100 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Gerichtsalltag, Teil II

Das Jenaer Volksblatt berichtete am 5. Februar 1919 aus dem Gerichtssaal des Landgerichts Weimar wie an den anderen Tagen auch – Gerichtsalltag. Mochten Draußen die historischen Ereignisse unter teilweise dramatischen Begleiterscheinungen ablaufen – das Gericht blieb davon unbeeindruckt. Am Vortag der konstituierenden Sitzung der verfassunggebenden Deutsche Nationalversammlung schloss der Chef des Weimarer Stadtpolizeiamtes, Polizeihauptmann Otto Bährecke (1880-1953), seine Vorbereitungen ab.

Er wurde von einem Kommando der Berliner Polizei unterstützt: 1 Polizeioffizier, 24 Kriminalbeamte und 50 Schutzleute. Die Stadt Weimar war während der Zeit der Nationalversammlung auch provisorischer Regierungssitz und wurde von 3.000 Mann des Landesschützenjäger-Korps abgeriegelt.

Theaterplatz Weimar vor der Eröffnung der Nationalversammlung am 6.2.1919
Bildrechte beim Stadtmuseum Weimar

Im Gerichtssaal spürte man von all dem nichts:

Aus den Verhandlungen des Landgerichts Weimar

am Mittwoch, den 5. Februar 1919

  1. Wegen unsittlicher Handlungen in drei Fällen während der Jahre 1911/12 hatte sich der 54jährige Tischler Theodor Sch. aus Jena zu verantworten. 14 Zeugen waren aufgerufen worden, darunter eine Anzahl Kinder. Die Sache konnte trotzdem nicht geklärt werden, daher erkannte das Gericht auf Freisprechung im Zweifelsfall.
  2. Im Laufe des vergangenen Jahres brach die Frau Ella St. aus Jena in die Kammer einer Aufwärterin ein und entwendete eine weiße Untertaille und 4 M. Die Bestohlene sah damals von der Erstattung einer Anzeige ab, da sie ihr Eigentum wieder erhalten hatte. Die Angeklagte brach aber bald darauf wieder in ihr Gemach ein und stahl 2 Frauenhemden, 1 Staubkamm und 1 Frauenhose. Dafür wurde sie nun zu einer Gefängnisstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt.
  3. Durch Betrug wußte sich die aus Jena stammende Gertrud P. in den Besitz von 6 M zu setzen. Sie schickte einen Schuljungen mit einer auf den Namen einer Arbeiterin lautenden Badekarte zur Firma Zeiß und ließ dort 6 M Restlohn abheben. Die Angeklagte versuchte zu leugnen, wurde aber von den Jungen, der für seinen Weg 50 Pfg. erhalten hatte, wieder erkannt. Sie erhielt 4 Wochen Gefängnis.
  4. Durch falsche Angaben erschwindelte sich am 14. August 1918 der Tischler Karl H. vom Bahnhofsassistenten in Porstendorf einen Fahrschein, indem er angab, Lebrecht Paul zu heißen und seine Brieftasche mit 75 M und Fahrschein verloren zu haben. Der Angeklagte, der bereits aus dem Heere ausgestoßen wurde, muß seine Schwindeleien unter Einbeziehung einer noch zu verbüßenden achtmonatigen Gefängnisstrafe mit 10 Monaten Gefängnis büßen.

(aus: Jenaer Volksblatt, Sonnabend, den 8. Februar 1919, Beilage, S.5)

Die den Gerichtsberichten zugrunde liegenden Sachverhalte sind, ebenso wie die Urteile, für diese Zeit normal.

Die Leiden des Ersten Weltkrieges, die revolutionären Erschütterungen, verstärkter Hunger und andere Entbehrungen; diese Art der Berichterstattung schien nicht geeignet zu sein, den Zeitgeist wiederzugeben. Weder die Enttäuschung über die militärische Niederlage, noch die demokratischen und sozialistischen Bestrebungen lassen sich erahnen. Auch der Zerfall des monarchischen Obrigkeitsstaates wenige Wochen zuvor spiegelt sich nicht in der sachlich-nüchternen Meldung wieder.

Interessant ist es jedoch, wenn am gleichen Erscheinungstag in einer anderen Zeitung über die gleichen Verhandlungen eine Gerichtsreportage erschien. Die Weimarische Zeitung, im Untertitel seit 1919 als Thüringer Tageszeitung für deutsche Art und Arbeit in Stadt und Land bezeichnet, berichtete auf der Seite „Zweites Blatt“ auch über die Verhandlungen des Landgerichts Weimar am 5. Februar 1919. Bemerkenswert ist, dass nicht nur in Details die Gerichtsberichterstattungen voneinander abweichen:

Landgericht Weimar

Weimar, 5. Februar

Vor der 2. Strafkammer standen heute sechs Fälle zur Verhandlung. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Weiser, die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Volk.

Wegen Sittlichkeitsverbrechen, angeblich begangen in drei verschiedenen Fällen in den Jahren 1911-1912 in Jena an noch nicht 14jährigen Schulmädchen, ist der bisher unbestrafte dortige Tischlermeister Theodor Sch. angeklagt. Er ist 54 Jahre alt und lebt in kinderloser Ehe. Als die Mädchen in seinem Hausgarten Beeren pflückten und sich schaukeln wollten, soll er sich an ihnen vergangen haben. Da aber die heute vernommenen Zeuginnen behaupten, von der Polizei damals zu falschen Aussagen gezwungen worden zu sein, erfolgte auf Antrag des Staatsanwalts mangels Beweise Freisprechung. Die Verteidigung des Angeklagten hatte Justizrat Lotze (Jena), dessen unberechtigte Verhaftung soviel Aufsehen erregt hatte, übernommen.

Die Diebstahlssache gegen O. wird wegen Erkrankung der Angeklagten vertagt.

Schwerer Diebstahl im wiederholten Rückfall begangen hat die frühere Aufwärterin Ella St. aus Jena, die anfangs Juni v. J.  und einige Wochen später mittels falscher Schlüssel in die Kammer des Hausmädchens eindrang und eine weiße Untertaille, 4 M Geld, zwei Frauenhemden, einen Staubkamm und eine Frauenhose entwendete. Sie wurde zu 1 Jahr und 3 Monaten Gefängnis verurteilt.

Gleichfalls wegen schweren Diebstahls angeklagt ist der 18jährige Richard Gr., zurzeit Fürsorgezögling in Zeitz, der am 1. Juli v. J. gemeinsam mit einem inzwischen abgeurteilten Kameraden  in Kleinrudestedt, wo sie Lebensmittel einkaufen sollten, in die Häuser gingen, einen Landwirt 20 Pfund Bienenzucker und einer Witwe nach Aufstoßung des verrammelten Tores eine Damenuhr mit silberner Kette, eine Geldbörse, einen Fünfmarkschein, Schinken und Würste entwendet haben. Mit Rücksicht auf die offenbare Verführung durch den älteren Mittäter und den Amnestieerlaß wird das Verfahren eingestellt.

Wegen Betrugs angeklagt ist die Arbeiterin Getrud Pr. aus Jena, die einen 13jährigen Volksschüler, den sie auf der Straße traf, mit der Badekarte einer Arbeitskollegin zu Zeiß schickte, um sich deren Restlohn von 6 M auszahlen zu lassen. Sie wird zu 4 Wochen Gefängnis verurteilt.

Rückfallbetrug und Urkundenfälschung wird dem 38jährigen Tischler Karl H. zur Last gelegt. Wegen verschiedener Diebstähle und Schwindeleien aus dem Heeresdienst ausgestoßen, hat er das Tragen der Uniform dazu benutzt, um am 14. Aug. v. J. auf dem Bahnhof in Dorndorf von dem Unterassistenten einen Fahrschein nach Rostock sich ausstellen zu lassen und unter der Vorspiegelung, daß er seine Brieftasche mit 75 M und den Militärpapieren im Zuge verloren habe, und den Schein mit dem Namen des Musketiers zu unterzeichnen. Von ärztlicher Seite wird er als moralisch schwachsinniger Psychopath, aber als strafrechtlich verantwortlich hingestellt. Das Gericht erkennt unter Einbeziehung einer in Plauen erkannten Strafe auf 10 Monate Gefängnis.

(aus Weimarische Zeitung vom 8. Februar 1919, Zweites Blatt)

Im ersten verhandelten Fall, dem vermeintlichen Sittlichkeitsverbrechen, enden beide Berichte mit dem Ergebnis: „Freisprechung“ mangels Beweisen. Der Gerichtsreporter des Jenaer Volksblattes schreibt vom Aufruf von 14 Zeugen, trotz dessen die Sache nicht geklärt werden konnte. Die Weimarische Zeitung berichtet hingegen inhaltlich von der Vernehmung der Zeuginnen: Sie sagten aus, damals von der Polizei zu einer falschen Aussage gezwungen worden zu sein. Leider gehen beide Berichte nicht auf den Gründe des langen Zeitraums zwischen Tat (1911-1912) und der Verhandlung ein. Sieben Jahre ist eine lange Verfahrensdauer, der Weltkrieg kann wohl eine Ursache sein. Die Tat ereignete sich aber doch zwei Jahre vor dessen Beginn. Nur die Weimarische Zeitung deutet Einiges an: Der Angeklagte sei damals unberechtigt verhaftet wurden. Das erregte viel Aufsehen. Jedoch ist dieser Teil sprachlich recht verwirrend und geschachtelt geschrieben. Der Leser konnte folgern, dass es der Jenaer Rechtsanwalt und Notar, Justizrat Dr. Gustav Lotze, gewesen war, welcher unberechtigt verhaftet wurde. Unzweifelhaft war er aber der Verteidiger.

Auch der Fall der Aufwärterin Ella St. weicht in der jeweils sehr kurzen Beschreibung erheblich ab: Im Jenaer Volksblatt ist es ein Einbruch, in der Weimarischen Zeitung wurde ein fremder Schlüssel verwendet.

In der Betrugssache gegen die Arbeiterin Getrud Pr. ist das Jenaer Volksblatt mit einem Halbsatz ausführlicher: Hier wird das anfängliche Leugnen der Angeklagten und das Widererkennen durch den Zeugen erwähnt.

Der letzte von beiden Zeitungen beschriebene Fall, die Betrugssache des Tischlers Karl H., ist im Jenaer Volksblatt in zwei Sätzen klar und inhaltlich eindeutig beschrieben. Die Weimarische Zeitung schildert den Sachverhalt wiederrum reichlich verworren. Und wo war nun der Tatort: in Dorndorf  oder Porstendorf?

Gewiss ist jedoch: Die journalistische Sorgfalt ist ein altes Thema, beim vergleichenden Lesen fällt dies besonders auf.

Bildrechte: www.gerichtsalltag.de

Die Weimarische Zeitung wurde im Lesesaal des Hauptstaatsarchivs Weimar eingesehen, herzlichen Dank an Herrn Dr. Frank Boblenz und Frau Eveline Bittdorf.

A.S.