Als am 19.01.2020 Richter Götz als Strafrichter beim Amtsgericht Weimar den damaligen vom Dienst suspendierten Polizeikommissar Tino M. wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen á 40 € verurteilte, war klar, dass es eine Berufungsverhandlung geben würde („Sagen Sie das Gesetz!“).
Nicht klar war, dass die damals ebenfalls verhandelten, aber abgetrennten Tatvorwürfe, eine vorsätzliche Körperverletzung, tateinheitlich mit Hausfriedensbruch, immer noch nicht terminiert waren. Hier muss das Amtsgericht Weimar noch aktiv werden. Einfach wird das nicht, wie die Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Erfurt zeigte.
Die Vorsitzende Richterin der 9. Strafkammer am Landgericht Erfurt, Anja Biermann, und ihre beiden Schöffen begannen leicht verspätet. Das gab einen weiteren „Prozessbeobachter“ die Möglichkeit, an der Verhandlung teilzunehmen. Er wollte eigentlich zu einer anderen Verhandlung, irgendetwas ging aber schief. Da es in dieser öffentlichen Hauptverhandlung recht locker und kommunikativ zuging, entspann sich zwischen uns ein interessantes Gespräch, denn er interessierte sich für eine Tätigkeit als Schöffe und wollte sich informieren. Die Schöffenwahl 2024 ist, wie in der ganzen Bundesrepublik, auch in Thüringen in Vorbereitung.
Zur Einfachheit wird hier aus einer Broschüre des Thüringer Justizministeriums zitiert: „Die Wahlvorbereitung findet ganz wesentlich bei den Gemeinden und Jugendämtern statt, da sie die Vorschlagslisten mit den Kandidaten für die Neuwahlen im Frühling bis spätestens Mitte Juni 2023 aufstellen. […] Dabei sind zwei verschiedene Vorschlagslisten zu unterscheiden, die sich aus den Einsatzfeldern als Erwachsenen-Schöffe oder Jugendschöffe ergeben. Die Gemeinden stellen die Vorschlagslisten für die Wahl der Erwachsenen-Schöffen auf. Die Jugendhilfeausschüsse der Landkreise bzw. der kreisfreien Städte stellen die Vorschläge für die Jugendschöffen zusammen.“
Mein Gesprächspartner, ein sympathischer junger Mann Mitte dreißig, wollte bei einer Gerichtsverhandlung feststellen, ob dies etwas für ihn sei. Wie sich während des Gespräches zeigte, war er bereits sehr gut informiert, er erfuhr aber auch Neues.
Zunächst musste er sich in die Berufungsverhandlung hineinversetzen. Und die begann mit einem Novum: Der Angeklagte war nicht anwesend und es wurde trotzdem verhandelt. Die eigentliche Anwesenheitspflicht des Angeklagten während der öffentlichen Hauptverhandlung ist mehrfach geregelt. Es gibt aber Ausnahmen. Im vorliegenden Fall erklärte die Vorsitzende Richterin, befinde sich der Angeklagte in Panama. Auf eine Ladung des Angeklagten wurde verzichtet, weil er mit einer Vollmacht seinen Rechtsanwalt, Herrn Stefan Böttcher, mit seiner Vertretung beauftragt hatte (§ 234 StPO – Vertretung des abwesenden Angeklagten). Dies hatte auch die Staatsanwaltschaft akzeptiert. Die Anklage war vertreten durch Staatsanwältin als Gruppenleiterin Jacqueline Neuland. Die Verteidigung legte auch eine Zustellungsvollmacht des Angeklagten vor.
Richterin Biermann wies den Verteidiger darauf hin, dass es in allen Phasen der Hauptverhandlung deutlich werden müsse, in welcher Rolle er in dieser ungewöhnliche „Personalunion“ agiere, als Verteidiger oder als Angeklagter. Einfach geht anders.
Die Vorsitzende machte eingangs deutlich, dass es ihr am liebsten wäre, wenn beide Seiten jeweils ihre Berufungen zurücknehmen würden und so das Urteil vom Amtsgericht Weimar Rechtskraft erhielt. Davon wollte aber weder die Staatsanwältin noch der Verteidiger etwas wissen.
Alsdann wurden die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten erfragt: Tino M. ist mittlerweile aus dem Polizeidienst entlassen und in Panama ansässig. Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, ist verheiratet und betreibt mit einem Kompagnon als Selbstständiger einer Firma für Brunnenbohrungen.
Die Richterin wollte wissen, wo genau der Angeklagte in Panama wohnt. Das konnte Rechtsanwalt Böttcher nicht sagen. Sie stehen via Internet in Kontakt bzw. sie telefonieren. Notwendigen Schriftwechseln versenden sie per E-Mail. Dies genügte der Richterin nicht, sie verlangte eine ladungsfähige Anschrift, auch, weil die 5. Strafkammer des Landgerichts Erfurt im Urteil vom 15.11.2022 als einzige Weisung eine Meldeauflage erlassen hat – unverständlicherweise – wie die Richterin kommentierte. Üblich ist die Weisung nach Paragraf 56b Absatz 1 StPO, jeden Wohnsitzwechsel unverzüglich mitzuteilen. In dieser Sache kam das Gericht aber nicht weiter. Sie hatte aber die Akten der 5. Strafkammer dabei, so, wie sie auch die anderen Akten zu Tino M. beigezogen hatte.
Weiter im Verfahren erklärte die Richterin, dass es keine Gespräche über eine Verständigung gab.
Wie bei Berufungsverhandlungen vorgeschrieben, wurde das angefochtene Urteil verlesen. Der Angeklagte hatte am 30. April 2020 auf seinem Facebook- Account ein Bild mit einem Mund-Nasen-Schutz, auf dem sich großflächig ein Hakenkreuz befand, gepostet. Dies war bis mindestens 1. Juni 2020 so zu sehen. Das Amtsgericht verurteilte den seit Mitte 2018 vom Dienst suspendierten Polizeikommissar zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen á 40 €.
Die Staatsanwaltschaft legte gegen dieses Urteil Berufung ein und beschränkte diese Berufung auf die Rechtsfolge. Sie begründete diese Berufung mit der Uneinsichtigkeit des Angeklagten, dies habe sich aus der damaligen Hauptverhandlung ergeben; sie fand eine Verurteilung zu einer kurzen Freiheitsstrafe für tat- und schuldangemessen. Die Verteidigung hatte eine nicht beschränkte Berufung eingelegt.
Rechtsanwalt Böttcher argumentierte in seiner Einlassung als sein eigener Mandant wie gewohnt polemisierend: „Ist dieses Bild wirklich strafbewährt? Das ist eine Rechtsfrage! Das Urteil des Landgerichts Erfurt ist rechtskräftig und auch gesamtstrafenbildungsfähig. Das OLG Frankfurt und Saarbrücken sieht das verwendete Bild ebenso wie ich, leider sind die Urteile noch nicht veröffentlicht. Wir müssen uns in die damalige Situation hineinversetzten. Das ging unter dem Motto ‚Wehret den Anfängen!‘“
Der von Ovid (43 v. Chr. bis um 18 n. Chr.) stammende Satz wurde viele Jahre für die Gefahr des Erstarkens rechtsradikaler Kräfte verwandt und seit einiger Zeit von Corona-Leugner, Querdenkern, sogenannten Reichsbürgern und AfD-Anhängern vom ursprünglichen gesellschaftspolitischen Kontext gelöst benutzt. Gegen welche Anfänge man sich wehren soll, wird offengelassen. Argumentieren und disputieren ist ihre Sache nicht. Was ist ihre Sache? Krude Behauptungen aufstellen, zum Beispiel, nicht frei zu sein, nicht sagen zu können, was man denkt, falsche oder stark vereinfachende Theorien verbreiten, und dass alles mit dem Ziel, die politische Stimmung anzuheizen und die Demokratie zu schwächen.
Der Verteidiger eiferte weiter: „Wir haben uns in dieser Zeit weit entfernt von dem, was Demokratie ausmacht! Hier wird mein Mandant verfolgt, der genau das Gegenteil von dem wollte, was ihm vorgeworfen wurde. Und der Cum-Ex-Kanzler geht straffrei aus!“
Ob er sich hier in einem obskuren Zeitgeist gefällt, seine eigene Meinung oder seinen sonst ähnlich schwadronierenden Mandanten vertritt, bleibt offen. Im misslichsten Fall alles zusammen.
Der Vorsitzenden war dieses Geschwurbel auf jeden Fall zu viel: „Was hat das mit Masken zu tun?“
Böttcher: „Die Masken waren ein Maulkorb und er hat es entsprechend der Sozialadäquanzregel verwendet!“
Aha. Er meinte sicherlich Sozialadäquanz-Klausel in Paragraf 86a Absatz 3 in Verbindung mit Paragraf 86 Absatz 4 StGB. Demnach greift der Tatbestand nicht, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.
Die Richterin: „Das hat mit der Sozialadäquanz-Klausel nichts zu tun. Hier besteht der Zusammenhang zwischen der Verwendung des Hakenkreuz-Maskenbildes, dem Hausfriedensbruch im Einkaufsmarkt und der Körperverletzung gegen die Verkäuferin.“
Vorsichtshalber meldete sich Staatsanwältin Neuland zu Wort: „Auf keinen Fall stimme ich einer Einstellung des Verfahrens nach 154 zu!“
In einer der häufigen kurzen Sitzungspausen hörte wohl Rechtsanwalt Böttcher, dass sich im hinteren Teil des Sitzungssaales das Gespräch um eine mögliche Schöffentätigkeit drehte. Ungefragt mischte er sich ein: „Es kann schon mal sein, dass sich eine Verhandlung vor dem Landgericht über 12 oder 15 Termine hinzieht, so wie gerade aktuell, wo ich in einem Verfahren tätig bin und schon mehrere Schöffen verschlissen wurden.“
Für den zukünftigen Schöffen war es sicherlich hilfreich, einen Verteidiger der anderen Art in Aktion zu erleben.
Richterin Biermann machte deutlich, dass sie die Veröffentlichung des Bildes auf jeden Fall für strafbar hielt. Sie sah keinen Platz für eine Einstellung des Verfahrens, noch dazu, da ihrer Meinung nach die Tagessatzhöhe des Amtsgerichts Weimar recht großzügig für den Angeklagten angesetzt war und regte erneut eine beidseitige Rücknahme der Berufung an.
Rechtsanwalt Böttcher heulte förmlich auf: „Mein Mandant lebte damals bereits in Trennung, war unterhaltspflichtig für drei Kinder. Mittlerweile haben die Verfahren gegen ihn dazu geführt, dass die Familie zusammengebrochen ist, er Privatinsolvenz anmelden musste und in Panama erst sein Geschäft neu aufbauen muss. Zurzeit hat er dort einen Verdienst von 1.500 €.“
Staatsanwältin Neuland war völlig unbeeindruckt: „Die Tagessatzhöhe wird dem Unrechtscharakter der Tat nicht gerecht. Und zu den Unterhaltszahlungen des Angeklagten muss erst mal festgestellt werden, seit wann er wieviel Unterhalt tatsächlich zahlt!“
Der Verteidiger schwieg – und das passiert selten. Volltreffer, Frau Staatsanwältin!
Die Richterin zitierte aus Entscheidungen des OLG Braunschweig, welches Freisprüche wegen eines Impfpasses mit Hakenkreuz aufgehoben hatte und wiederholte ihre Anregung zur wechselseitigen Berufungsrücknahme.
Rechtsanwalt Böttcher schwieg wieder – mit konkreten juristischen Argumenten hat er es nicht so…
Sonst wäre ihm die einschlägige Braunschweiger Entscheidung des 1. Strafsenats vom 05.10.2022 bekannt gewesen und er hätte nicht mit angeblich noch nicht veröffentlichten anderslautenden Urteilen herumschwadronieren müssen. Und ja, es ist eine Rechtsfrage, um eine „Kernaussage“ des Verteidigers wieder aufzunehmen. Und diese Rechtsfrage ist beantwortet! Und wer möchte, hier kann man es nachlesen!
Nach Unterbrechungen und jeweiligen Telefongesprächen nahmen sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung die Berufung zurück, somit war das Urteil des Amtsgerichts Weimar rechtskräftig.
Die beiden Schöffen hatten während dieser Berufungsverhandlung eine sehr passive Rolle. Das hatte keine abschreckende Wirkung, denn mein Gesprächspartner sagte zum Abschied: „Meine Bewerbung ist fertig, ich werde sie abschicken.“
A.S.
10.03.2023, Landgericht Erfurt, 9. Strafkammer, Sitzungssaal 2.02