Am 12. November 2020 fand am Amtsgericht Erfurt bei Strafrichter Ralf Wildenauer ab 10:45 Uhr eine weitere Verhandlung wegen Sozialbetrugs statt.
Zwischen diesen beiden Verhandlungen lag eine kleine Pause, sowohl die Justizprotokollantin, als auch Richter Wildenauer verblieben im Verhandlungssaal. Staatsanwältin Kronas hatte staatsanwaltlichen Sitzungsdienst und ordnete die vor ihr liegenden Unterlagen. Es entspann sich ein kurzes Gespräch mit dem Richter, das dem Beobachter – nicht das erste Mal – in eine leichte Bedrängnis brachte. Die erste öffentliche Hauptverhandlung war beendet, die nächste noch nicht eröffnet. Wie sind die dazwischen geführten Gespräche zu bewerten? Als einzig anwesender „Zuschauer“ im Saal war man trotzdem da, auch wenn es einen so vorkam, als sei man Luft. Dass Gerichtsreporter aufmerksam zuhören können, sollte als bekannt vorausgesetzt werden. Die Lösung des Dilemmas – der Verzicht auf wörtliche Zitate. Aus dem Gespräch ging jedoch hervor, dass die Staatsanwältin mit dem vorherigen Urteil, so ihre Aussage, leben konnte. Das war überflüssig, hatte sie doch Rechtmittelverzicht erklärt. Es war aber nur ein Übergang, den sie wohl brauchte, um dem Richter mitzuteilen, dass es beim „Nächsten“ so nicht abgehen könnte.
Der „Nächste“ war der 29jährige Kevin K., er wurde, nachdem er sich an dem ihn zugewiesen Platz, auf die „Anklagebank“ setzte, vom Richter halb ironisch, halb ernst angesprochen: „Nachdem mit einen Wintereinbruch nicht zu rechnen ist, können Sie die Mütze abnehmen.“ Ja, manchmal kommen schon Fragen auf, wie sich Angeklagte vor Gericht so verhalten. Ist es eine Erziehungsfrage? Wurden elementare Regeln des Anstands nicht vermittelt? Oder waren diese Regeln bekannt und wurden provokant ignoriert? Der Angeklagte ließ sich nicht von einem Anwalt vertreten. Da hatte sich jemand ein paar graue Haare gespart.
Die Anklage besagte, dass Kevin K. als ALG-I-Empfänger für die Zeit vom 15. Oktober 2018 bis 30. November 2018 insgesamt 1.483.- € zu Unrecht erhalten hatte, strafbar als Sozialleistungsbetrug gemäß Paragraf 263 Strafgesetzbuch zum Nachteil der Bundesagentur für Arbeit.
Der Angeklagte äußerte sich mehrfach zur Sache. Zuerst: „Ich habe gesehen, dass eine Überzahlung vorlag, hab ich bei den Kontoauszügen gesehen. Ich hatte aber beim Arbeitsamt alle Unterlagen abgegeben.“ Gemeint waren wohl die Unterlagen, dass er wieder eine Beschäftigung gefunden hatte.
Staatsanwältin Kronas fragte nach: „Wann haben Sie die Unterlagen abgegeben?“ Der Angeklagte: „Ich habe alles abgegeben, vielleicht weiß dort die rechte Hand nicht, was die linke tut! Habe es am nächsten Tag abgegeben. Es ist ein bisschen lächerlich, ich muss darüber lachen.“
Der Richter fand das nicht: „Bei den Vorstrafen weiß ich nicht, ob das so lustig ist!“ Die Staatsanwältin ergänzte: „Und noch unter laufender Bewährung!“
Richter Wildenauer, der privat sicherlich viel Spaß versteht, hatte das richtige Rezept für diese dreiste Art des Angeklagten und sagte trocken: „Dann müssen wir in die Beweisaufnahme.“ Er rief eine Zeugin des Erfurter Job-Centers auf. Sie berichtete, dass am 30.11.2018 beim Datenabgleich aufgefallen sei, dass Kevin K. seit dem 15.10.2018 wieder beschäftigt war und er deshalb angeschrieben wurde, die entsprechenden Unterlagen einzureichen. Gleichzeitig strich man die ALG-Leistungen. Der Angeklagte habe dann am 15. Februar 2019 beim Job-Center vorgesprochen und eine Kündigung abgegeben. Daraufhin hat das Job-Center den Arbeitgeber angeschrieben und erst am 28.05.2019 den Auskunftsbogen zurückerhalten. Am 06.06.2019 wurde Kevin K. erneut angeschrieben und an seine Mitwirkungspflicht erinnert. Gegen den unkooperativen Arbeitgeber wurde ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet. Im November 2019 hat K. die Unterlagen für Oktober und November 2018 nachgereicht. Das Jon-Center hatte wirklich viel Geduld.
Der Richter nahm es sehr genau und fragte bei der Zeugin nach, ob eingereichte Unterlagen im Jobcenter wegkämen. Die Zeugin: „Es gibt keine Hinweise, dass er etwas abgegeben hat. Natürlich können auch bei uns Fehler vorkommen, aber diesbezügliche Beschwerden von Kunden sind extrem selten.“
Richter Wildenauer: „Früher war das Arbeitsamt ja dafür bekannt, dass es eine hohe Fehlerquote gab!“ – Sie erwiderte nur: „Das ist lange vorbei!“
„Hat sich der Angeklagte bei Ihnen beschwert, dass Sie Unterlagen von ihm forderten, die er angeblich schon längst abgegeben hatte?“ wollte der Richter abermals genau wissen. – „Nein.“
Nach etwas schwierigen Berechnungen, da der Angeklagte zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen 6jährigen Kind in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ergab sich der konkrete Schaden von 1.481,83 €. Davon, so die Zeugin, wurde noch nichts zurückgezahlt.
Der Angeklagte, nun bedeutend kleinlauter, sagte, dass er noch keinen Bescheid über die Rückzahlung erhalten hatte. Das, so die Zeugin, stimme so nicht. Jedoch hat die Inkasso-Abteilung der Arbeitsagentur das Beitreiben der Forderungen vorläufig niedergeschlagen, weil es eine geringe Wahrscheinlichkeit der Rückzahlung gab. Die Zeugin wurde unvereidigt entlassen.
Der Richter verlas den aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister: Der hatte insgesamt acht Eintragungen. Die ersten sechs Eintragungen zwischen 2010 und 2012 waren jeweils Leistungserschleichungen, er war innerhalb von drei Jahren sechs Mal beim Schwarzfahren erwischt worden. Im Jahr 2015 wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung zu 10 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, welche zu drei Jahren Bewährung ausgesetzt waren. 2016 erfolgte eine Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort.
Richter Wildenauer schloss die Beweisaufnahme und Frau Staatsanwältin Kronas plädiert: Die Beweisaufnahme hätte den Vorwurf des Betruges bestätigt, der Angeklagte habe zwar die Tat pauschal bestritten, hatte aber keine konkreten Entlastungspunkte vorgebracht. Die Mitarbeiterin des Erfurter Job-Centers hatte den Sachverhalt glaubwürdig und belegbar geschildert. So hat er sich des Betruges schuldig gemacht, wofür das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsehe. Da der Angeklagte bereits erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten war und unter laufender Bewährung steht, ist eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung nötig. Strafverschärfend kommt beim Angeklagten hinzu, dass es sich beim Sozialleistungsbetrug um einen Betrug zum Nachteil der Allgemeinheit handelt. Sie fordert deswegen eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 15 €.
Der Strafrichter gab den Angeklagten das letzte Wort, er reagierte so, wie er sich in der ganzen Verhandlung gab – ungehörig – denn er erwiderte: „Ich – Nee!“
Richter Wildenauer verurteilte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, welche für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde. Darüber hinaus erging der Bewährungsbeschluss, das er 500 € in monatlichen Raten an einen gemeinnützigen Verein zu zahlen hat.
Richter Wildenauer zum Angeklagten: „Zur Frage der Freiheitsstrafe auf Bewährung – die 120 Tagessätze, da wären mit den Kosten auch 2.000 € zu zahlen gewesen. Das würde sie extrem belasten, auch wenn Sie es abarbeiten würden. Mit der Bewährung und den Auflagen haben wir ein abgestuftes System. Ihnen wird ein Bewährungshelfer an die Seite gestellt und ich finde, dass ist für Sie die richtige Reaktion.“
Der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft erklärten Rechtsmittelverzicht. Somit ist das Urteil rechtskräftig.
(12.11.2020 – 10:45 Uhr, Amtsgericht Erfurt, Schöffengericht, Saal 9)
A.S.