100 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Gerichtsalltag, Teil I

Für den Auftakt unter der Rubrik „Historisches“ habe ich die Gerichtsberichte aus der Beilage des Jenaer Volksblattes vom 25. Januar 1919 ausgewählt. Das Jenaer Volksblatt erschien vom April 1890 als linksliberale lokale Zeitung. Maßgeblich angeregt und mit gegründet wurde sie durch den Unternehmer und Sozialreformer Ernst Abbe (1840-1905). 1941 wurde das Volksblatt zwangsweise eingestellt.

Gerichtsverhandlungen

Verhandlung des Schöffengerichts Jena

am 23. Januar 1919.

Vorsitzender: Amtsgerichtsrat Bertram; Schöffen: Gastwirt Emil Schoele aus Jena und Maurer Eduard Ortlepp aus Rothenstein. Die Anklagen vertritt Assessor Singer.

  1. Die Frau Elisabeth F. soll ihrer Stiefmutter, als diese für kurze Zeit ihren Laden verlassen hatte, 52 M entwendet haben. Das Gericht ist der Ansicht, daß auch eine dritte Person als Täter in Frage kommen kann und spricht die Angeklagte frei.
  2. Drei Frauen, Frau M., Frau Lydia T. und Frau Therese Mg. haben sich wegen Diebstahls bezw. Hehlerei zu verantworten. In dem Warenhaus von B. waren etwa 8 Soldaten beschäftigt. Frau M. war daselbst als Aufwärterin tätig. Mit den Soldaten gemeinschaftlich hat sie Diebstähle ausgeführt. Bei der Angeklagten wurden für 534 M gestohlene Waren vorgefunden. Die Soldaten, welche wie die Raben gestohlen haben, gehen durch den am 7. Dez. verkündeten Amnestieerlaß straffrei aus. Auch der Aufseher, ein Unteroffizier, hat tüchtig gestohlen. Frau F. hat von ihrem Bruder etwa 52 M Waren, angeblich als Weihnachtsgeschenk, bekommen. Sie habe nicht gewußt, daß die Waren gestohlen waren. Auch bei Frau Mg. sind Waren gefunden worden, welche sie von einem der Soldaten geschenkt bekommen hatte. Wegen fortgesetzten Diebstahls wird Frau M. zu 1 Monat Gefängnis, die Frauen T. und Mg. wegen Hehlerei zu je 3 Tagen Gefängnis verurteilt. Alle drei Angeklagten sollen der bedingten Begnadigung empfohlen werden, mit Rücksicht darauf, daß die Hauptschuldigen straflos ausgehen.
  3. Die Arbeiterin H. wird für überführt erachtet, ihrer Wirtin eine Anzahl Messer und Gabeln entwendet zu haben. Wegen Diebstahl wird die Angeklagte zu 2 Tagen Gefängnis verurteilt, mit Rücksicht auf ihre Jugend soll sie der bedingten Begnadigung empfohlen werden.
  4. Frau Frieda H. aus Kahla wird zwangsweise vorgeführt. Sie hat sich Bahnsteigkarten gelöst und auf den hiesigen Bahnhöfen mehreren Frauen die Geldbörsen und Handtaschen entwendet. Am Paradisbahnhofe erbeutete sie an einem Tage etliche Börsen mit zusammen 300 M. Auch auf dem Holzmarkte hat die Angeklagte im Gedränge Diebstähle ausgeführt. Sie ist schon wegen Diebstahl verurteilt worden. Obgleich 5 Diebstähle vorliegen, betrachtet das Gericht dieselben als eine einheitliche Handlung. Die Angeklagte wir wegen einfachen Diebstahls zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt.

Aus den Verhandlungen des Landgerichts Weimar

am 22. Januar 1919.

  1. Die erst am 5. Dezember aus dem Gefängnis entlassene ledige Ida Sch. aus Lengefeld brach bereits einige Tage später in ein Gartenhaus am Lichtenhainer Oberweg bei Jena ein und stahl drei Kaninchen. Beim Versuch, diese zu verkaufen, wurde sie verhaftet. Die Angeklagte, die geständig ist, muß ihr Vergehen mit einer einjährigen Gefängnisstrafe büßen.
  2. Wegen schweren Diebstahls angeklagt war der Präparator Robert O. aus Jena. Während sein Gehilfe G. in der Nacht vom 4. zum 5. November 1916 aus einem Garten in der Blücherstraße 5 Kaninchen stahl, stand O. Schmiere. In der folgenden Nacht holte G. aus einem anderen Garten 4 Kaninchen, 7 Hühner und 2 Enten. O. stand dabei „Posten“. Professor Dr. Giese aus Jena hat bei den Angeklagten, der erst aus dem Felde zurückgekehrt ist, verminderte Zurechnungsfähigkeit festgestellt. Er wurde, da er zur Zeit der Tat nicht zurechnungsfähig war, freigesprochen.
  3. Gegen den aus Chemnitz gebürtigen Dekorateur Albin G. ist infolge des Amnestieerlasses das Verfahren eingestellt worden.
  4. Der Schlosser Z. aus Jena sollte im Jahre 1917 seiner Wirtsfrau aus einem Rollschreibpult, in welchem sich über 300 M befanden, 20 M gestohlen haben. Der Angeklagte bestritt dies. Er habe seinerzeit den Diebstahl nur eingestanden, weil seine Verlobung bevorstand. Mangels genügender Beweise erfolgte Freispruch.

(aus: Jenaer Volksblatt, Sonnabend, den 25. Januar 1919, Beilage, S. 11/12)

Der mehrfach genannte Amnestieerlass bezieht sich auf die Verordnung über eine militärische Amnestie des Rates der Volksbeauftragten vom 7. Dezember 1918 (Reichsgesetzblatt Nr. 6578, Bl. 1415-1418). Diese Amnestie umfasste alle Vergehen, darüber hinaus Eigentumsverbrechen, wenn die Täter zum Tatzeitpunkt noch unter 21 Jahre alt waren. Der Erlass umfasst Personen, die vor Inkrafttreten der Amnestie dem aktiven Heer oder der Marine angehörten. Der Rat der Volksbeauftragten war die Bezeichnung für die provisorische Reichsregierung zwischen Kaiserabdankung und Nationalversammlung. Die Berichte aus den beiden Gerichten zeigen facettenreich, wie der Gerichtsalltag trotz dramatischer äußere Umstände die verschiedenen Einzelfälle berücksichtigte: Die jugendliche Täterin, bei der man Milde walten lies. Die rückfällige Strafentlassene, welche mit einem Jahr Gefängnis hart bestraft wurde. Die drei Frauen, welche durch den militärischen Amnestieerlass nicht ungerecht behandelt werden sollten. Und nicht zuletzt das Prüfen der Zurechnungsfähigkeit. Übrigens, der damalige Gutachter war kein Unbekannter: Prof. Dr. Ernst Giese (1865-1956) gehört zu den Mitbegründern der Jenaer Gerichtsmedizin.

A.S.