Der dritte Verhandlungstag begann mit einer Überraschung: Rechtsanwalt Großstück teilte dem Gericht mit, dass im Zuschauerraum die Mutter des Angeklagten sitze und eine entlastete Aussage zu ihrem Sohn abgeben wolle. Der 59jährige Richter Holger Pröbstel hat in den langen Jahren seiner Richtertätigkeit schon viel erlebt, unbeeindruckt, sagte er ihr, dass sie draußen warten möge. Das Gericht verfuhr weiter wie geplant – zunächst wurde die Kriminalkommissarin Stephanie K. der Jenaer Kriminalpolizei gehört, sie hatte die beiden Videovernehmungen des Kindes als Vernehmungsbeamtin geführt. Von Gericht, Gutachterin und Verteidigung detailliert befragt, bestätige auch diese Zeugin die Punkte der Anklage.
Nun die Mutter: Die 51jährige Verkäuferin Silke S. wurde sowohl als Zeugin, insbesondere aber als leibliche Mutter, umfänglich belehrt. Richter Pröbstel ging nicht zimperlich mit ihr um, da sich schnell zeigte, dass alles, was sie sagte, sie nur vom Hörensagen kannte, insbesondere aber von der jetzigen Verlobten ihres Sohnes. Diese Nicole W. war am zweiten Tag nach ihrer Vernehmung im Saal als Zuschauerin verblieben und verfolgte aufmerksam die Verhandlung. Sie saß auch neben der Mutter des Angeklagten im Zuschauerraum, diese wurde von ihrem jetzigen Mann begleitet. Um es kurz zu machen: Sie glaubte fest an die Unschuld ihres Sohnes, hatte aber rein Garnichts substantielles beizutragen. Dem Vorsitzendes war diese – sagen wir es mal freundlich – Naivität, sichtlich zu viel: „Ich mache das schon zwanzig Jahre, alle sagen, sie glauben den Angeklagten, alle sind plötzlich Missbrauchsbeauftragte, haben aber keine Ahnung!“ Der Mutter des Angeklagten, die unter anderen als Entlastung vorbrachte: „Ich hätte es hören müssen, sie hätte sich gewehrt, geheult, geschrienen!“ antwortete er grimmig: „Ihre Annahmen haben herzlich wenig mit der Praxis zu tun. Missbrauchsopfer vertrauen den Erwachsenen – wehren sich eben gerade nicht.“
Etwas Konkretes kam doch heraus: Sie schilderte, dass Sebastian L., als er sechszehn-siebzehn Jahre alt war, in einem betreuten Wohnen untergebracht war, sie hatte mit ihm Erziehungsprobleme. Herr Leichsenring als Gutachter hörte bei diesen Passagen aufmerksam zu und bemerkte: „Das hat er mir nicht gesagt!“ Der Vorsitzende stellte fest, dass es der Angeklagte wohl in vielen Situationen mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Dem stimmte seine Mutter zu. Fast zum Test fragte Pröbstel nach: „Was wussten Sie von der ersten Inhaftierung?“ Darauf sie: „Alles.“ Es stellte sich heraus, dass sie wenig wusste und auch von ihrem Sohn belogen wurde. Der Richter hielt ihr vor: „Sie glauben ihm alles, ungesehen!“ Sie erwiderte: „Ja!“
Das Glaubwürdigkeitsgutachten
Die Fachpsychologin für Rechtspsychologie, Frau Simone Gallwitz, Diplom-Psychologin und Diplom-Pädagogin, erstattete ihr aussagepsychologisches Gutachten. Von der Staatsanwaltschaft hatte sie den Auftrag festzustellen, ob das Kind bei den Anhörungen glaubwürdige Aussagen abgab. Frau Gallwitz, die an allen Verhandlungstagen anwesend war, hatte am 31. August 2018 das Kind untersucht, die entsprechenden Akten und Unterlagen eingesehen und schilderte in fast drei Stunden sowohl ihre Methodik als auch das Ergebnis. Zu anfangs stellte sie die (rhetorische) Frage „Worum geht es eigentlich? Es geht um die Frage, ob das, was sie schilderte, sie in der Wirklichkeit selbst erlebt hat!“ Das war kein schöner Satz, aber alle haben ihn verstanden.
Eine so umfangreiche Aussage einer Gutachterin kann nur sehr verkürzt wiedergegeben werden. Sie behandelte die Schwerpunkte Aussagetüchtigkeit und Aussagevalidität und bildete Hypothesen zu den getroffenen Aussagen des Kindes. Sie ging zuerst auf die Videovernehmung ein: „Die Schilderungen des Kindes waren so ausdrücklich, so eindeutig, das bereits vor der Untersuchung kaum Zweifel bestanden.“ Dann ging sie auf die Komplott-Hypothese ein, welche die Verlobte Nicole W. in ihrer Vernehmung nannte und auf die sich auch der Angeklagte berufen hatte. Frau Gallwitz war sehr eindeutig: „Das geht mit Kindern in dem Alter gar nicht. Damit sind Kinder kognitiv komplett überfordert. Dies würde erfahrenen Vernehmungsbeamten sofort auffallen. Diese Inszenierung müsste in allen Instanzen durchgezogen werden, beim Arzt, bei der Psychotherapeutin, bei der Polizei und vor Gericht. Das geht gar nicht. Das ist schon bei Erwachsenen sehr schwer möglich.“ Damit war diese Hypothese vom Tisch, zusammengefasst sagte die Gutachterin dazu, das sei: „absoluter Unsinn!“ Auch die von ihr angenommene und geprüfte Hypothese der Wahrnehmungsverzerrung und -verfälschung konnte schnell ausgeschlossen werden. Dazu gebe es weder Hinweise noch Anknüpfungspunkte.
Die Gutachterin fand auch keine Punkte der Instrumentalisierung durch die Mutter: Das Kind hat weder etwas von der schwierigen Beziehung zwischen Mutter und Vater gewusst, noch war ihr bekannt, der ihr Vater im Gefängnis saß. Die Mutter begründete seine Abwesenheit mit Auslandsmontagen. Auch berichtete das Kind selbst authentisch über die familiäre Situation („Mein kleiner Bruder nervt manchmal…“). Das Kind machte stimmige Aussagen, es gibt keine Differenz zwischen personalen Möglichkeiten und den tatsächlichen Aussagen, sie sind entwicklungsgerecht.
Das Kind hatte bei den Vernehmungen bei der Polizei Schwierigkeiten mit der konkreten zeitlichen Einordnung. Ob es zwei oder drei Tathandlungen an zwei oder nur an einem Tag waren, konnte sie nicht mehr genau sagen. Sie wusste nur die Tatörtlichkeit: einmal im Schlafzimmer und ein Mal draußen. Die Gutachterin sah dies nicht als Mangel, sondern eher als Bestätigung. Die Fähigkeit der konkreten zeitlichen Einordnung des Erinnerns bildet sich erst im Alter von elf bis zwölf Jahren heraus.
Frau Gallwitz ging näher auf die Videovernehmung ein. Sie lobte die Polizei, es handelte sich um eine authentische Vernehmung, kindgerecht durchgeführt, wenig, aber konkret nachgefragt. Bis zu dieser Vernehmung gab es wenige Störfaktoren für das Aussageverhalten. Das Video zeige ein Kind mit entwicklungsadäquaten Verhalten und ebensolchen Äußerungen.
Hingegen äußerte die Gutachterin mehrfach Kritik an der Psychotherapeutin, sowohl an der Methodik, als auch am Ergebnis. Grundsätzlich stellte sie in Frage, ob das Kind unmittelbar durch die Tat traumatisiert war. Die Tat hat ihr zwar nicht gefallen, sie wusste auch nicht, warum ihr Vater dies machte, einiges fand sie auch eklig, aber traumatisiert war sie davon nicht. Sie durfte ja mit dem Vater zusammen sein, etwas mit ihm machen…
Inhaltlich, so die Gutachterin weiter, war die Aussage von sehr hoher Konstanz, die phänomenbezogenen Schilderungen waren entsprechend ihrer Kenntnisse. Sie fasste zusammen: Die Ergebnis-Hypothese, also die Annahme, dass das Kind in den Aussagen die Wirklichkeit schilderte, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffend. Alle anderen Hypothesen sind sehr unwahrscheinlich. Richter Pröbstel hatte nur eine Frage: „Könnte die erste Aussage therapiekontaminiert sein?“ Klare Frage, klare Antwort der Gutachterin: „Nein, die Therapie hat erst danach angefangen.“
Keiner der Prozessbeteiligten hatten weitere Fragen an die Gutachterin. Das Gericht übergab den Gutachter Leichsenring eine dicke Verfahrensakte zum Durcharbeiten, es betraf die „Zweidrittel-Entlassung“ des Angeklagten.
Ein langer Weg
Der vierte Verhandlungstag begann mit einer Eröffnung vom Vorsitzenden: „Bevor Herr Leichsenring mit seinem Gutachten beginnt, hat Herr L. noch die Chance, Angaben zu machen.“ An die Zuschauer gewandt, unter denen sich die Mutter und Verlobte des Angeklagten befanden, aber auch die Eltern der Kindesmutter: „Für die Zuschauer: In der Haftaufarbeitung hat Herr L. die Tat der Vorverurteilung zugegeben. Dieses Verfahren ist wasserdicht. Das sage ich nur, weil hier Einige glauben, er hat unschuldig im Gefängnis gesessen.“
Der Angeklagte: „Ich war´s nicht. Wenn ich es gewesen wäre, wäre es ja irgendwann rausgekommen und da hätte ich das Risiko, meine Kinder nicht mehr zu sehen.“ Richter Pröbstel konnte ob der verqueren Denke nicht an sich halten: „Es ist doch rausgekommen!“ Frau Staatsanwältin Jarisch, die sich bisher mit Appellen zurückhielt, sprach den Angeklagten direkt an, sie saßen sich ja genau gegenüber: „Herr L., ich habe schon mit Ihrem Verteidiger gesprochen. Das ist eine goldene Brücke, die Ihnen das Gericht baut. Nutzen Sie das!“
Der Vorsitzende sprach den Angeklagten in bewundernswerter Geduld zum wiederholten Mal mit einem Appell an: „Ich nenne das immer Wasserstandsmeldung. Ich sage Ihnen mal, wo wir stehen: Wenn Sie Frau Gallwitz zugehört haben, dann wissen Sie, dass es nahezu ausgeschlossen ist, das sich Ihr Kind das ausgedacht hat. Im ersten Verfahren haben Sie auch bis zum Schluss abgestritten und erst in der Haft die Tat eingeräumt.“ Richter Pröbstel macht ein sehr ernstes Gesicht, dreht sich nach links und rechts zu seinen Beisitzern um und spricht weiter in Richtung Angeklagten, aber auch in die erste Zuschauerreihe. „Ich nehme meine Fürsorgepflicht Ihnen gegenüber ernst. Es geht jetzt um viel für Sie. Wenn Sie verurteilt werden, geht es um die anschließende Sicherungsverwahrung nach Paragraf 66. Dafür sind Sie mir eigentlich zu jung.“
Der Angeklagte flüsterte mit seinem Verteidiger, dieser wandte sich daraufhin an das Gericht: “Er möchte sich nochmal mit mir beraten!“ Der Richter: „Sie haben alle Zeit der Welt!“
Nach einer halbstündigen Unterbrechung wurde die Verhandlung fortgesetzt. Der Verteidiger erklärte: „Er möchte sein Verteidigungsverhalten ändern, er räumt zwei dieser verbotenen Handlungen ein!“ Auch dem Gericht fiel ein Stein vom Herzen, Richter Pröbstel: „Die Aussagen ändern, das fällt schwer, das weiß ich aus meiner langjährigen Erfahrung. Nach langem Ableugnen hier endlich die Wahrheit zu sagen, dass schaffen nicht Viele, besonders bei der Öffentlichkeit.“ Der Richter deutet durch Kopfnicken in Richtung der Angehörigen in der ersten Zuschauerreihe. Er fragt zum Angeklagten gerichtet nach: „Was ist richtig?“ Der Angeklagte kaum hörbar: „Anfassen, mehr nicht!“ Mit all seiner Erfahrung riss dem Vorsitzenden immer noch nicht der Geduldsfaden: „Wir sind jetzt schon so weit gekommen, sagen Sie die ganze Wahrheit!“ Daraufhin der Angeklagte gequält: „Es war dann so gewesen, aber nur an zwei Tagen.“ Richter Pröbstel fragte dann nach einem konkreten, aber sehr wichtigen Detail der Tatbegehung, der Angeklagte bestätigte auch dies getan zu haben. Der Staatsanwältin schien das augenscheinlich nicht zu reichen, der Richter wandte sich an den Verteidiger, ob diese Aussage als umfängliches Geständnis zu werten sei: „Ja.“ Das reichte dem Gericht.
Das psychiatrische Gutachten
Aufgerufen wurde Wulf Ingo Leichsenring, der Facharzt für Psychiatrie betreibt eine privatärztliche Gutachterpraxis in Jena. Er erstattete ein Gutachten zu Fragen der Schuldfähigkeit des Angeklagten sowie der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß Paragraf 66 Strafgesetzbuch. Die Frage der Schuldfähigkeit spielte von Anfang an keine Rolle, selbst die Verteidigung ging nicht von einer verminderten Schuldfähigkeit aus. Im Grunde war es ein Gutachten zum Bestehen eines Hanges im Sinne von Paragraf 66 Strafgesetzbuch und einer darauf beruhenden Gefährlichkeit des Angeklagten.
Die Bestellung des Gutachters liegt nicht im Ermessen des Gerichts, es ist in Paragraf 246 a Strafprozessordnung geregelt, Paragraf 80 a Strafprozessordnung bestimmt seine weitreichenden Befugnisse. Der Gutachter ist gemäß eines Urteils des Bundesgerichtshofs Gehilfe des Richters. „Er hat den Tatsachenstoff zu unterbreiten, der nur aufgrund besonderer sachkundiger Beobachtung gewonnen werden kann, und das wissenschaftliche Rüstzeug zu vermitteln, das die sachgemäße Auswertung ermöglicht“ (BGH St 7, 238). Schnell wurde deutlich, dass es im Kern um zwei Fragen ging: Besteht beim Angeklagten der Hang zu erheblichen Straftaten? Ist der Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich?
Der Gutachter begann seine Aussage mit der Wertung, dass ohne ein Geständnis seine Einschätzung anders – härter – ausgefallen wäre. Er führte aus, dass der Angeklagte dazu neigt, sein Verhalten zu relativieren, um sich zu entlasten. Er lügt in Situationen, in denen die Wahrheit offensichtlich ist. Zum Tatzeitpunkt war er frei von seelischen Erkrankungen und Bewusstseinsstörungen. Bei ihm ist aber eine markante Persönlichkeitsabweichung festzustellen: Er weißt unkritische, antisoziale Züge auf, die besonders zum Ausdruck kommen, wenn es um die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse geht. Da treten die Belange Dritter zurück. Er sieht beim Angeklagten eine klare pädophile Struktur, eine sexuelle Devianz, die behandlungsbedürftig ist. Diese in ihm innewohnende Fehlverhaltensstörung muss über einen längeren Zeitraum – mindestens zwei Jahre – engmaschig behandelt werden. Herr Leichsenring äußerte sich zufrieden damit, dass der Angeklagte ansatzweise in der Lage ist, sich kritisch mit seiner Tat auseinanderzusetzen. Ganz klar für ihn ist, dass ein Hang vorliegt, solche Taten zu begehen. Es liegt sogar eine Verschlimmerungstendenz vor, vom ersten Fall, auf den er nicht näher eingeht, zum Kind, zur eigenen neunjährigen Tochter. Das dokumentiert das Absinken einer moralischen Hemmschwelle.
Der Gutachter fasste zusammen, dass der Angeklagte seine eigenen Bedürfnisse über soziale Normen Anderer stellt, er in eingeschliffenen Verhaltensmustern agiert, ein Hang zu Begehung solcher Straftaten vorliegt. Ohne eine entsprechende Therapie ist eine Rückkehr in die Gesellschaft nicht möglich, er ist gefährlich.
Der Vorsitzende Richter hat während der Aussagen des Rechtspsychiaters einige Male nachgefragt, nicht, um selbst etwas zu erfahren. Richter Pröbstel schien fachlich in der Materie sehr versiert. Er fragte wegen der beiden Schöffen nach, damit die Gutachteraussagen wirklich verstanden wurden. Am Ende der Vernehmung fasste Pröbstel zusammen: „Herr L. schafft es, sein Umfeld so zu beeinflussen, dass er als netter Kerl gesehen wird. Die andere Seite kennen die Anderen nicht.“ Wen er mit „die Anderen“ meinte, war klar – er schaute in Richtung der Angehörigen des Angeklagten. Der Richter weiter: „Es scheint dem Angeklagten gelungen zu sein, seine Therapeuten in der Haft in seinem Sinne zu manipulieren!“ Darauf Herr Leichsenring: „Ja.“Die letzte Frage des Gerichts an den Gutachter kam wieder vom Vorsitzenden: „Wenn Sie jetzt einschätzen müssten, Paragraf 66 ja oder nein? Der Gutachter klar und eindeutig: „Ja!“
Nachdem die beisitzende Richterin Frau Dr. Steinbrück noch einige Nachfragen zur persönlichen Entwicklung des Angeklagten hatte, vertagte sich das Gericht. Mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung einigte sich das Gericht, das am nächsten (und letzten) Verhandlungstag plädiert und das Urteil gefällt werden soll.
Die Plädoyers
An diesem letzten Tag begann die Verhandlung erst um 11:30 Uhr. Frau Staatsanwältin Jarisch eröffnete ihr Plädoyer erleichtert: „Der Angeklagte ist am letzten Fortsetzungstermin über seinen Schatten gesprungen.“ Sie fasste nochmals die Sachlage zusammen, stellt klar, dass es sich bei dem „über seinen Schatten springen“ – dem Geständnis – nicht um ein Zweckgeständnis handelte. Das Geständnis war glaubwürdig, ist durch die wesentlichen Zeugenaussagen bestätigt, insbesondere durch die Inaugenscheinnahme des Videos der Kindesanhörung. Auch die beiden Gutachter bestätigten die Anklage. Hingegen waren die Aussagen der Verlobten des Angeklagten, Frau Nicole W., unglaubwürdig. Dies haben wiederrum Zeugenaussagen bestätigt.
Die Staatsanwaltschaft sah es durch die Beweisaufnahme als erwiesen an, dass der Angeklagte tateinheitlich in drei Fällen seine zur Tatzeit 9jährige leibliche Tochter schwer sexuell missbraucht hat. Er hat sich somit sowohl des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen als auch des schweren sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht. Sie fasste die Einschätzungen der beiden Gutachter zusammen: Beim Angeklagten bestehen keine Zweifel an seiner Schuldfähigkeit. Bei ihm wurde eine klare pädophile Struktur als Nebenstörung und der Hang zur Begehung gleichartiger Taten festgestellt. Nach Abwägen aller be- und entlastenden Fakten kam sie zu dem Schluss, keine Sicherungsverwahrung zu beantragen, dafür aber eine spürbar lange Freiheitsstrafe zu fordern. Frau Jarisch plädierte für eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren.
Frau Rechtsanwältin Rosemarie Bormann als Nebenklägerin schloss sich inhaltlich dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft an. Sie hielt alle drei Taten für hinreichend bewiesen, besonders auch durch die Aussagen der Kriminalbeamtin Stephanie K., welche dem Gericht anschaulich die erste Vernehmung des Opfers schilderte. Diese Aussage hatte keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kindes gelassen. Frau Bormann verdeutlichte die Opferperspektive: „Vor der Tat war es ein fröhliches und aufgewecktes Mädchen, jetzt hat es Albträume.“ Ursächlich waren auch „…die Reaktionen der Erwachsenen auf die Tat, welche eine völlig neue Bewertung des Kindes zur Folge hatten.“ Die Nebenklägerin stellte die nicht nur rhetorische Frage „Was ist das für ein Täter, der die Zuneigung des eigenen Kindes so missbraucht?“ Die Folgen des Missbrauchs von Zuneigung und Vertrauen sind nicht absehbar, haben oft Spätwirkungen. Frau Bormann beeindruckte mit der Klarheit ihrer Aussagen: „Das Kind hat der Mutter ein ‚Geheimnis‘ verraten. Und was macht der Vater, der Angeklagte? Er versucht, seine Tat zu vertuschen. Er wollte, dass dem Kind Schwindeln unterstellt wird. Damit drückte es aus: Die eigene Tochter ist eine Lügnerin!“
Frau Bormann fasste ihre Ansicht vom Angeklagten bei der Verhandlung zusammen: „Die Nebenklage hat den Eindruck, dass er an den Verhandlungstagen unbeeindruckt auf der Anklagebank saß. Wenn ich ihn so betrachte, habe ich ein unheimliches Gefühl!“
Rechtsanwalt Frank Großstück begann sein Plädoyer mit den Worten: „Es gibt Türen, die lassen sich nur von Innen öffnen.“ Ganz offensichtlich meinte er damit den langen Weg des Angeklagten zum Geständnis. Darüber hinaus sah er nur zwei Tathandlungen als bewiesen an, redete aber ansonsten zu den Fakten nicht herum. Weiter führte er aus: „Er hat mich gebeten, eine Erklärung abzugeben und mich insoweit von meiner Schweigepflicht entbunden. Er hat einen mehrseitigen Brief aus der Haft an seine Mutter geschrieben. Darin versuchte er zu erklären, warum er seinen Angehörigen über die Gründe der ersten Inhaftierung nicht die Wahrheit sagte – aus Scham.“
Der Verteidiger schätzte ein, dass eine Freiheitsstrafe von deutlich unter fünf Jahren angemessen sei und forderte vier Jahre Freiheitsstrafe.
Der Vorsitzende Richter gab den Angeklagten das letzte Wort. Er sagte sehr leise, fast flüsternd: „Ich will so schnell wie möglich eine Therapie beginnen, dass hätte ich bereits nach der ersten Tat machen sollen.“
Das Urteil
Nach zweistündiger Unterbrechung gab die Kammer das Urteil bekannt: Sieben Jahre Freiheitsstrafe wegen zwei tateinheitlichen Fällen von schweren sexuellen Missbrauch und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen. Da die dritte Tathandlung nicht sicher bewiesen werden konnte, wurde er zu diesem Anklagepunkt freigesprochen. Er hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, einschließlich der Kosten der Nebenklage.
Richter Pröbstel begründete das Urteil und sagte: „Wir haben lange mit uns gerungen, ob Sicherungsverwahrung auszusprechen war. Wir haben uns letztendlich dagegen ausgesprochen.“ Zum Angeklagten gewandt: „Die Kammer hat Ihnen hoch angerechnet, dass wir Ihrer Tochter ersparen konnten, hier auszusagen.“
Weiter gab er dem Angeklagten mit auf dem Weg: „Und lassen Sie sich jetzt nicht von irgendwelchen Knastbrüdern einreden, ihr Anwalt hätte Sie nicht gut vertreten. Herr Großstück hat Sie gut vertreten. Er ist ja auch ein sehr erfahrener Mann und schon lange im Geschäft. Mehr war einfach nicht rauszuholen. Die Kammer hatte nie irgendwelche Zweifel an ihrer Schuld!“
Der Vorsitzende Richter wandte sich an den Angeklagten und dessen Verteidiger und fragte nach, ob sie sich schon jetzt zum Urteil äußern wollen. Er machte auf die Möglichkeiten und Risiken einer BGH-Revision aufmerksam. Verteidiger und Angeklagter steckten kurz die Köpfe zusammen, Herr Großstück erklärte dann kurz und knapp für seinen Mandanten Rechtsmittelverzicht. Das erklärten daraufhin auch die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage.
Damit ist das Urteil rechtskräftig.
Richter Pröbstel zum Angeklagten: „Das nötigt mir Respekt ab. Das ist vielleicht der erste Weg der Besserung!“
Es bleibt die Frage, ob und was von den abschließenden Worten des Vorsitzenden beim Angeklagten tatsächlich angekommen war. Er hat das Urteil so aufgenommen, wie er sich die gesamte Zeit über in der Verhandlung gegeben hat: Äußerlich unbeeindruckt. Es war nicht möglich, aufgrund seiner Mimik und Gestik Rückschlüsse auf seine Gefühle, auf sein Denken und Handeln zu ziehen. Die leicht positiven Tendenzen beim Angeklagten, welche die Kammer sah, blieben dem Beobachter verschlossen.
Nach fünf Verhandlungstagen ist eher der Nebenklage Recht zu geben: Es ist irgendetwas Unheimliches am Angeklagten.
(08.04.2019, 11.04.2019 und 02.05.2019, 3. Große Strafkammer am Landgericht Erfurt, Saal E 48)
A.S.