Einen besseren Verteidiger hätte er nicht haben können!

Rechtsanwalt Böttcher (rechts) mit seinen Mandanten Tino M. (Bildrechte: www.gerichtsalltag.de)

Um es vorweg zu nehmen: Damit ist nicht die Verteidigung des Angeklagten gemeint!

In aller Regel schildert der Gerichtsreporter den Verlauf einer Verhandlung, beschreibt das Handeln der Akteure, blickt zurück auf die Tat, die Opfer, den verursachten materiellen oder immateriellen Schaden, die Zeugen. Er ist Beobachter, gibt den Leser einen Einblick in den Gerichtsalltag. Die eigene Meinung bleibt hinter der Chronistenmeinung zurück.

Damit breche ich hin und wieder, wenn die Umstände mehr als ein kommentierendes Beobachten verlangen. Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn: Unerfreulicherweise muss hier von einer Gerichtsverhandlung berichtet werden, bei welcher sich alle beteiligten Organe der Rechtspflege wahrlich nicht mit Ruhm bekleckerten. Ja – mehr noch – es war und ist eine Schande für die Thüringer Strafjustiz!

Am Montag, den 15. November 2021 fand ab 9 Uhr die Berufungsverhandlung gegen den Polizeikommissar der Polizeiinspektion Weimar, Tino M., vor der 5. Strafkammer des Landgerichts Erfurt statt. Das Schöffengericht beim Amtsgericht Weimar hatte ihn am 19. Februar 2021 nach vier Verhandlungstagen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahre ohne Bewährung verurteilt, siehe dazu die entsprechende Gerichtsreportage. Gegen dieses Urteil legte sowohl die Staatsanwaltschaft Erfurt als auch der Angeklagte Berufung ein. Staatsanwältin Hetzer hatte in Weimar in ihrem ausführlichen Plädoyer eine wesentliche höhere Freiheitsstrafe – drei Jahre und neun Monate – beantragt. Die Verteidigung forderte Freispruch.

Zurück vor das Landgericht Erfurt. Der Angeklagte wurde wieder durch Rechtsanwalt Steffen Böttcher vertreten, die Anklage vertrat diesmal Staatsanwältin Katrin König, da Frau Hetzer zwischenzeitlich zur Generalstaatsanwaltschaft wechselte. Leider.

Wie auch bei der Vorinstanz, waren auch diesmal zahlreiche Medienvertreter anwesend, wurde der Platz für die Saalöffentlichkeit rar. Im Thüringen-Journal des mdr kam am gleichen Abend ein Beitrag mit den irreführenden Titel „Berufungsurteil: Haftstrafe für Polizisten gekippt“.

Aber ja, das Urteil fiel erschreckend milde aus: Ein Jahr und neun Monate Freiheitsstrafe, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde. Daneben als Bewährungsauflage die obligatorische Meldeauflage, sonst nichts. Das war‘s.

Als erstes fällt auf: Wenn eine Verurteilung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung durch die Staatsanwaltschaft mittels Einlegen einer Berufung angegriffen wurde und nach knapp drei Stunden Verhandlung eine deutlich geringere Freiheitsstrafe steht, noch dazu ausgesetzt zur Bewährung, da muss doch etwas schief gelaufen sein. Denn, wie gesagt, in der Erstinstanz wurden drei Jahre und neun Monate beantragt! Und wenn schon Bewährung, dann doch bitte mit Auflagen. Paragraph 56b StGB wird durch Gerichte oft kreativ angewandt, um der Genugtuung für das begangene Unrecht zu dienen.

Es gab aber noch eine ganze Reihe anderer Auffälligkeiten.  Da verwunderte zunächst, dass für diese Hauptverhandlung keine Zeugen geladen waren. Dann hatte das Gericht bereits am gleichen Tag für 13 Uhr den Termin einer anderen Strafsache geplant. Das muss im Vorhinein nichts bedeuten, man kann ja mehrere Verhandlungstermine planen – dies lag aber hier nicht vor. Was hatte Richter Steinmaier vor? Das wurde schnell klar.

Die Berufungsverhandlung eröffnete er pünktlich und machte auch klar: „Zeugen sind nicht geladen, dazu nachher später.“ Das empfand der Beobachter als düstere Andeutung – sollte hier wirklich gedealt werden? Steinmaier erhob recht unkonventionell die persönlichen Angaben des Angeklagten. Zum Familienstand sagte Tino M.: „Noch verheiratet, leben in Trennung seit dieser Sache.“ Zum Beruf als Polizeibeamter befragt, sagte der Angeklagte: „Noch bin ich das.

Dann gab der Vorsitzende zu Protokoll, dass es keine Verständigung gegeben habe. Jedoch habe der Verteidiger sich vor der Verhandlung an das Gericht gewandt, mit dem Wunsch einer Verständigung. Dies habe das Gericht auch der Staatsanwaltschaft mitgeteilt. Der Vorsitzende: „Es gab keine Verständigung, jedoch kann dies im Anschluss Thema eines Rechtsgesprächs sein.“ Daher wehte der Wind! Es lief auf eine Verfahrensabsprache hinaus – das hatte also der Vorsitzende vor.

Alsdann begann er mit dem auszugsweisen Verlesen des erstinstanzlichen Urteils. Unnötigerweise begann er mit einem Kommentar: „Die Tatsachenfeststellung ist recht umfangreich. Dafür ist die Beweisführung relativ kurz ausgefallen.“ Dies sagte der Vorsitzende mit einem kleinen Lächeln in Richtung des Angeklagten. Zurückschauend hatte dieses Lächeln fast etwas Komplizenhaftes. Es begannen sich die Nackenhaare zu sträuben…

Warum kritisiert der Vorsitzende vor dem Verlesen des Urteils in einer solchen Weise das Urteil? War es so schlecht? Und in welcher Weise? Was heißt umfangreiche Tatsachenfeststellung? Das Schöffengericht unter der Vorsitzenden Richterin Inez Golski hatte nach gründlicher Anklage 35 einzelne Fälle strafbaren Verhaltens des Angeklagten in einem Zeitraum von einem Jahr aufgeführt. Ja, die Tatsachenfeststellung war umfangreich – aber nur, weil die Straftaten des Angeklagten so umfangreich waren. Und diese aufzuführen, war dem Untersuchungsgrundsatz des Paragraph 244 Absatz 2 Strafprozessordnung und dem Rechtsstaatsprinzip geschuldet. Dies von einem Vorsitzenden Richter eines Landgerichts zu kritisieren, ist zumindest befremdlich. Und die Beweisführung, die angeblich „relativ kurz ausgefallen“ war? Dazu führte Herr Steinmaier nichts aus, verlas sie auch nicht, ging darüber hinweg.

Als anwesender Beobachter bei der Urteilsverkündung der Erstinstanz: Die mündliche Urteilungsbegründung war umfangreich und schlüssig, sowohl in der Tatsachenfeststellung, als auch in der Beweiswürdigung. Das lag und liegt auch daran, dass umfangreiches Beweismaterial zu jeden einzelnen Fall vorlag. Am Ende dieser kurzen Verhandlung führte Richter Steinmaier zur Strafwürdigung der einzelnen Fälle durch das Weimarer Schöffengericht aus: „Die jeweiligen Einzelstrafen der Erstinstanz hält das Gericht nach Würdigung in jedem einzelnen Fall für tat- und schuldangemessen.“ Das klang ganz anders. Und rückte die kritisierenden Bemerkungen am Urteil zu Beginn in ein noch übleres Bild: Er hatte am Urteil nichts auszusetzen, im Gegenteil, er würdigte es. Aber er machte dagegen Stimmung!

Beim monotonen Verlesen der durchnummerierten 35 Fälle hat sich Richter Steinmaier mindestens ein Dutzend Mal verlesen oder versprochen. Er schaute ständig auf das Papier, machte auch keine kleinen Sprechpausen. Diese wären angebracht gewesen, auch, um hin und wieder den Angeklagten anzusehen. Schließlich ging es um ihn und um die Einschätzung, wie er nach einem dreiviertel Jahr nach dem Urteil zur Sache steht. So hat der Richter den Moment verpasst, in welchem sich der Angeklagte so zeigte wie er sich vor dem Amtsgericht Weimar gebärdete, sich so zeigte, wie er wirklich war. Denn: Beim Verlesen einer von ihm stammenden Chat-Nachricht, in welcher er seiner Bekannten, der er Dienstgeheimnisse verraten zweigte, hatte, über einen Polizeibeamten der Polizeiinspektion Weimar schrieb: „…da gibt es einen anderen Chef, der ist bescheuert“ lachte er zustimmend in die Runde. Ein sehr unangenehmes und immer noch zustimmendes Lachen. Teils höhnisch, teils überheblich. Dafür hatte der Vorsitzende keinen Blick…

Er unterbrach dann die Verhandlung, weil ein CO2-Warnmelder am Platz der Gerichtsprotokollantin signalisierte, dass als Corona-Schutzmaßnahme unverzüglich gelüftet werden müsse. Der Richter macht die unpassende Bemerkung: „Ansonsten geht ein Warnton an, dem können wir uns nur entziehen, indem wir uns auf den Boden werfen.“ Sollte wohl lustig sein – merkwürdiger Humor. Jedoch ein Anwesender hat wohl ein ähnliches Komikempfinden, Rechtsanwalt Böttcher: „Wie in der DDR beim Atomalarm.“ Niemand fand das sonst lustig.

Als es dann weiterging, sagte der Verteidiger, dass es noch zwei kleinere Verfahren gegen seinen Mandanten gebe und fragte, ob noch etwas anderes gegen ihn vorliege. Da hätte er natürlich auch seinen Mandanten fragen können, naja. Staatsanwältin König reagierte. Zwei Strafverfahren gegen ihn habe die Staatsanwaltschaft Erfurt verbunden und am 28.04.2021 Anklage beim Amtsgericht Weimar erhoben. Einmal wegen einer Straftat gem. Paragraph 86a Strafgesetzbuch (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) in Zusammenhang mit einer Sache, bei der einen „Judenstern“ mit der Aufschrift „ungeimpft“ eine Rolle spielte (siehe NS-Vergleiche: Relativieren und dämonisieren) und eine Körperverletzung. Bei der Körperverletzung soll es sich um eine Tat gehandelt haben, bei welcher Tino M. eine Verkäuferin an der Gesundheit schädigte, weil sie ihn aufforderte, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, wie der mdr berichtete. Hier ist vor dem Amtsgericht Weimar am 19. Januar 2022 die Hauptverhandlung terminiert. Ansonsten habe die Staatsanwaltschaft noch ein Verfahren gegen ihn vorläufig eingestellt, in Erwartung des Urteils in dieser Sache. Dieses Verfahren kann aber, so Frau König, jederzeit wieder aufgenommen werden.

Unschuldsvermutung hin oder her: Sagen schon allein die angeklagten Sachverhalte nichts über den Angeklagten und sein Verhältnis zum Rechtsstaat aus? Und noch dazu als Polizeibeamter?

Vom Empfinden hatte eine wirkliche Hauptverhandlung immer noch nicht begonnen, und es waren schon eineinhalb Stunden vorbei.

Richter Steinmaier begann dann einen seltsamen Monolog, als er über „Strafen  hinter den Strafen“ sprach. Er meinte damit die private Situation des Angeklagten, bei dem wohl eine Scheidung anstehe? Und dienstlich hat er ja mit seiner Entlassung zu rechnen, und damit verbunden mit dem Verlust seiner beamtenrechtlichen Versorgung. Darauf der Angeklagte: „Ich habe jetzt 23 Jahre gearbeitet, und ich würde keine Rente erhalten?“ Es folgte eine laienhafte juristische Beratung des Vorsitzenden zu beamtenrechtlichen Versorgungsfragen in Folge einer Entlassung aus dem Beamtenverhältnis, völlig fehl am Platz, völlig unnötig. Die konkreten Details erspare ich den Lesern.

Dann kam Rechtsanwalt Böttcher zu Wort. Zu was, war unklar. Er sagte einfach etwas. Worüber? Das lässt sich schwer schildern, er schwadronierte – frei vom Benennen etwaiger Rechtsquellen – rund um sein Lieblingsthema: Seinen Mandanten ist Unrecht geschehen. Und: Eigentlich geht es hier um Rechtsfragen! Oh, da wäre wohl keiner darauf gekommen! Eigentlich hat sein Mandant schon vor dem Amtsgericht alles eingeräumt. Böttcher: „Es kommt ja  bei einem Geständnis nicht darauf an, den Tatbestand einzuräumen. Dass er zugegeben hat, dass er die Chatnachrichten geschrieben hat, war immer klar. Bloß er hat es aus einem anderen Grund getan. Er wollte helfen. Und er hat ermittelt, mit Erfolg, sonst gäbe es die Verhaftungen nicht.“ Tja, als beim Studium der Rechtswissenschaften Strafrecht dran war, hatte Herr Böttcher vielleicht Schnupfen…

Dann kommt er auf das Urteil zu sprechen: „Wenn ich da jetzt im Zuhören mitlese, da kommt das wieder hoch. Also, dass er sein Schlusswort genutzt hat, das ist von der freien Meinungsäußerung gedeckt, dass er da nicht besonders klug war, ist klar, aber das darf nicht in dem Maße so gewertet werden, dass er keine Bewährung mehr bekommt.

Da sich der Richter auf ebendieses Niveau einließ, verging nochmals  eine viertel Stunde, die so klang, als führten der Verteidiger und der Richter ein Rechtsgespräch. Es ging – zwischen den Zeilen – um die Bedingungen, unter denen eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden können. Unter anderen führte der Richter ohne konkreten Zusammenhang aus, dass man ja dankbar sein müsse, wenn es in Berufungsverhandlungen zu Einigungen komme, da der Rechtsstaat chronisch überlastet sei. Die Zuhörer konnten es kaum glauben, blickten sich ungläubig an.

Dann der Verteidiger zum Richter: „Wissen Sie, wie es einem Polizisten im Strafvollzug ergeht? Wo er auf Leute trifft, die er reingebracht hat?“ Das war natürlich nur eine rhetorische Frage, genauso, wie er seinen Mandaten über seine gesamte Dienstzeit hinweg als untadeligen Beamten darstellte.

Die ihm zur Last gelegten Straftaten, um die es in der Berufungsverhandlung ging, immerhin 35 Fälle in einem Jahr,  blieben natürlich unerwähnt. Rechtsanwalt Böttcher strickte weiter an dem Bild eines zu Unrecht verurteilten Polizeibeamten, der immer nur nach Recht und Gesetz gehandelt hatte.

Dass der Angeklagte mittlerweile wegen zwei weiteren Straftaten angeklagt wurde, eine weitere nur vorläufig eingestellt war – Schwamm drüber.

Jedoch: Wer die Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht verfolgt hat, musste über die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten hinaus erhebliche Zweifel an seiner dienstlichen Lauterkeit haben. Dies begründet sich ausschließlich mit seinen eigenen Aussagen, dazu hatte ich bereits berichtet.

Richter Steinmaier ließ sich wohl beeindrucken, war vielleicht auch von vornerein beeinflusst. Das offene Feilschen ging weiter, Böttcher wollte eine „Gesamtlösung“, womit er sowohl die gerade stattfindende Berufungsverhandlung, als auch die beiden offenen Verfahren meinte. Das dies juristisch unmöglich war – egal.

Staatsanwältin Katrin König (Bildrecht bei www.gerichtsalltag.de)

Währenddessen schaute Staatsanwältin König – offensichtlich genervt – mehrfach auf ihre Uhr und sagte: „Ich habe schon einen Vorschlag, aber den will ich in einem Rechtsgespräch unterbreiten.“ Davon ließen sich Steinmaier und Böttcher nicht irritieren und redeten weiter, bis dann die Frage kam, ob man ein Rechtsgespräch machen wolle. – Ja.

Die Hauptverhandlung wurde dann doch für 45 Minuten unterbrochen. Richter, Staatsanwältin und Verteidiger kamen ohne die beiden Schöffen zu einem Rechtsgespräch zusammen.

Im Gerichtssaal zurück, gab der Vorsitzende eine Erklärung zu Protokoll: Es hat ein Rechtsgespräch stattgefunden. Die Schöffen sind von ihm informiert. Er gab die Eckpunkte einer Verfahrensabsprache bekannt. Erstens: Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung beschränken die Berufung auf die Rechtsfolgen. Zweitens: Der Strafrahmen einer Freiheitsstrafe liegt zwischen 1 Jahr, 9 Monaten und 2 Jahren, 3 Monaten Freiheitsstrafe. Drittens: Das Gericht erwartet eine Prozesserklärung des Angeklagten. Viertens: Zu den beiden offenen Verfahren wegen 86a und Körperverletzung gab es keine Übereinkunft.

Daraufhin stimmen sowohl die Staatsanwältin als auch der Verteidiger zu.

Richter Steinmaier schloss daraufhin die Beweisaufnahme. Da muss man sich fragen: Welche Beweisaufnahme?

Und überhaupt, was war das für eine Berufungshauptverhandlung? Paragraph 324 Strafprozessordnung  regelt den Gang der Berufungshauptverhandlung. Die Berufungskammer hat die vorausgegangene Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, nicht nur, wie bei einer Revision, das Prüfen, ob Rechtsfehler vorliegen. Zuerst hat der Richter nach Eröffnung des Hauptverfahrens einen Vortrag über den Gang des bisherigen Verfahrens zu halten. Dann wird das erstinstanzliche Urteil verlesen, soweit es für die Berufung von Bedeutung ist. Anschließend wird der Angeklagte vernommen und es beginnt die Beweisaufnahme (§ 324 Abs. 2 StPO). Soweit die Vorschrift. Warum ein Vorsitzender Richter eines Landgerichts davon stark abwich und die Staatsanwältin dabei tatkräftig mithalf, bleibt im Dunkeln.

Ja, so ging es also mit den Plädoyers weiter, Staatsanwältin König machte kurzen Prozess: „Nachdem der Schuldspruch feststeht, ist nur noch über die Strafzumessung zu entscheiden. Zu Gunsten des Angeklagten ist zu werten, dass die Beschränkung auf die Rechtsfolgen wie ein Geständnis zu werten ist. Zu Lasten des Angeklagten steht die Vielzahl der Taten. Ich beantrage eine Gesamtstrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe. Die entscheidende Frage ist: Bewährung ja oder nein.“ Dann sprach sie sich ohne langwierige Begründung zu einer Strafaussetzung auf Bewährung aus, darüber hinaus beantragte sie eine Bewährungszeit von drei Jahren und – wie schon in der ersten Instanz – die Einziehung des Mobiltelefons.

Rechtsanwalt Böttcher beantragte erwartungsgemäß 1 Jahr und 9 Monate Freiheitsstrafe, welche natürlich zur Bewährung ausgesetzt werden solle, die Bewährungszeit setze er ins Benehmen des Gerichts.

Der Angeklagte erhielt die Möglichkeit zum Schlusswort. Er stand auf, holte aus, sagte dann aber, dass er aus der letzten Verhandlung gelernt habe und nichts weiter zu sagen habe und setzte sich wieder.

Nach halbstündiger Verhandlungspause verkündete der Vorsitzende das Urteil: Ein Jahr und neun Monate Freiheitsstrafe, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde, keine Bewährungsauflagen, außer die schon genannte Meldeauflage. Die Kostenentscheidung, sonst eher ein wenig interessantes Anhängsel, soll hier näher betrachtet werden. Steinmaier reduziertes kraft seines Amtes die Berufungskosten um die Hälfte. Der Angeklagte trägt ¾ der Berufungskosten, welche durch seine Berufungseinlegung entstanden sind. Die Berufungskosten, welche durch die Staatsanwaltschaft entstanden sind, trägt die Staatskasse. Offensichtlich war Steinmaier vom drohenden sozialen Abstieg des Angeklagten stark beeindruckt.

Der Vorsitzende begründete das Urteil: Da er die Strafzumessung des Schöffengerichts – wie oben schon berichtet – für tat- und schuldangemessen hielt, kam es zur Reduzierung der Freiheitsstrafe wegen der reduzierten Tagessatzhöhe. Da der Angeklagte nicht mehr 3.800 € verdiene, wie zum Zeitpunkt der Erstinstanz, sondern nur noch 3.000 €, ist auch die Höhe der Gesamtfreiheitsstrafe zu reduzieren, so seine Logik.

Dann ging er dazu über, die Strafaussetzung zur Bewährung zu begründen. Er präsentierte den zwischen Verblüffen und Entsetzen hin und her gerissenen Zuhörern seine Sicht der Dinge: Die jetzige Situation stellt sich ganz anders dar, wie vor einem Jahr (?), es liegen besondere Umstände vor, die für eine Bewährung sprechen. Zum Einen verliert der Polizeibeamte durch dieses Urteil sein Amt, wird aus dem Polizeidienst entlassen, verliert damit seine Einnahmequelle. Darüber hinaus führt es zum Verlust seiner beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge. Er wird zwar vom Dienstherrn nachversichert und steht nicht mit Null da, aber er bekommt deutlich weniger Rente. Darüber hinaus lebt er in Trennung, auf ihn kommen zusätzlich Unterhaltskosten zu, zudem besteht die Gefahr, dass er in eine Privatinsolvenz schlittert. Über Einkommensverhältnisse lässt sich ja streiten. Besonders aus der Perspektive eines Vorsitzenden Richters in der Besoldungsgruppe R 2. Es gibt aber auch andere Perspektiven…

Zum Anderen, so Richter Steinmaier, wird der völlig überlastete Justizapparat entlastet, und er weiß, drei Jahre vor der Rente, nach 35 Dienstjahren, von was er spricht.

Richter Steinmaier verfolgte unverdrossen weiter seine Linie: „Welche Folgen hätte es, wenn jemand als Staatsdiener, der zwar eine Vielzahl von vermeidbaren – ich will sagen: dümmlichen – Straftaten begangen hat, nicht Bewährung bekommt, bloß weil er – auf Deutsch gesagt – beim Schlusswort nicht die Fresse halten konnte? Da trifft er bestimmt Leute, die er reingebracht hat …“ – (Hier rauschte es mir so in den Ohren, dass ich für ein paar Sekunden nichts mehr hörte.)

Das Schlusswort des Vorsitzenden: „Dann bedarf es nicht noch der Einwirkung des Strafvollzugs.

Paragraph 56 Absatz 1 Strafgesetzbuch sieht die Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Natürlich kann das Gericht auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen (Absatz 2). Richter Steinmaier hat es jedoch vollständig unterlassen, eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Obwohl, er hat die 35 einzelnen Fälle als eine Vielzahl vermeidbarer dümmlicher Taten bezeichnet. Nun ja, dann müsste es nach dieser Logik wohl auch intelligente und unvermeidbare Vorsatzstraftaten geben…

Die Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten durch das Gericht war so haarsträubend, dass man es kaum schildern kann. Der Angeklagte behauptete, er lebe von seiner Ehefrau getrennt. Dies sei eine Folge „dieser Sache“. Vor dem Schöffengericht sagte seine Ehefrau sehr positiv für ihn aus, gab ihm ein Alibi. Bei den erfragten Personalien gab er zur Wohnanschrift keine Änderungen an. Er wohnte mit seiner Ehefrau und den drei gemeinsamen Kindern in einem Einfamilienhaus. Bei getrennt Lebenden ist es höchst ungewöhnlich, dass sie im gemeinsamen Haus getrennt leben. Dazu fragte der Richter nicht nach, ließ es als „besonderen Umstand“ gelten.

Ebenso die drohende Privatinsolvenz, die der Angeklagte in einem Nebensatz so dahin gesagt hatte. Dazu gab es keine Nachfragen. Der Verlust des Einkommens nach der zu erwartenden Entlassung aus dem Polizeidienst war ebenfalls ein „besonderer Umstand“. Ja, wenn nicht nachgefragt wird, welchen Plan B der Angeklagte hat, ist das wohl in der Steinmaierschen Logik schlüssig. Der Angeklagte musste seit Monaten sicher damit rechnen, aus dem Polizeidienst entfernt zu werden. Wie will er seinen Lebensunterhalt verdienen? Hat er Arbeit in Aussicht? Will er sich selbstständig machen? – Wer keine Fragen stellt, erhält auch keine Antworten. Und das eine Freiheitsstrafe, welche nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, im Strafvollzug zu verbüßen ist, ist auf keinen Fall ein „besonderer Umstand“, der sich völlig neu darstellt und nach der Erstinstanz irgendwie vom Himmel gefallen war.

Was Staatsanwältin König getrieben hat, bei diesem üblen Spiel aktiv mit zu tun, bleibt vorerst unerklärlich. Ihre Pflicht wäre es gewesen, die Linie der Staatsanwaltschaft aus der ersten Instanz fortzusetzen und aktiv darauf hin zu wirken, in der Berufsverhandlung sowohl die Tatsachen als auch die Rechtsfragen zu überprüfen, falls sich darauf die Berufungen begründen.

Leider war der Verhandlung ja nicht zu entnehmen, warum konkret der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung einlegten. Normalerweise geht das ja aus dem Vortrag des Richters zum Beginn hervor – hier war aber Vieles nicht normal. Glücklicherweise gab es den schon genannten Beitrag im mdr-Fernsehen. Staatsanwältin Katrin König sagte dort: „Der Hauptgrund war, ich glaube, erstinstanzlich ist auch auf Bestechlichkeit im minderschweren Fall verurteilt wurden. Das ist noch so ein Angriffspunkt der Staatsanwaltschaft, wo wir gesagt haben, dass möchten wir gern überprüft haben.

Nach Verhandlungsende glaubte die Staatsanwälte also zu wissen, warum sie Berufung eingelegt hatte. Davon war während der Verhandlung leider nichts zu hören.  

Da auch die beiden Schöffen der sogenannten kleinen Strafkammer wort- und teilnahmslos neben dem Richter saßen, nur Staffage waren, wurde das Rechtsinstitut der Berufung zum billigen Ramschladen degradiert.

Einen besseren Verteidiger hätte er nicht haben können! Damit meine ich natürlich den Vorsitzenden Richter am Landgericht Steinmaier.

Zum Beitrag der Verteidigung des Angeklagten kann ich mich nur der Meinung eines Zuhörers anschließen: Dazu hätte es keines Jura-Studiums bedurft.

Das Thema Korruption ist während der gesamten Berufungsverhandlung vom Gericht kein einziges Mal angesprochen wurden! Deshalb sei an dieser Stelle zumindest etwas Grundlegendes zitiert:

Quelle: https://innen.thueringen.de/wir/innenrevision

Korruption ist kein Kavaliersdelikt, sondern strafbar. Sie beschädigt das Grundvertrauen der Allgemeinheit in die Unabhängigkeit, Unbestechlichkeit und Handlungsfähigkeit des Staates und seiner Beschäftigten. Ein solches Grundvertrauen ist bereits deshalb zwingend erforderlich, weil Handlungen öffentlich-rechtlicher Einrichtungen Folgen für unmittelbare Adressaten, aber auch für mittelbar Betroffene nach sich ziehen. Bedienstete im öffentlichen Dienst haben daher bereits im Rahmen ihrer Amtsführung jeden Anschein persönlicher Vorteilsnahme zu vermeiden.
Die Schwächung eines derartigen Grundvertrauens betrifft auch das allgemeine Verhältnis und die Einstellung der Bürger zum Staat. Geht das Grundvertrauen verloren, so wird Politik- und Staatsverdrossenheit gefördert. Jedes demokratische System benötigt jedoch die Unterstützung seiner Bürger, um die für jede Demokratie unabdingbar erforderliche Teilhabe
einwerben zu können.   

A.S.

15.11.2021, 09:00 Uhr, Landgericht Erfurt, 5. Strafkammer, Saal E.43