Ein Hakenkreuz im Schnee

Amtsgericht Arnstadt. Bildrechte bei www.gerichtsalltag.de

Das Jugendschöffengericht beim Amtsgericht Arnstadt unter Vorsitz von Frau Richterin Mandy Trebeß verhandelte am 26. November 2019 gegen den 19jährigen Tobias S. aus Erfurt wegen eines Vergehens nach Paragraf 86 a Strafgesetzbuch (StGB). Dem Tatbestand des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, auch kurz Kennzeichenverbot genannt,  wird eine herausragende und zunehmende Bedeutung zugeschrieben. Es ist als „sonstige politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) ein typisches Propagandadelikt des politischen Strafrechts. Der Paragraf 86a StGB ist damit Teil des so genannten „Staatsschutzstrafrechts“. Erst seit 1960 existiert dieser Tatbestand im Strafgesetzbuch, zuvor war in der alten Bundesrepublik das Zeigen von Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen seit 1953 im Versammlungsgesetz unter Strafe gestellt. Dem gegenüber stehen originäre politische Straftaten, wie Hoch- und Landesverrat.

Auch in der DDR gab es einen ähnlichen Tatbestand: Nach Paragraf 220 Absatz 3 DDR-StGB machte sich strafbar, wer „in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut oder Symbole dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt.“

Der Angeklagte wurde aus der Jugendstrafanstalt Arnstadt vorgeführt. Wie im Laufe der Verhandlung klar wurde, sitzt er dort eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten ab, zu der er vom Landgericht Erfurt verurteilt wurde. Er hatte eine Dreizehnjährige sexuell missbraucht. Schnell war auch klar: Der Tatort war die Jugendstrafanstalt Arnstadt selbst. Auch deswegen war das Amtsgericht Arnstadt zuständig. Die Anklage wurde von Staatsanwältin Madelaine May vertreten, Rechtsanwalt Ingo Henkel vertrat den Angeklagten.

Der Tatvorwurf der Anklage war kurz: Tobias S. soll am 10. Januar 2019 als Strafgefangener in der Jugendstrafanstalt (JSA) Arnstadt beim Schneeschieben ein seitenverkehrtes Hakenkreuz mit der Schneeschaufel in den Schnee geschoben haben. Dies bemerkte ein Justizbeamter, forderte ihn auf, es wegzumachen, und schrieb dazu einen Bericht. Es folgte eine Strafanzeige, welche in der Anklage des Heranwachsenden vor dem Jugendschöffengericht mündete.

Die Vorsitzende fragte, ob sich der Angeklagte äußern wolle. Sein Verteidiger bejahte dies und erklärte, dass sein Mandant die Tat einräumt, aber ohne ein  politisches Motiv dieses Muster in den Schnee geschoben hatte. Er hatte es aus Spaß gemacht, einen Schlechten. Außerdem war dieses Zeichen nur für kurze Zeit zu sehen. „Was heißt für kurze Zeit?“ fragte die Richterin nach. Der Angeklagte, so angesprochen: „Nur wenige Minuten.“ Frau Trebeß wollte es genau wissen: „Wer hatte es sehen können?“ – „Die anderen Gefangenen, die waren so ungefähr dreißig Meter weg.

Der Verteidiger zur politischen Einstellung des Angeklagten: „Er ist nicht rechts, er steht eher in der Mitte.

Es waren drei Zeugen vorgeladen, alles Beamte aus der Jugendstrafanstalt. Der erste Zeuge war noch in der Ausbildung als Justizanwärter in der JSA Arnstadt, aktuell ist er in Tonna. Er bestätigte das bereits Ausgesagte. Der 33jährige Martin S., ebenfalls Justizbeamter, machte konkrete Angaben zum genaueren Tatort, dabei war es der Staatsanwältin wichtig, zu erfahren, wer das Hakenkreuz gesehen haben könnte. Die Aussage machte deutlich, dass es ein sehr kleiner Personenkreis war – die anderen Strafgefangenen. Besucher oder externe Mitarbeiter haben sich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Nähe befunden.

Die Vorsitzende fragte beim Zeugen nach, ob es für den Angeklagten disziplinarische Folgen gab. Dies konnte der Zeuge nicht beantworten, es sei eine Sache in den Hafthäusern. Rechtsanwalt Henkel ergänzte: „Ja, es wurde disziplinarisch geahndet. Er ist sogar doppelt bestraft worden. Im August war die Zweidrittel- Anhörung. Er sitzt jetzt wegen dieses Verfahrens länger, als er eigentlich müsste. Er hat auch eine Verhaltenstherapie gemacht.“

Dies ließ die Vorsitzende nicht durchgehen: „Ich habe mir die Vollzugsakte angesehen. Die Zweidrittel-Anhörung hatte andere Gründe!“ Das räumte der Verteidiger sofort ein, er hatte bemerkt, dass er da ein wenig überzogen hatte.

Die Beweisaufnahme war abgeschlossen, die Zeugen entlassen. Richterin Trebeß: „Ohne mit den Schöffen gesprochen zu haben, denke ich darüber nach, das Verfahren einzustellen, denn ich habe Bedenken bezüglich der Tatbestandsmäßigkeit, denn eine unbestimmte Öffentlichkeit war nicht gegeben.“

Die beiden Schöffen und die Staatsanwältin stimmten zu und es erging der Beschluss, dass Verfahren gemäß Paragraf 154 Absatz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Strafprozessordnung vorläufig einzustellen.

Bleibt die Frage, warum es überhaupt zur Anklage kam, denn die Sach- und Rechtslage hatte sich in der öffentlichen Hauptverhandlung nicht geändert. Die Vorsitzende Richterin beantwortete diese Frage nach der Verhandlung schlüssig: „Die Staatsanwaltschaften nehmen solche Sachen im Strafvollzug sehr ernst. Und es ist ja die Gerichtsverhandlung da, um Klarheit zu schaffen.“ Ursprünglich fand ich, dass dieses Verfahren bereits durch die Staatsanwaltschaft hätte eingestellt werden können. Besonders wenn man die Relation zwischen Einstellung und Anklage betrachtet. Die Richterin hatte natürlich recht.

„…sonst gibt’s Eine vorn Wanst!“

Nach einer kurzen Pause begann um 10:30 Uhr die zweite von insgesamt drei Verhandlungen, welche Richterin Trebeß an diesem Tag angesetzt hatte. Nun fungierte sie als Jugendrichterin, die beiden Schöffen wurden an diesem Tag nicht mehr benötigt. Staatsanwältin May hatte weiter Sitzungsdienst der Staatsanwaltschaft Erfurt und vertrat die Anklage. Angeklagt waren die 19jährige Auszubildende Maike D. und die 16jährige Schülerin Manuela D. Ihnen wurde gefährliche Körperverletzung und Beleidigung vorgeworfen. Die beiden Schwestern aus Arnstadt erschienen ohne einen Rechtsbeistand. Als gesetzliche Vertreterin der Manuela D. war die Mutter im Zuschauerraum anwesend. Die Anklage warf ihnen vor, am 28. Oktober 2018 gegen 19:10 Uhr die Laura Sophie G. als „Schlampe“ bezeichnet und kurz darauf die Antonia G. gestoßen und geschlagen zu haben, sodass sie zu Boden fiel.

Nachdem die beiden Angeklagten von der Richterin belehrt wurden, wollten sich beide äußern. Maike D.: „Ich hab sie an den Haaren gezogen, aber nicht hin geschubst. Ich hab sie nicht beleidigt.“ Sie redete schnell, aber leider nicht besonders deutlich weiter, sodass sie von der Richterin unterbrochen wurden: „Nun mal der Reihe nach!“ Nach einigen Hin und Her ergab sich das Bild einer beidseitigen verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Schwestern D. auf der einen und zwei Bekannten von ihnen auf der anderen Seite. Den Anfang, so Manuela D., haben die anderen gemacht, indem sie ihnen zuriefen: „Da sind ja die hässlichen D.s, die stinken und waschen sich nicht!“ Die Schwestern sind weggegangen, wollten keinen Streit. Die anderen Beiden sind hinterher. Dann soll die Antonia die Manuela D. weggeschubst haben, worauf die Maike D. sagte: „Wenn Du nicht aufhörst, greife ich ein!“ Das hätte zur Einsicht führen müssen, denn sie machte einen durchaus robusten Eindruck. Die Antonia hat weiter gemacht, worauf die Maike sie an den Haaren gezogen und auf den Boden gedrückt hatte. Sie hielt die Antonia fest, bis sie aufhörte.

Die 14jährige Laura G. wird als Zeugin gehört, sie wird von ihrer Mutter als gesetzliche Vertreterin begleitet. Sie bestätigte die gegenseitigen Beleidigungen. Auf richterliche Nachfrage, wer damit angefangen hatte, schweigt sie, dann sagt sie „Wiss ich nicht mehr.“ Sie schildert dann die Auseinandersetzung weiter: „Dann ging alles los und dann lag die Antonia am Boden.“ – „Wie kam das?“ wollte die Richterin wissen. „Wir sind dann alle drauf gegangen…“ Richterin Trebeß: „Was heißt ‚Auf sie drauf gegangen‘?“ Die Zeugin schwieg, wirkte unsicher, wusste nicht so richtig, wie sie sich im Zeugenstand verhalten sollte. Die Richterin: „Haben Sie überhaupt etwas gesehen?“ Die 14jährige Zeugin taut auf: „Ich war abgelenkt, hab telefoniert.“ Mit den Aussagen vor der Polizei konfrontiert, antwortet sie: „Weiß jetzt nicht mehr, ist schon fast ein Jahr her.“ Die Richterin: „Haben Sie öfters solche Auseinandersetzungen?“ – „Nein.“ – „Und trotzdem wissen Sie es nicht mehr?“ Die Zeugin: „Damals hab ich‘s gewusst, hab jetzt andere Probleme, darüber möchte ich nicht reden…

Die Richterin gab sich mit der Zeugin weiterhin viel Mühe: „Hatte die Antonia Verletzungen?“ Die Zeugin: „Keine, die man sieht.“ Staatsanwältin May: „Wie ist das eskaliert?“ – „Ich war abgelenkt, weil ich mit meiner Mutter telefoniert habe.“ Dazu nickte ihre Mutter im Zuschauerraum. Substantiell war nichts mehr zu erwarten. Die Zeugin wurde unvereidigt entlassen.

Die 15jährige Zeugin Antonia G. erschien mit ihren Vater vor Gericht. Dieser setze sich laut schnaubend in die erste Zuschauerreihe. Seine Tochter schilderte ihre Sicht: „Die Manuela sagte zu mir ‚Du läufst wie ‘ne Schlampe rum‘ und da hab ich gesagt ‚Du bist selbst ‘ne Schlampe‘. Dann hat sie mich geschubst und den Kopf auf den Boden gedrückt. Da sagte die Maike, ich soll ihre Schwester in Ruhe lassen.“ Die Richterin, sehr aufmerksam, fragte sofort nach: „Warum hat sie das gesagt, wenn Sie doch sagten, die Manuela hat angefangen?“ Die Zeugin, unsicher: „Wir haben oft Stress und streiten uns.“ – „Warum?“ Die Zeugin: „Die Schulen hassen sich, ich hab auch deswegen die Schule gewechselt…“ Und dann sagte sie zur Sache: „Die Maike hat mir die Luft weggedrückt, die haben mich dann nach Hause gebracht und den Notarzt gerufen.“ Viel Erhellendes zum Sachverhalt kam nicht mehr, so sehr sich die Richterin und die Staatsanwältin auch mühten.

Diese Bemühungen waren auch in den Zuschauerreihen spürbar. Der Vater von Antonia, sehr stämmig, zirka 165 cm groß, bekleidet mit einem schwarzen Sweatshirt mit wilden roten Frakturschrift-Aufdruck, gleichartiger Jogginghose und beigefarbenen Basecap, war während der gesamten Vernehmung seiner Tochter hör- und spürbar aufgebracht. Er schnaubte vor Wut, war hoch rot im Gesicht. Mehrfach rief er dazwischen, die mahnenden Worte der Richterin ignorierend. Die ein paar Stühle neben ihn sitzende Mutter der beiden Angeklagten reichte es: „Du warst gar nicht dabei, Tobias!“ Er: „Sei still, sonst gibt‘s Eine vorn Wanst!“ Richterin Trebeß: „Sie sind ruhig, sonst müssen Sie raus!“ Die Zeugin wurde entlassen, der Vater ging mit ihr hinaus. Kurz vor der Tür wandte er sich drohend an die beiden Angeklagten: „Wir sehen und noch!

Auch die folgende Zeugin konnte nicht zur Sachaufklärung beitragen. Die Richterin: „Die Beweismittel sind erschöpft. Wie gehen wir damit um? Entweder haben die Zeugen Garnichts gesehen oder sie schildern ihre Sicht. Ich sehe keine Möglichkeit, Licht ins Dunkel zu bringen. Es ist vielleicht sachgerecht, dass Verfahren einzustellen.“ Staatsanwältin May: „Bei Manuela gehe ich mit. Maike hat zumindest eingeräumt, dass es einen Anlass gab. Bei Maike glaube ich, dass eine Einstellung gegen eine Geldbuße angemessen ist.

Richterin Trebeß: „Wichtig ist, dass Sie daraus lernen, Auseinandersetzungen nicht körperlich auszutragen.“ Manuela D. aufrichtig und aus ehrlichem Herzen: „Ja, daraus hab ich meine Lehren gezogen!

Das Gericht stellt das Verfahren gegen Manuela D. gemäß Paragrafen 45 und 47 Jugendgerichtsgesetz ein. Das Verfahren gegen Maike D. wurde gegen Zahlung von 200 Euro vorläufig eingestellt, wenn sie die vier Raten von jeweils 50 Euro gezahlt hat, wird das Verfahren endgültig eingestellt.

Erschütternd war der Auftritt des Vaters von Antonia. Leider hatten weder die Richterin noch die Staatsanwältin die drohende Äußerung gehört. Auch wenn sie nicht strafrechtlich zu ahnden gewesen wäre. Eine energische Zurechtweisung durch das Gericht hätte nicht nur ich mir gewünscht.

(26.11.2019 – 09:00 und 10:30 Uhr, Amtsgericht Arnstadt, Saal E 210)

A.S.