Die Straftat der Freiheitsberaubung ist gemäß Paragraf 239 des Strafgesetzbuches eine Handlung, welche die persönliche Fortbewegungsfreiheit eines Menschen beschränkt. Es wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft, wenn entsprechend Paragraf 239 Absatz 3 „der Täter das Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt“.
Gemessen an der Gesamtkriminalität spielt nach der Häufigkeit die Freiheitsberaubung in Thüringen (und analog in anderen Bundesländern) gemäß der Polizeilichen Kriminalstatistik eine untergeordnete Rolle. Mit durchschnittlich 150 bis 160 bekannt gewordenen Fällen pro Jahr liegt der Anteil an der Gesamtkriminalität in Thüringen in den letzten zehn Jahre bei zirka 0,1 Prozent. Dieses seltene Delikt hat ein geringes Dunkelfeld; das Anzeigeverhalten ist naturgemäß sehr hoch. Die polizeiliche Aufklärungsquote liegt regelmäßig über 90 Prozent. Es handelt sich um ein typisch männliches Delikt, über zwei Drittel der Tatverdächtigen sind Männer.
Das Schöffengericht am Amtsgericht Erfurt hatte am 2. April 2019 eine noch seltenere Begehungsweise zu verhandeln: Angeklagt war der 34jährige Silvio H. aus Erfurt, der als Opfer eines brutalen Überfalls für erhebliche Schlagzeilen sorgte. Die Tat ereignete sich am 16. Februar 2018 kurz vor Mitternacht in der Erfurter Straßenbahn an der Haltestelle am Roten Berg/Zoopark. Eine Gruppe junger Männer hatte an der Bus-Haltestelle in unmittelbarer Nähe der Haltstelle der Straßenbahn herumrandaliert und gegen Scheiben getreten. Silvio H., eben mit der Straßenbahn aus Richtung Innenstadt gekommen, war schon zu Hause, als er bemerkte, keine „Kippen“ mehr zu haben. Er hatte in der Stadt ein paar Bier und „Kurze“ getrunken und wollte nun mit der Straßenbahn zurück bis zur „star“-Tankstelle fahren. An der noch dort stehenden Straßenbahn angekommen, sah er die randalierende Gruppe, stieg beim Fahrer in die Bahn und machte ihn darauf aufmerksam. Quasi unmittelbar danach, im Rücken des Silvio H., kamen die jungen Männer nach und haben ihn dann „durch die Bahn geprügelt“. Anschließend flohen die Täter, zurück blieb Silvio H., er erlitt eine Jochbeinfraktur, die vierte bis achte Rippe war gebrochen.
Die schnell hin zugerufene Polizei nahm seine Aussage auf. Er schilderte den Vorfall und gab eine Beschreibung der Täter ab, wobei er darauf hinwies, dass sich aktiv zwei der fünf jungen Männer an der Körperverletzung beteiligten. Mit dabei – Innenminister Georg Meier: Er begleitete die Nachtstreife. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt sprach er davon, dass einer der Angreifer ein Messer dabei hatte und versuchte, damit in seine Richtung zu stechen. Er kam ins Krankenhaus, wurde stationäre aufgenommen.
Oberstaatsanwalt Stephan Willrich vertrat die Anklage und warf dem Opfer dieser Tat, Silvio H., vor, sich der falschen Verdächtigung und der Freiheitsberaubung schuldig gemacht zu haben. Er soll am nächsten Morgen gegenüber der Kriminalpolizei wahrheitswidrig ausgesagt haben, dass einer der Angreifer mit einem Messer in Richtung seines Oberkörpers gestochen und dabei gesagt habe „Ich steche Dich ab!“.
Die Polizei hatte den betreffenden Täter bereits in der Nacht ermittelt und vorläufig festgenommen. Aufgrund der Zeugenaussagen des Silvio H. wurde gegen den Angreifer ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags eingeleitet. Das ist die direkte Auswirkung auf die falsche Verdächtigung. Die Staatsanwaltschaft beantragte einen Haftbefehl, den der Haftrichter am nächsten Tag erließ. Der damals 19-Jährige wurde in die Jugendstrafanstalt Arnstadt eingewiesen. Dort war er bis zum 27. Februar 2018, knapp zehn Tage, inhaftiert. Das ist die Freiheitsberaubung.
Nach der Anklageverlesung forderte der Vorsitzende Richter, Herr Oliver Friedrich, den Angeklagten auf, sich zu äußern. Richter Friedrich, obwohl schon jenseits der Fünfzig, wirkte jugendlich-fröhlich, war in der ersten Stunde der Verhandlung aber kognitiv überreizt. Ein merkwürdiger, leiser aber permanenter Pfeifton störte nicht nur ihn merklich. Als er endlich die Klimaanlage als Störquelle fand und den Fehler behob, wirkte die Stille im Saal sieben des Erfurter Justizzentrums überaus wohltuend.
Der Angeklagte wurde durch Rechtsanwältin Kati Schreiter vertreten. Sie sprach für ihn. Grundsätzlich räumt er den Sachverhalt ein, gab zu, die Geschichte mit dem Messer erfunden zu haben. Er stellte aber seine Kenntnis der Inhaftnahme des eigentlichen Angreifers, nennen wir ihn Herr W., zeitlich anders dar. Ohne dass es ausgesprochen wurde, war klar, dass er so um den schweren Fall der Freiheitsberaubung herumkommen wollte, wenn er behauptete, dass er nur einen Zeitraum unter einer Woche zu vertreten habe. Dass seine Annahme juristisch irrig war, kann hier außer Acht gelassen werden.
Richter Friedrich bemühte sich gut eine Stunde, zusammen mit Oberstaatsanwalt Willrich, den Angeklagten durch Erläuterungen, das Vorhalten seiner eigenen Aussagen und durch Logik davon zu überzeugen, ein umfassendes Geständnis abzulegen. Silvio H. war aber wenig einsichtig, das Zureden hatte keinen Sinn. Im Konkreten wollte der Richter wissen: „Warum haben Sie das Detail mit dem Messer überhaupt gesagt, wenn es doch nicht stimmte?“
Die Verteidigerin: „Das lag daran, dass er tatsächlich befürchtete, dass ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wird, wegen des Messers. Er wollte, dass gegen die Angreifer tatsächlich etwas gemacht wird und es nicht unter den Tisch fällt.“ Richter Friedrich: „Sie hatten ja mehrere Verletzungen, am Jochbein sind Sie operiert worden. Das ist normalerweise eine gefährliche Körperverletzung, wenn man von einer Gruppe junger Männer so angegriffen wurde. Glauben Sie, die Polizei kehrt sowas unter den Tisch?“ Der Angeklagte, stockend: „Weiß nicht, warum ich sowas gesagt habe.“
Richter Friedrich wurde deutlicher: „Das ist ein Delikt, was auf jeden Fall verfolgt wird. Ich möchte aber von Ihnen wissen: Was haben Sie empfunden, als Sie hörten, dass der Herr W. im Knast saß?“ Der Angeklagte lavierte herum: „Ich konnte nichts empfinden, war gesundheitlich nicht in der Lage dazu.“ Jetzt reichte es dem Richter sichtlich: „Bei der Polizei haben Sie gesagt: ‚Damit er einen ordentlich dran kriegt!‘ Stimmt das so?“ Daran wollte sich der Angeklagte nicht erinnern.
Der Vorsitzende Richter änderte seine Taktik: „Was war der Grund dafür, dass Sie am 27.2. Ihre Aussage revidierten?“ Der Angeklagte: „Die Frau Do. hat dann eindringlich eingewirkt.“ Er meinte die ermittelnde Kriminalbeamtin. Der Richter daraufhin deutlich schärfer: „Man hat Ihnen in dieser Vernehmung vorgehalten, dass Ihre Schilderung nicht stimmen kann. Man hat Ihnen andere Aussagen und eine Videoauswertung vorgehalten. War das der Grund?“ Der Angeklagte, kleinlaut: „Ja.“
Der Richter erläuterte für die Schöffen, dass die polizeiliche Auswertung des Überwachungsvideos der Straßenbahn ergab, dass nicht der Angreifer W. ein Messer in der Hand hielt, sondern Silvio H., das eigentliche Opfer. Zum Angeklagten: „Ihre diesbezügliche Aussage, dass sie während des Angriffs, am Boden liegend, ein Messer in der Straßenbahn gefunden haben, ist sehr unglaubwürdig. Ich kann mir nicht vorstellen, in dieser Situation zufällig ein Messer zu finden. Herr W. streitet auch ab, ein Messer dabei gehabt zu haben.“ Oberstaatsanwalt Willrich ergänzt: „Die DNA-Untersuchung hat ergeben, dass auf dem Messer nur Ihre DNA war, nicht die von Herrn W.!“
Richter Friedrich fasste noch einmal zusammen: „Sie waren das Opfer. Sie sind angegriffen und schwer verletzt worden. Nach jetziger Lage scheint es kaum Zweifel daran zu geben, dass Sie den Messerangriff erfunden haben. Daraufhin ist alles ins Rollen gekommen. Bei versuchtem Totschlag ist viel los bei der Polizei, da geht’s zu wie im Ameisenbau. Da wird alles dran gesetzt. Auch die Staatsanwaltschaft ist auf Hochtouren.“ Der Vorsitzende weiter: „Ihnen wird vorgeworfen, in mittelbarer Täterschaft gehandelt zu haben. Der Richter war der unmittelbare Täter, aber er handelte ohne Schuld. Sie haben ihn durch Ihre Aussage zum willenlosen Werkzeug gemacht.“
Der Vorsitzende sprach daraufhin die Verteidigerin direkt an: „Bei diesem Ermittlungsstand und den Aussagen der Zeugen sowie den Aussagen Ihres Mandanten wäre es das Beste, wenn er ein volles Geständnis ablegt. Ich empfehle Ihnen, sich mit Ihren Mandanten zu beraten!“
Nach kurzer Unterbrechung sagte die Verteidigerin, dass ihr Mandant geständig sei. Er entschuldigte sich nochmals für seine Tat. Der Staatsanwaltschaft genügte dies nicht wirklich, aber Richter Friedrich sagte, dass ihm das reiche. Die geladenen Zeugen, darunter Herr W. und drei Polizeibeamte, brauchten nun nicht mehr vernommen werden, die Beweisaufnahme wurde abgeschlossen.
Oberstaatsanwalt Willrich fasste in seinem Plädoyer nochmals die Anklagepunkte zusammen und forderte eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für den schweren Fall der Freiheitsberaubung, tateinheitlich mit falscher Verdächtigung. Insgesamt ging er von einem minderschweren Fall aus, sodass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Zusätzlich forderte er eine Auflage zur Ableistung von 120 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Der Staatsanwalt macht nochmals deutlich, was hätte passieren können: „Wenn die Polizei nicht so gründlich gearbeitet hätte, wäre das Video vermutlich nicht ausgewertet worden. Oder wenn es gar kein Video gegeben hätte. Dann hätte die Aussage des Angeklagten dazu geführt, dass Herr W. vor dem Landgericht wegen versuchten Totschlags angeklagt und vermutlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden wäre!“
Die Verteidigerin schloss sich dem Plädoyer an. Sie fand die vom Staatsanwalt geforderte einjährige Freiheitsstrafe als zu hoch, machte aber selbst keinen Vorschlag. Sie beantragte eine zweijährige Bewährungszeit für ihren Mandanten.
Nach halbstündiger Beratung wurde das Urteil verkündet. Silvio H. wurde zu zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit beträgt zwei Jahre. Als zusätzliche Auflage muss er 100 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. In der Urteilsbegründung hob der Vorsitzende hervor, dass es sich bei den Handlungen des Angeklagten um schwere Straftaten handele, der „Gesetzgeber hat sich bei der Strafrahmenauswahl etwas gedacht; wenn Jemand einen anderen ins Gefängnis bringt. Das ist schon ein starkes Stück!“
Der Basissachverhalt, die Körperverletzung an Silvio H., ist noch nicht verhandelt, der Termin sollte schon im Januar vor dem Jugendschöffengericht stattfinden, ist aber aufgehoben worden. Richter Friedrich wies darauf hin, dass es bei diesen Verfahren zu einem Wertungswiderspruch kommen kann, das heißt, dass der Haupttäter der Körperverletzung eine geringere Strafe erhält, als Silvio H. im jetzigen Verfahren. Das hängt auch damit zusammen, dass Herr W. sich nach Jugendstrafrecht verantworten muss.
Richter und Staatsanwalt machten bei der Verhandlung eine gute Figur, hervorzuheben ist die kooperative Art der Verhandlungsführung von Richter Friedrich: Er bezog die Schöffen mit ein, ermunterte sie zu Nachfragen, bezog sie auch kommunikativ stets mit ein.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
(02.04.2019 – 09:00 Uhr, Schöffengericht am Amtsgericht Erfurt, Saal 7)
A.S.