Strafantrag blieb. Letztlich, so Pröbstel, beruht das Urteil auch auf seinem Geständnis, und das müsse bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Auch das Gutachten von Professorin Gitta Mall, Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikum Jena, musste eher entlastend gewertet werden: Sie konnte sich nicht eindeutig äußern, ob es nur die Wirkung des Alkohols war, oder ob sich in den verabreichten Getränken betäubende Mittel befunden hatten. Damit ließ sich die Frage, ob der Angeklagte den Zustand seiner Opfer bewusst herbeigeführt hat oder den Zustand nur ausgenutzte, nicht eindeutig beantworten.

Der Vorsitzende Richter erwähnte im Rahmen der Urteilsbegründung noch eine bemerkenswerte Situation: Der Sohn des Angeklagten war im Laufe der öffentlichen Hauptverhandlung als Zeuge gehört wurden. Pröbstel: „Die Vernehmung des Sohnes war schon etwas Besonderes. Als die Beiden so dasaßen, da sank die Temperatur im Saal um zehn Grad. Da fiel einen nur der Spruch ein, mit dem Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, wenn man weiß, dass der Sohn wegen der gleichen Delikte vorbestraft ist.“ 

Richter Pröbstel erinnerte daran, dass die Taten nur aufgeklärt werden konnten, weil die Soko „Altfälle“ gegen den Angeklagten wegen Mordes ermittelte und bei der Durchsuchung auf die belastenden Videokassetten als Zufallsfund stieß. Darauf ist zu sehen, wie er offenbar betäubte und willenlose Frauen über eine längere Zeit vergewaltigte.

Dass die Polizei bei Arne W. noch mehrere andere belastende Videokassetten fand, die Suche nach den anderen Opfern aber ohne Ergebnis blieb, sei hier nicht nur am Rande erwähnt.

Breiten Raum nahm die Begründung der anschließenden Sicherungsverwahrung ein. Der Angeklagte war vom forensischen Psychiater Dr. Georg Stolpmann begutachtet worden. Dieser stellt fest, dass bei ihm der Hang zu erheblichen Straftaten vorliege und er für die Allgemeinheit gefährlich ist (Paragraf 66 Absatz 1 Nr. 4 Strafgesetzbuch). Pröbstel erinnerte daran, dass er den Anklagen im Verfahren fragte, ob er gefährlich sei. Erst antwortete er nicht, doch dann sagte er: „Da ist was in mir drin, was mir Angst macht.“ Das richterliche Ermessen zur Aussprache der Sicherungsverwahrung reduzierte sich im vorliegenden Fall fast auf null, so der Richter.

Auf die Aussage des Angeklagten im Verfahren, er wolle sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen, reagierte der Richter abschließend: „Falls das ernst gemeint war, und nicht nur Verhandlungstaktik war – Die Sexualität beginnt im Kopf, und wenn Sie keine Erektion bekommen können,  dann nimmt man einen Gegenstand, das haben wir in den Videos ja gesehen. Sie haben den Hang nach willenlosen Frauen, mit denen sie machen können, was sie wollen. Und zu kleinen Mädchen. Solange das so ist, gelten sie als gefährlich.

Es bleiben noch zwei Gedanken: Die Soko „Altfälle“, eher zufällig gegründet, kann einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung ungeklärter schwerer und schwerster Straftaten leisten. Eine konzentrierte Bearbeitung nicht geklärter Tötungsdelikte muss vornehmste Aufgabe jeder Polizei sein. Das zu diesem Zweck die bestehende Polizeiorganisation nicht im Stande ist, dürfte allen klar sein. Eine dauerhafte Lösung dieses zunächst organisatorischen Problems wurde schon mehrfach angekündigt…

Ja, es kostet Personal, ja, auch Geld, ja, auch besonders viel Zeit. Ja, es passieren auch Fehler. Auch gibt es in manchen Fällen Verfolgungseifer, der sich negativ auswirken kann. Aber: Je schneller, je professioneller, je besser von der Polizeiführung unterstützt, desto besser und sicherer können die ungeklärten Tötungsdelikte aufgeklärt werden, nicht nur in Jena, nicht nur in Weimar, in ganz Thüringen.

Die Stichworte zu den Taten und die Namen der vielen Opfer sind den langgedienten StaatsanwältInnen und KrimalbeamtInnen bekannt.

Und: Wenn der hier geschilderte Fall den Zufallsfunden zu schulden ist, was kann da alles bei zielgerichteter Suche gefunden werden…

Und ein zweiter Gedanke: Muss eine Medieninformation zu einem OLG-Beschluss über eine laufende Mordermittlung tatsächlich so detailliert sein? Man wirft der Polizei indirekt Verfolgungseifer vor, von welchem Eifer waren die Verfasser dieser Medieninformation getrieben?

(30.10.2019 – 11:30 Uhr, 3. Strafkammer des Landgerichts Erfurt, Saal 1.21)

A.S.