Die Vorsitzende Richterin am Amtsgericht Erfurt, Frau Martina Bucke, eröffnete am Dienstag, den 18. April um 9 Uhr zusammen mit ihren beiden Schöffinnen die erste von drei geplanten Sitzungen an diesem Tag. Die Stuhlreihen für die Saalöffentlichkeit waren fast voll besetzt. Fast dachte man, ein besonders prominenter Fall würde verhandelt…
Der 28jährige Angeklagte Emil A. (Name geändert), ein unscheinbarer junger Mann, ließ sich von Rechtsanwalt Stephan Rochlitz vertreten. Und dies tatsächlich, denn der Verteidiger sagte gleich zu Beginn recht resolut, dass sich sein Mandant selbst nicht äußern würde, nur über ihn.
Oberstaatsanwalt Uwe Strewe vertrat die Anklage, er war in Begleitung einer jungen Staatsanwältin, warum, bleib offen. Dies veranlasste die Vorsitzende gleich zu Beginn zu einem lockeren Spruch: „Ah, die Staatsanwaltschaft – gleich in voller Mannschaft!“. So locker blieb es während der gesamten Verhandlung.
Die Anklage war kurz, aber für Außenstehende leider nicht unmittelbar zu verstehen. Erst Stück für Stück wurde der doch ungewöhnliche Fall klarer. Das lag auch an der unorthodox vorgetragenen Anklage, welche mit der Schilderung zu einer Postsendung in einem Fahrradgeschäft in Nürnberg begann.
Entwirrt ergab sich folge Konstellation: Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, vor dem 3. April 2020 – also vor über drei Jahren – im Darknet Betäubungsmittel von einem Unbekannten gekauft zu haben. Die Lieferung ging aber nicht zu seiner Sömmerdaer Adresse, wie auf dem Brief ausgewiesen, sondern zu eben diesem Nürnberger Fahrradgeschäft.
Dort wurde der Brief geöffnet und zwei Tütchen mit Betäubungsmitteln festgestellt. Die hinzugerufene Polizei hat dann die Briefsendung beschlagnahmt und zwei Verfahren eröffnet. Das erste – gegen den unbekannten Versender – verblieb in Nürnberg. Das zweite Verfahren wurde zuständigkeitshalber zur Staatsanwaltschaft Erfurt abgegeben, da der Angeklagte als Adressat angegeben war. Der springende Punkt: Die Briefsendung war unzureichend frankiert und ging so zurück zum vermeintlichen Absender. Der Darknet-Verkäufer hat vermutlich zur Verschleierung seiner Identität diesen Absender angegeben – wie auch immer.
Bei den Betäubungsmitteln handelte es sich um Kokain und Methamphetamin mit einem Marktwert von ca. 1.300 €. Und zwar ein einer seltenen Reinheit, sodass mit entsprechenden Mitteln eine Streckung zum Weiterverkauf wahrscheinlich war. Von daher war auch das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmittel in nicht geringem Mengen angeklagt.
Rechtsanwalt Rochlitz, vor sich ein Notebook mit eingescannter Akte, begann sofort und überraschend: „Mein Mandant bestreitet die Tatvorwürfe. Er hat die Tat nicht begangen. Auch die Tat, weswegen ein Strafbefehl gegen ihn erging, hat er nicht begangen. Er hat den Strafbefehl nur bezahlt, weil er von den Tatvorwürfen gegen ihn erstmals hörte, als eine Mahnung einging, wenn er nicht zahlen würde, müsse er in Haft. Da hat er gemerkt, dass es für einen Einspruch zu spät war. Zuvor hat er davon nichts mitbekommen.“
Und nach kurzer Pause: „Aber ein vorheriger Strafbefehl ist eh ein schwaches Indiz. Sein Briefkasten war seit geraumer Zeit defekt, das hatte er auch dem Vermieter gemeldet. Und dass er Bitcoins gekauft hatte, hat mit dem Tatvorwurf nichts zu tun. Er wollte ein bisschen Geld anlegen, und als das mit der Wertsteigerung nicht gut klappte, hat er sie wieder verkauft. Weitere Einlassung machen wir nicht!“
Trotzdem fragte die Vorsitzende nach: „Auch zum Briefkasten wollen Sie nichts sagen?“
Der Verteidiger: „Sie können uns keine weiteren Aussagen entlocken!“
Richterin Bucke, ohne Emotionen: „Ohne die Bereitschaft zum Antworten machen Fragen keinen Sinn! Können wir erst mal feststellen, ob es so etwas überhaupt gab?“
Sie brachte dann die Anklage in die richtige Reihenfolge und verlas das chemisch-toxikologische Gutachten der Rechtsmedizin zu den beschlagnahmten Betäubungsmitteln: 4,05 Gramm Methamphetamin-Base und 9,57 Gramm Kokain.
Die Vorsitzende suchte etwas in der Akte, Rechtsanwalt Rochlitz fragte nach, schaute in sein Notebook und nannte die richtige Seitenzahl. Anschließend las sie auszugsweise einen Bericht über eine Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten vor, welche am 7. Juli 2021 (!) stattfand, also auch 1 ¼ Jahr nach der Tat! Aber auch schon fast zwei Jahre her…
Bemerkenswert daran war, dass der Bereitschaftspolizei nicht geöffnet wurde, obwohl der PKW des Angeklagten vor der Tür stand. 1 ½ Stunden vergingen mit warten, klingeln, klopfen und telefonieren. Erst als ein Schlüsseldienst gerufen wurde sollte, wurde der Polizei geöffnet. – Nach dieser Zeit macht natürlich eine Durchsuchung wegen Betäubungsmitteln nicht wirklich Sinn! Man fand auch nichts Belastendes. Es wurden zwei Mobiltelefone und ein Laptop sichergestellt. Deren Auswertung – die Vorsitzende suchte wieder die Fundstelle in der Akte, der Verteidiger half wieder aus – brachte auch keine BtM-typischen Erkenntnisse zum Tatvorwurf. Die Beamten bemerkten in ihrem Bericht, dass sich die Wohnung in einem sehr unaufgeräumten Zustand befunden hatte.
Die Vorsitzende: „Da ist die Beweisaufnahme für mich heute am Ende. Vielleicht noch etwas zum Briefkasten?“
Osterstaatsanwalt Strewe: „Das bringt uns jetzt auch nichts. Der Brief war an ihn adressiert. Und das mit den Bitcoins ist ja auch geklärt worden, es ist nun mal ein legitimes Zahlungsmittel. Wir haben Indizien, ob das reicht, werden wir sehen.“
Nach kurzer Unterbrechung verlas die Vorsitzende den Auszug aus dem Bundeszentralregister. Zu Emil A. lag ein Eintrag vor: Er wurde vom Amtsgericht Sömmerda am 29. Juni 2020 wegen versuchten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 15 € verurteilt. Auf Nachfrage bestätigte der Angeklagte, dass es sich dabei um den bereits genannten Strafbefehl handelte.
Richterin Bucke wandte sich an die beiden Staatsanwälte: „Wer von Ihnen plädiert?“
Oberstaatsanwalt Strewe: „Ich habe die Sache eingebrockt, da muss ich sie auch auslöffeln!“
Er erhob sich und nach einer kurzen Pause das wenig überraschende Plädoyer: „Vor drei Jahren, im Frühjahr 2020, wurde das sehr reine BtM von hoher Qualität, streckungsfähig, im Darknet gekauft. Das findet massenhaft statt. Im Darknet muss man natürlich in Vorkasse gehen. Alles andere wäre auch schlecht, wegen Mahnungen usw., bezahlt wird dort üblicherweise in Bitcoin. Der Verkäufer hat die Sendung unzureichend frankiert, deswegen erreichte sie nicht den Empfänger, sondern ging – vermeintlich – zurück. Es gab schon mal eine solche Sendung, deswegen der Strafbefehl.
Zur Durchsuchung: Die Polizei hat 7 Uhr 15 Uhr geklingelt und fast eineinhalb Stunden gebraucht, bis sie rein konnten. Das war in der Corona-Zeit, es war die Bereitschaftspolizei im Einsatz, nicht das eigentlich zuständige Kommissariat 5! Ob der Angeklagte tief geschlafen oder etwas anderes gemacht hat, zum Beispiel das beiseiteschaffen, was ihn belasten könnte, wissen wir nicht. Aufgeräumt hatte er auf jeden Fall in dieser Zeit nicht. Die festgestellten Bitcoin-Mengen, die der Angeklagte besessen hatten, sprechen auch nicht für einen schwunghaften Handel mit Betäubungsmitteln. Auch sonst gibt es keine Anhaltspunkte für einen Handel mit Betäubungsmitteln beim Angeklagten. Dieser bestreitet die Tat komplett. Gegen den Angeklagten spricht seine Adresse auf der Briefsendung, die Vorstrafe und die Bitcoins. Die Adresse könnte jedoch missbräuchlich benutzt worden sein. Wir kennen das aus den 1990er Jahren beim Versandhandelsbetrug.
Das Verfahren ist zu Recht eröffnet worden. Ich muss jedoch ruhigen Gewissens der Meinung sein, dass der Angeklagte die Tat wirklich begangen hat. Das bin ich hier nicht. Ich beantrage deswegen Freispruch.“
Dann wandte er sich an die Gruppe junger Menschen im Saal, die fast alle Plätze besetzten: „Wenn Sie Lust und Laune haben, unterhalte ich mich gerne nachher mit Ihnen!“
Die Vorsitzende verkündete nach kurzer Pause das Urteil: Freispruch. „Der Tatvorwurf war das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen. Das ist ein Verbrechenstatbestand mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Wenn wir keine Möglichkeit haben, weiter zu ermitteln, dann geht das zu Gunsten des Angeklagten.“ Zum Verteidiger gewandt: „Das alles im Zwischenverfahren zu klären, da hätten wir heute vielleicht nicht hier gesessen!“
Der Staatsanwalt erklärt Rechtsmittelverzicht, damit erlangte das Urteil Rechtskraft.
Jedoch sprach die Vorsitzende den Angeklagten direkt an: „Herr A., Sie sind derjenige, der weiß, ob das Urteil richtig ist, oder nicht. Es ist kein Freispruch zweiter Klasse. Aber dieses Urteil sollte Sie eventuell dazu bringen, darüber nachzudenken, ob alles so richtig ist, und wenn nicht, sollte Sie die Gunst der Stunde nutzen!“
Auch sie sprach die Gruppe der jungen Leute an, wie sich herausstellte, waren es BeamtenanwärterInnen der Zollverwaltung, und bot sich für ein anschließendes Gespräch an. Die neue Aus- und Fortbildungsstätte der Zollverwaltung in Erfurt belebt auch die Gerichtssäle.
Das zukünftige Zollbeamten in der Ausbildung eine Gerichtsverhandlung besuchen – toll!
A.S. 18.04.2023, Schöffengericht