„Da haben Sie ja viel mitgebracht!“

Berufungsverhandlungen haben nicht nur ihre eigenen Gesetze, sondern für Gerichtsreportagen auch einen besonderen Reiz. Ohne zwingend die erstinstanzliche Verhandlung besucht zu haben, öffnet die Berufungsverhandlung einen Rundblick auf die zugrunde liegenden Sachverhalte und die handelnden Akteure. Je nach Verlauf der Verhandlung mit Distanz oder mit Nähe, kurz und knapp, aber auch intensiv und langwierig.

Auszug aus der Übersicht der Verhanlungstermine des OLG Jena

Dass die vor der 7. Strafkammer des Landgerichts Erfurt am Montag, den 10. Januar 2022 verhandelte Berufung eher kurz und knapp entwickelte, war im Voraus nicht zu erahnen. Es versprach eher spannend zu werden, denn die Ankündigung mit „Brandstiftung u.a.“ ließ eine komplexere Verhandlung erwarten. Die nüchtere Übersicht über die Verhandlungstermine hatte sich aber schon oft als Wundertüte entpuppt. Die Vorsitzende der Kammer, Frau Kerstin Lossin-Weimer, Vizepräsidentin des Erfurter Landgerichts, dämpfte aber schnell die Erwartungen.

Zuerst wurden jedoch die Formalien abgehandelt. Angeklagt war der 25jährige Joey S. Er wurde durch Rechtsanwalt Ralph Dobrawa vertreten, der auch Berufung gegen zwei Urteile des Amtsgerichts Gotha für seinen Mandaten einlegte. Das erste Urteil war vom 6. Juli 2021, er war wegen gemeinschaftlich begangener Brandstiftung im minder schweren Fall sowie Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten (ohne Bewährung) verurteilt wurden. Beim Aufzählen der Delikte erwähnte die Vorsitzende beim Stichwort Brandstiftung: „Davon ist er wohl freizusprechen“.
Am 27. April 2021 verurteilte ihm das Amtsgericht Gotha wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, verbotenen Kraftfahrzeugrennen, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe.

Die Vorsitzende schilderte einige der Taten etwas ausführlicher. Der Brandstiftung ging eine Autofahrt des Angeklagten mit zwei Mittätern am 17. Mai 2020 in einem Ford Focus voraus. Sie fuhren von Gotha nach Siebleben zu einem Steinbruch. Dort wurde der alte PKW gemeinschaftlich angezündet. Der PKW war nicht pflichtversichert, er gehörte einen der Mittäter, Joey S. hatte keinen Führerschein. Die Vorsitzende zitierte weiter aus dem Urteil, so u.a., dass sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung voll geständig zeigte, unter zum Teil dreifacher Bewährung stand und wegen der vielen Vorstrafen und einer ungünstigen Sozialprognose keine Strafaussetzung zur Bewährung erhielt.

Die zweite Verurteilung des Amtsgerichte Gotha betraf noch viel schwerwiegerende Straftaten. Am 17. Mai 2020 – einem Sonntag – wollte eine Polizeistreife in Friedrichroda einen PKW Honda Civic anhalten. Am Steuer der Angeklagte in Begleitung von zwei Freunden und einer Freundin. Er missachtete die Anhaltezeichen und fuhr mit sehr hoher Geschwindigkeit weiter. Die Polizeistreife verfolgte ihn mit einem Funkstreifenwagen. Diese Streife wurde schnell durch eine weitere Polizeistreife mit zivilen VW Golf unterstützt. Joey S. fuhr mit teilweise 140 km/h durch Friedrichroda, gefolgt von den beiden Polizeifahrzeugen. Aus dem Honda wurden mehrfach Gegenstände aus dem Fenster geworfen, um der Polizei die Verfolgung zu erschweren, so zum Beispiel Werkzeuge und Flaschen. Während der Flucht versuchte er mehrfach, das Polizeifahrzeug seitlich zu rammen, um es abzudrängen, und an der Verfolgung zu hindern. Durch geschicktes Ausweichen der Polizei konnte eine Kollision verhindert werden. Zwischenzeitlich fuhr er mit über 160 km/h in Richtung Leina, um später auf die Autobahn A 4 aufzufahren. In Richtung Frankfurt/Main rammte er bei über 100 km/h das Zivilfahrzeug der Polizei, durch diese Kollision überschlug sich der Honda mehrfach und kam auf dem Dach liegend zum stehen. Alle vier Insassen wurden verletzt. Das Polizeifahrzeug wurde beschädigt, die Polizeibeamten blieben unverletzt. Das am Honda angebrachte Kennzeichen war eine Totalfälschung, Joey S. hatte vor der Fahrt Cannabis konsumiert.

Über diese Straftaten berichteten die Medien ausführlich. Die Thüringer Polizei veröffentlichte auf ihrer Facebook-Seite eine Art Glosse „+++ Flucht á la Super Mario Kart +++“ zum Tatgeschehen.

Quelle: Landespolizeidirektion Erfurt

Aber wieder zurück zur Berufungsverhandlung: Das Landgericht Erfurt hatte am 12. Oktober 2021 beide Verfahren zusammengeführt. Die Vorsitzende fragte bei der Staatsanwältin und dem Rechtsanwalt Dobrowa nach, ob es bei den Berufungen Beschränkungen gebe. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Rechtsbeistand des Angeklagten beantragten für die Brandstiftung des ersten Verfahrens Freispruch, ansonsten beschränkten sie die Berufung auf das Strafmaß. Für das Protokoll stellte die Vorsitzende fest, dass es keine Absprachen gab.

Sodann verlas sie den aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister: Joey S. hatte insgesamt 16 Eintragungen! Die erste Eintragung stammte von 2012, der damals 16jährige wurde wegen Diebstahls und Fahren ohne Fahrerlaubnis angeklagt. Es folgten quer durchs Strafgesetzbuch weitere Eintragungen wegen Diebstahls, falscher Verdächtigung, unbefugten Waffenbesitzes, Körperverletzungen, immer wieder Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie Betäubungsmitteldelikte (Konsum und Anbau). Das veranlasste die Vorsitzende zu der Bemerkung: „Da haben Sie ja viel mitgebracht! Und die zwei, die wir jetzt zu verhandeln haben, und dann noch die drei offenen Bewährungen ….

Darauf sein Verteidiger: „Er hat aber auch viel unternommen!“ Das ließ die Richterin nicht einfach so durchlaufen, wollte es genauer wissen und fragte beim Angeklagten nach: „Was haben Sie alles unternommen?“ Der Angeklagte, mit blauem Mund-Nase-Schutz, antwortete leise und zögerlich: „Ich habe versucht, meine Sozialstunden abzuleisten. Und ich gehe wieder arbeiten, habe eine Maßnahme vom Arbeitsamt, wo ich lerne, Bewerbungen zu schreiben. Und ich bin weg von Drogen, hab selbst aufgehört, vor einem Vierteljahr. Und ich gehe zur Suchtberatung. War schon einmal dort, hab jetzt jeden Monat einen Termin.

Die Vorsitzende nahm das erst mal so hin, und, wohl noch in Gedanken bei dem Vorstrafenregister, an die Staatsanwältin und den Verteidiger gewandt: „Das müssen wir hier alles auflösen und Gesamtstrafen bilden. Das wird wohl die Hauptaufgabe werden. Und dann kommen noch die beiden Urteile Nr. 13 und 14 des BZR dazu.“ Das verstand die Staatsanwältin nicht und fragte nach, warum diese beiden Urteile jetzt bei der Gesamtstrafenbildung mit berücksichtigt werden musste. Die Vorsitzende erwiderte nachsichtig: „Weil diese Verurteilungen zwischen den jetzt zu verhandelnden Urteilen stattfanden.“ Die Staatsanwältin schien nicht überzeugt, nickte jedoch zustimmend.

Richterin Lossin-Weimer zitierte nun aus den weiteren beiden Urteilen, zuerst einem Strafbefehl des Amtsgerichts Mühlhausen aus 2020. Demnach war der Angeklagte zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen gemeinschaftlichen Diebstahls verurteilt worden, weil er zusammen mit zwei Mittätern in einem Supermarkt eingebrochen war und mehrere Kästen Bier im Wert von 200 € entwendete. Ebenfalls in 2020 verurteilte ihn das Amtsgericht Gotha wegen Diebstahls geringwertiger Sachen in einem Supermarkt sowie des Diebstahls von zwei Mopeds zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat, ausgesetzt zu einer Bewährungszeit von drei Jahren. Die Mopeds (Gesamtwert 5.000 €) waren vor dem Gymnasium Ernestinum in Gotha jeweils mit Ketten gesichert abgestellt und wurden von der Polizei in der Garage des Angeklagten sichergestellt.
Die Vorsitzende erklärte, dass nun auch die Verurteilung durch das Amtsgerichtsgericht Mühlhausen aus 2021 wegen vorsätzlicher Körperverletzung bei der Gesamtstrafenbildung mit einbezogen werden müssen: Der Angeklagte hatte einen Mann mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen und ihm somit zwei Schneidezähne ausgeschlagen. Dem vorangegangen war eine Schilderung des 13jähriges Sohnes seiner Lebensgefährtin, dass dieser Mann in unangemessen angesprochen hatte. Nur irrte der Angeklagte sich in der Person, sodass seine Selbstjustiz einen Unbeteiligten traf…

Als Nächstes verlas sie den Bericht der Bewährungshelferin, die ihn aufgrund eines Umzugs des Angeklagten erst seit April 2021 in Betreuung hat. In dieser Zeit gab es erst ein Gespräch. Er hat von ihr eine Stelle beim Bauhof Eisenach vermittelt bekommen, wo er die 100 offenen Sozialstunden ableisten konnte. Da war er einmal dort. Dann gab es die 3G-Reglung am Bauhof, und da er weder geimpft noch genesen ist, hätte er sich täglich testen lassen müssen. Das hat er nicht erledigt, und so haben sie ihm am Bauhof nicht wieder genommen, sodass er nur 5 Stunden abgeleistet hat. Die Bewährungshelferin sah sich außerstande, eine Sozialprognose abzugeben, dazu kenne sie ihn zu wenig.

Der Angeklagte wurde von seinem Rechtsanwalt aufgefordert, etwas über die Familie zu sagen. Der Angeklagte, der nach seiner Äußerung zur Verhandlung in Begleitung seiner Lebensgefährtin und deren Vater erschienen war, sagte: „Die beiden Kinder waren in einer Jugendhilfeeinrichtung, die haben wir gemeinsam zurückgeholt.“ Er meinte damit die 13 und 14 Jahre alten Kinder seiner Lebensgefährtin, für die er „der Papa“ sei.

Vor Abschluss der Beweisaufnahme machte die Vorsitzende darauf aufmerksam, dass wegen der gemeinschaftlichen Brandstiftung ein Freispruch zu erwarten sein, da der in Brand gesetzte PKW einen Mittäter gehörte, im Gesetzestext aber stehe, dass eine „fremde Sache“ Tatobjekt sein muss.

Die Staatsanwältin begann ihr Plädoyer, indem sie natürlich wegen der Brandstiftung Freispruch beantragte, ansonsten aber darauf hinwies, das es sich bei den Angeklagten um einen mehrfachen Bewährungsversager handelt, dem auch die Strafverbüßung im Strafvollzug nicht als Warnung diente. Obwohl sie bei der Erstinstanz eine höhere Strafe geforderte hatte, beantragte sie jetzt die gleiche Strafhöhe wie beim erstinstanzlichen Urteil ausgesprochen. Sie begründete das mit dem Zeitablauf. Eine schwächere Begründung hat man bei Gericht von einer Staatsanwältin kaum gehört! Man bedenke: Sie legt wegen eines höheren Strafmaßes Berufung ein, beantragt diese aber in der Berufungsverhandlung nicht, weil zwischen der Erstinstanz und der Berufungsinstanz Zeit verstrichen ist. Etwas verständlicher wäre dies, wenn zwischen den Verhandlungen eine überlange Zeit gelegen hätte – dem war aber nicht so. So beantragte sie für die erste Verhandlung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten und für die zweite Verhandlung eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Das Verfolgen der Gesamtstrafenbildung bei dieser Verhandlung war besonders schwer, weil doch etwas konfus, die Haltung der Staatsanwältin machte dies nicht einfacher. Man hatte das Gefühl, dass sie den Überblick verloren hatte. Die Vorsitzende fragte auch nach, ob jetzt auch das letzte Urteil mit erfasst wäre, was die Staatsanwältin mit wenig Überzeugung bejahte. Die Vorsitzende souverän: „Ach so, dann hab ich das nicht mitbekommen.

Das Plädoyer des Verteidigers war kurz, er schilderte wenig treffend die Bemühungen seines Mandanten um Besserung und beantragte, dass die beiden Gesamtstrafen unter zwei Jahren bzw. unter 10 Monaten liegen sollten, damit eine erneute Strafaussetzung zur Bewährung möglich wäre.

Der Angeklagte hatte das letzte Wort: „Ich will mich bessern und keine Straftaten mehr begehen.“ Das hat wohl selbst seinen Rechtsanwalt nicht überzeugt.

In der dann folgenden Pause stellte ich mich der mir unbekannten Staatsanwältin vor und fragte nach ihren Namen, da ich ihn bei den begrüßenden Formalien durch die Vorsitzende nicht verstanden hatte. Sie sagte ihn kurz, schnell, undeutlich und sehr unfreundlich. Auf meine nochmalige Nachfrage blaffte sie mich harsch an: „Warum brauchen Sie meinen Namen? Andere brauchen ihn auch nicht, es geht auch ohne Namen.“ Ich sagte, dass es nicht unbedingt notwendig sei, da kürze ich den Namen mit „Z.“ einfach ab. Das gefiel ihr auch nicht. Ich sagte ihr zu, ihren Namen nicht zu nennen. – So macht man sich ungewollte von einer blass und unscheinbar wirkenden Staatsanwältin zu einer Hauptfigur in einer Gerichtsreportage! Über die Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes – neben dem Unmittelbarkeitsprinzip und dem Mündlichkeitsprinzip eine der grundlegenden Prozessmaximen in deutschen Gerichtsverfahren – hatte ich schon mehrfach geschrieben.

Das Bundesverwaltungsgericht hat hinsichtlich des Anspruchs auf Auskunftserteilung über die Namen des Staatsanwalts und des Verteidigers schon vor Jahren eindeutig entschieden. Das Persönlichkeitsrecht dieser Personen muss hinter dem grundrechtlich geschützten Auskunftsinteresse der Presse zurückstehen. Sie stehen kraft des ihnen übertragenen Amtes und ihrer Stellung als Organ der Rechtspflege hinsichtlich ihrer Mitwirkung an Gerichtsverfahren im Blickfeld der Öffentlichkeit (BVerwG, Urt. v. 1.10.2014, Az. 6 C 35/13).

Im Übrigen ist der Staatsanwältin noch zu sagen: Augen auf bei der Berufswahl! Wer nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen will, sollte nicht Vertreterin der öffentlichen Anklagebehörde sein wollen.

Doch letztmalig zurück zur Berufungsverhandlung, der Urteilsverkündung: Die Vorsitzende verlas das Urteil im Namen des Volkes: Bezüglich der Brandstiftung erfolgte erwartungsgemäß ein Freispruch. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe im einen und zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten im weiteren Verfahren verurteilt. Darüber hinaus wird die Verwaltungsbehörde aufgefordert, für weitere zwei Jahre eine Fahrerlaubnissperre auszusprechen. Die Richterin fasste zusammen: „Woraus wir als Kammer den Schluß ziehen sollten, dass es diesmal anders sein soll, war uns nicht klar. Es hätte mehr geschehen müssen, um von gefestigten geänderten Lebensverhältnissen auszugehen.

Ja, die Vorsitzende und ihre beiden Schöffen hat das, was wohl für diese Tätigkeit sprichwörtlich am wichtigsten ist: Urteilsfähigkeit!

(10.01.2022 – 9:00 Uhr, Landgericht Erfurt, 7. Strafkammer, Saal E 48)

A.S.