Ein schaler Nachgeschmack bleibt

Berufungsverhandlungen wecken besonderes Interesse: Richter müssen über Richterentscheidungen befinden. Die 4. Strafkammer des Landgerichts Erfurt unter Vorsitz von Richterin Martina Hornstein-Engers verhandelte wegen Straßenverkehrsgefährdung, Fahren ohne Fahrerlaubnis und unerlaubten Entfernen vom Unfallort. Der 33jährige Angeklagte Kaspars S., ein lettischer Staatsbürger, soll erheblich alkoholisiert einen Verkehrsunfall verursacht haben. Das Amtsgericht Weimar hatte ihn im Oktober 2018 freigesprochen. Dagegen legte die Staatsanwaltschaft Erfurt das Rechtsmittel der Berufung ein. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Uwe Strewe. Neben den in Weimar wohnhaften Angeklagten hatte sein Rechtsanwalt, Steffen Böttcher (Jena), sowie eine Dolmetscherin Platz genommen.

Die Vorsitzende Richterin begann die Verhandlung mit dem Verlesen der Anklage. Konkret wurde ihm vorgeworfen, im August 2018 am Ortseingang von Weimar in der Erfurter Straße mit seinem PKW in die Leitplanke gefahren und ca. 50 Meter an dieser entlang geschrammt zu sein. Dabei sei ein Sachschaden von 2.000 € entstanden. Zur Tatzeit soll er über 2 ‰ Alkoholkonzentration im Blut gehabt haben. Ohne im Besitz eines Führerscheins zu sein, soll er sich unerlaubt vom Unfallort entfernt haben.

Unmittelbar nach dem Verlesen der Anklage sprach die Vorsitzende den Verteidiger an: „Wollen Sie klare Worte von mir hören?“ Es war mehr eine Ankündigung als eine Frage. Weiter sagte sie zum verblüfft wirkenden Verteidiger, dass sie die Akte und das Begründungsschreiben der Staatsanwaltschaft zur Berufung gelesen habe. Die Sachlage sei doch eindeutig und es wäre einfach: Legt der Angeklagte ein Geständnis ab, rede man über eine zur Bewährung auszusetzende Freiheitsstrafe. Wenn nicht, wird wegen einer ungünstigen Sozialprognose nichts aus einer Bewährung. Ihre Begründung dafür:  Der Angeklagte ist wegen Trunkenheitsdelikten bereits mehrfach angefallen. Eine dieser Akten liege vor ihr auf den Richtertisch, da sei der Angeklagte auch mit über 2 Promille von der Polizei erwischt worden.

Ganz offensichtlich war der Angeklagte ein weiteres Mal mit einer Trunkenheitsfahrt aktenkundig. Warum dieser Fall auf so merkwürdige Art in die Berufungsverhandlung eingebracht wurde, blieb im Dunkeln.

Im übrigen, so die Richterin weiter, habe der Angeklagte im zu verhandelnden Fall gegenüber einem Polizeibeamten gesagt, ihm wäre es egal, in Deutschland ohne Führerschein zu fahren, das würde er wieder machen, er sei ein guter Fahrer. Außerdem, so die Richterin: Nach der Tat wurde er durch das Tragen eines roten T-Shirts eindeutig identifiziert, dass bewiesen auch Lichtbilder. Der Verteidiger solle sich nun mit seinen Mandanten beraten. Dies tat er nicht.

Daraufhin entwickelte sich ein Disput zwischen den Beiden. Der Verteidiger war nicht nur äußerlich erregt, der Staatsanwalt hielt sich zurück. Rechtsanwalt Böttcher sprach einige Mal dazwischen, fühlte sich erpresst und widersprach den – aus seiner Sicht angeblichen – Fakten. Die vermeintliche Aussage seines Mandanten, dass es ihm nichts ausmache, in Deutschland ohne Führerschein zu fahren und er es wieder tun zu wolle, stammte aus dem Protokoll eines Polizeibeamten. Dieser hat sich mit dem Kaspars S. in der Nacht „unterhalten“, obwohl er Deutsch sehr schlecht beherrsche. Auch fürchte er, dass in diesem Fall wohl der Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht gelte. Er habe seinen Mandanten schon im erstinstanzlichen Verfahren empfohlen, keine Aussagen zu machen, und dass empfiehlt er auch weiter. Und das aus gutem Grund. Die Vorsitzende Richterin, welche ihre beiden Schöffin während der ganzen Verhandlung kein einziges Mal einbezog, wurde deutlicher: „Wenn man mit über 2 Promille fährt, dann kann man darauf warten, dass Jemand tot gefahren wird!“ Davon ließ sich der Verteidiger nicht beeindrucken. Auch beweise das von seinem Mandanten getragene rote T-Shirt nichts. Ein Anderer hatte etwas Ähnliches getragen. Darauf die Richterin mit Verweis auf die Fotos in der Akte: „Das war aber ein rosa Plüsch-Pulli!“ Der Verteidiger meinte, nachts könne man das nicht so genau sehen. Er sprach von „schlampiger Ermittlungsarbeit der Polizei.“ Das hat, so der Verteidiger weiter, auch das erstinstanzliche Urteil gezeigt – den Freispruch.

Er fand das Urteil überraschend gut geschrieben. Die Richterin wohl nicht: „Als ich das Urteil gelesen habe, habe ich die Akte erst mal wieder zurück zum Ermittlungsrichter nach Weimar geschickt, um noch eine Vernehmung machen zu lassen.“ Sie wiederholte, dass der Angeklagte kein unbeschriebenes Blatt bezüglich Fahren unter Alkoholeinfluss sei.

Da der Verteidiger die angesprochene weitere aktuelle Akte, von welcher die Vorsitzende sprach, nicht kannte,  ebenso wenig wie der Staatsanwalt, wurde die Verhandlung für 30 Minuten unterbrochen. Die Richterin: „Da gebe ich Ihnen die Gelegenheit, sie zu lesen. Ich verstehe sowieso nicht, warum dieses Verfahren bei einer Trunkenheitsfahrt mit über 2 Promille und eindeutiger Beweislage eingestellt wurde.

Die Fortsetzung begann einigermaßen überraschend. Staatsanwalt Strewe erklärt: „Wir sind uns einig geworden.“ Damit meinte er wohl, dass er sich mit dem Verteidiger in der Pause nicht nur abwechseln die andere, bisher unbekannte Akte, angesehen hatte. Ganz klar war auch, dass sie sich über das weitere Vorgehen einigten, denn er sagte weiter: „Ich beantrage, im Hinblick auf das andere Verfahren (er nannte das betreffende Aktenzeichen), das jetzige Verfahren einzustellen. Das andere Verfahren (wieder nannte er das Aktenzeichen) wird wieder aufgenommen. Ich werde da einen Strafbefehl mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung beantragen.“ Der Verteidiger erklärte, dass er den Angeklagten in diesem anderen Verfahren auch vertreten werde und mit der Verfahrensweise zu dem gerade verhandelten Fall (natürlich!) einverstanden sei.

Frau Hornstein-Engers schien sehr zufrieden und erklärte die gefundene Einigung („vernünftige Lösung“) zum Beschluss: Das Verfahren wird nach § 154 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Die Kosten dieses Verfahrens trägt die Staatskasse. Nach brutto 1 ½ Stunden war die Verhandlung zu Ende.

Diese sehr atypische Berufungsverhandlung hatte schon etwas von einem orientalischen Basar. Gerade deswegen bleibt ein schaler Nachgeschmack. Es hat schon etwas Beklemmendes, wenn die Vorsitzende zum Verhandlungsbeginn von einer ungünstigen Sozialprognose des Angeklagten spricht. Damit meint sie ja nicht Irgendetwas, sondern die reale Wiederholungsgefahr einer Trunkenheitsfahrt. Von der ultimativen Androhung, eine Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung zu verhängen, war wortwörtlich Nichts übrig geblieben.

Der Beobachter bleibt nach dieser Verhandlung etwas ratlos zurück. Was war geschehen? Wollte das Gericht, d.h. in diesem Fall die Richterin, schnell zu einem Ende kommen? Was führt zu diesem Sinneswandel? Der Gedanke, welche Folgen der Angeklagte bei einer Weiderholung verursachen könnte, war es eher nicht.

Um das Verhandlungsgeschehen zusammenzufassen: Die erste halbe Stunde: Geplänkel zwischen Richterin und Verteidiger über die mögliche Art und Höhe einer Strafe und das verwunderliche „Einbringen“ eines zweiten Falles, den nur die Richterin kannte. Eine halbstündige Pause mit Aktenstudium und „Einigungsgespräch“. Anschließend Verkünden der Einigung zwischen Staatsanwalt und Verteidiger und richterlicher Beschluss. Sehr bemerkenswert!

Da half es auch nicht mehr, dass die Vorsitzende abschließend ermahnende Worte an den Angeklagten richtete: „Ich gebe Ihnen auf den Weg: Kommen Sie hier nie an, wenn jemand geschädigt wurde, es war schon knapp!“ Damit meinte sie wohl die reale Gefahr, dass im verhandelten Fall Personen akut gefährdet waren, an der Gesundheit geschädigt zu werden. Kam hier ein schlechtes Gewissen zu Tage?

Alkohol im Straßenverkehr ist in Deutschland eine der Hauptunfallursache. In Zahlen: 2017 kamen von allen Verkehrstoten in Deutschland (1.077) 150 Menschen durch Alkohol im Straßenverkehr ums Leben! Alle 15 Minuten ereignet sich ein Alkoholunfall!

Genau das steht wirklich zu befürchten. Die Wirkung, welche diese Verhandlung auf den Angeklagten haben musste, ist wohl verheerend. Es bestätigte sicherlich seine im Polizeiprotokoll erfasste Meinung, die – zugespitzt – lautet: In Deutschland kann ich tun und lassen, was ich will.

Diese Gerichtsverhandlung war nicht geeignet, die Angeklagten zur Rechtstreue anzuhalten und sein zukünftiges Verhalten positiv zu beeinflussen.

Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner richtungsweisenden Entscheidung  zum Strafzweck 1977 wohl nicht gemeint, sondern: Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet (BVerfGE 45, 187 ff., Randziffer 210).

(12.02.2019 – 09:00 Uhr, 4. Strafkammer am Landgericht Erfurt, Saal F 48)

A.S.